»Wir gehören uns ja« (eBook)
485 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-74701-7 (ISBN)
Als Paula Becker 1899 den wesentlich älteren Otto Modersohn kennenlernt, ist sie eine junge, ehrgeizige Künstlerin, die um jeden Preis malen will, er dagegen ist längst anerkannt, einer der Gründer der Künstlerkolonie in Worpswede und außerdem verheiratet. Trotz dieser Widrigkeiten ist die gegenseitige Anziehung unübersehbar, und ein Jahr später werden die beiden ein Paar. Schon die ersten Briefe, die sie während Paula Beckers Reisen nach Berlin und Paris wechseln, zeugen von der großen Zuneigung der beiden, aber auch von ihrer tiefen Verbundenheit im künstlerischen Schaffen. In den späteren Jahren dient der schriftliche Austausch immer wieder dazu, sich über Malerei und das Formulieren der künstlerischen Ziele auseinanderzusetzen. Und nicht zuletzt gibt es Anekdoten aus dem Worpsweder Freundeskreis zu erzählen, und Paula Becker berichtet amüsiert vom Ehevorbereitungskurs in Berlin.
Der überraschende Fund eines Großteils der Briefe Otto Modersohns an Paula Modersohn-Becker, die lange Jahre als verschollen galten, macht es hier erstmals möglich, diesen lebendigen Austausch ausführlich zu beleuchten.
Gisela Götte
»In der Grundanschauung verwandt – in den Äußerungen verschieden«
Mit dieser Edition des Briefwechsels zwischen Paula Modersohn-Becker (1876-1907) und Otto Modersohn (1865-1943) werden erstmals bisher unveröffentlichte Briefe, Karten und Tagebucheinträge Otto Modersohns mit den 2007 in einer erweiterten Ausgabe erschienenen Briefen und Tagebüchern Paula Modersohn-Beckers in eine dialogische Form gebracht. Zum besseren Verständnis der jeweiligen Zusammenhänge sind diese Zwiegespräche und Selbstzeugnisse mit einigen Texten an andere Briefpartner verknüpft. Die hier vorliegende Publikation füllt mit ihren erstveröffentlichten Texten eine Lücke in der Primärliteratur und soll für die stetig zunehmende Sekundärliteratur zu beiden Künstlern ein weiterführender, substantieller Beitrag sein.
Die vorliegende Ausgabe umfasst den Zeitraum von 1895, dem Jahr der ersten Begegnung Paula Beckers mit der Malerei Otto Modersohns in einer Ausstellung der Kunsthalle Bremen, bis zum Jahr 1908, in dem die Erschütterung der Familie und Freunde nach dem Tod Paula Modersohn-Beckers im November 1907 schriftlichen Ausdruck findet.
Der Briefwechsel belegt die Tage, Wochen und Monate, in denen die Ehepartner räumlich voneinander getrennt waren. Die vier Aufenthalte Paula Modersohn-Beckers in der damaligen Kunstmetropole Paris von insgesamt fast 16 Monaten der Jahre 1900, 1903, 1905 und 1906 nehmen den breitesten Raum der Korrespondenz ein. Die Zeit zwischen Anfang Oktober 1906 bis zur gemeinsamen Rückkehr nach Worpswede Ende März 1907 verbrachte Otto Modersohn in Paris. Lediglich ein knapper Rückblick in seinem »Reisetagebuch« und drei Briefe Modersohns an seine Schwägerin Herma Becker geben über diesen korrespondenzfreien Pariser Winter eine spärliche Auskunft. Gerade in den Monaten der selbst gewählten Abwesenheit Paula Modersohn-Beckers von Worpswede enthalten die Briefe der Künstlerin und die Antwortbriefe Otto Modersohns reichhaltiges Material an maltechnischen, kunsttheoretischen und malereigeschichtlichen Überlegungen, die durch die intensive Auseinandersetzung Paula Modersohn-Beckers mit der Pariser Kunstszene und Museumslandschaft ausgelöst worden sind. Zeitgeschichtliches mischt sich mit der jeweiligen Tagesaktualität, persönliche Erlebnisse und Stimmungsbilder wechseln mit der nüchternen Bestandsaufnahme äußerer Ereignisse.
Die Brieftexte sind weit mehr als nur die Korrespondenz zwischen zwei bildenden Künstlern, die die deutsche Malerei des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts jeder auf seine Weise entscheidend mitgestaltet und geprägt haben. Sie spiegeln vielmehr die facettenreiche Gemeinschaft zweier sehr unterschiedlicher Künstlerpersönlichkeiten wider, die das jeweils eigene Profil auch während ihrer Ehe zu bewahren wussten.
Bereits am 8. Dezember 1900, in der Verlobungszeit mit Paula Becker, notierte Otto Modersohn in sein Tagebuch: »Man muß sich in der Liebe als verschieden empfinden, nicht ineinander aufgehen wollen, nur innig, liebreich berühren. Auf dem Wege bin ich bei meiner Paula. Ihre Art ist von meiner durchaus verschieden. Das (ist) das Beste. Ihr Temperament leichter, freier, heiterer – und das liebe und verehre ich sosehr. Ihr Urtheil in der Kunst selbständig, eigenartig – schätze ich sosehr. Sie bildet ein glückliches Gegengewicht zu mir, und ich zu ihr. So muß es sein. In der Grundanschauung verwandt – kunstdurchglühtes Leben – in den Äußerungen verschieden. Sonst langweilig.« Diese Passage, aus der das Motto vorliegender Publikation stammt, hat bei wechselseitiger, konstruktiver Kritik und mannigfachen Schwankungen im Urteil der Kunst des Anderen ihre Gültigkeit behalten. Bindend waren die gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung im Künstlerischen und Menschlichen trotz zeitweiser Entfremdung zwischen den Partnern.
Der vorliegende Textkorpus zeichnet den gemeinsamen Lebensweg von Paula Modersohn-Becker, der Wegbereiterin der Moderne, mit dem um eine halbe Generation älteren Otto Modersohn nach, dem Mitbegründer der Worpsweder Künstlerkolonie und Hauptvertreter des Worpsweder Naturlyrismus. Zugleich gibt die Publikation neue Auskünfte über das Leben in der Künstlervereinigung in Worpswede der Jahre 1900 bis 1907. Angesprochen werden die Querelen und das wiederum Verbindende zwischen den Gründern der Künstlerkolonie, aus der sich um 1900 auf Heinrich Vogelers Barkenhoff ein Freundeskreis bildete, die sogenannte »Familie«. Paula Becker schilderte diese Gemeinschaft in einem Brief an Marie Hill vom 30. Dezember 1900: »Draußen leben wir eine stille Gemeinde: Vogeler und seine kleine Braut, Otto Modersohn und ich, und Clara Westhoff. Wir nennen uns: die Familie. Wir sind immer sonntags beieinander und freuen uns aneinander, und teilen viel miteinander. So mein ganzes Leben zu leben ist wunderbar.« Zu diesem Freundschaftskreis gehörten auch Paula Beckers Schwester Milly, Rainer Maria Rilke, Carl Hauptmann und Marie Bock. Einblicke in die schon bald ambivalente Beziehung der Modersohns zu dem Ehepaar Rilke, deren wirtschaftlich prekäre Situation zur Selbststilisierung und Abschottung geführt hatte, fügen dem Bild des Worpsweder Künstlerkreises neue Facetten hinzu.
Paula Becker, die nach ihrer zweijährigen professionellen Ausbildung im Berliner Verein der Künstlerinnen 1898 als Anfängerin zur Korrektur bei Fritz Mackensen nach Worpswede kam, heiratete 1901 den damals weithin bekannten Maler Otto Modersohn, der in seiner Kunst seinen Weg bereits gefunden hatte. Mit den gänzlich verschiedenen Voraussetzungen der Biographie und Entwicklung glich diese Verbindung keineswegs dem Lebensmodus der berühmten Künstlerpaare Wassily Kandinsky und Gabriele Münter oder Robert und Sonia Delaunay, die gemeinsam und sich gegenseitig stützend in einem Kreis gleichgesinnter Künstler nach einer neuen Bildsprache suchten.
Es ist deshalb bemerkenswert, dass Paula Modersohn-Becker die Worpsweder Stimmungsmalerei weit hinter sich zurückließ und in einem kurzen Jahrzehnt ein Lebenswerk von europäischem Rang schuf. Ihr Durchsetzungsvermögen und Selbstbewusstsein sprechen aus nahezu allen schriftlichen Selbstzeugnissen der Malerin. Ihre berühmt gewordenen Sätze, die sie am 17. Februar 1906 kurz vor ihrer Abreise nach Paris an den zurückgewonnenen Freund Rainer Maria Rilke schrieb, machten sie zu einer Identifikationsfigur für bildende Künstlerinnen bis heute: »Und nun weiß ich garnicht wie ich mich unterschreiben soll. Ich bin nicht Modersohn und ich bin auch nicht mehr Paula Becker. Ich bin Ich, und hoffe es immer mehr zu werden. Das ist wohl das Endziel von allem unsern Ringen.«
Paula Becker orientierte sich zunächst in Berlin sowie auf Reisen nach München, Leipzig und Dresden an der Kunst in den Museen und den Ausstellungen der Galerien. Mit ihrem Aufbruch nach Paris in der Silvesternacht 1899/1900 erfüllte sie sich ihren sehnlichen Wunsch, nun auch die Kunst der dortigen Museumssammlungen sowie insbesondere die französische Malerei der Moderne kennenzulernen. Überdies nahm sie Unterricht an privaten Akademien, um ihre Ausbildung voranzutreiben. Die an den Bruder Kurt gerichteten Worte vom April 1900 lesen sich wie das Bekenntnis ihrer eigenen Pariser Befindlichkeit: »Siehst Du, das habe ich für Dich gewünscht, daß Du mit Deiner Zeit lebst (…). Dein Nervensystem ist eins unserer Generation.« Offen gegenüber neuen künstlerischen Strömungen, entdeckte sie 1900 in der Galerie Vollard die Bilder des zu dieser Zeit einem breiten Publikum noch weitgehend unbekannten Malers Paul Cézanne und fand in ihm einen ihrem Streben wahlverwandten Künstler. Die späteren Begegnungen mit der Malerei von Maurice Denis, Paul Gauguin, Vincent van Gogh, des Zöllners Henri Rousseau und vermutlich auch Pablo Picassos waren für die nach neuen Bildkonzepten suchende Malerin von wegweisender Bedeutung. Während ihrer Parisaufenthalte setzte sich Paula Modersohn-Becker mit der Kunst der Impressionisten, Pointillisten und Nabis auseinander und sah im März 1905 bei den Indépendants erstmals Werke von Henri Matisse und André Derain. Sie äußerte sich über Gustave Courbet, Edgar Degas, Odilon Redon und Charles Cottet, zeichnete im Louvre nach Gemälden u. a. von Ingres, Cranach und Rembrandt, fertigte Skizzen nach ägyptischen Skulpturen und schulte ihr Formempfinden an den Mumienporträts aus Fayum. Von den Deutschen interessierten sie Anselm Feuerbach, Hans von Marées und vor allem Arnold Böcklin, dessen Tagebuchaufzeichnungen sie gemeinsam mit Modersohn noch während ihrer Verlobungszeit gelesen hatte. Im Januar 1906 besuchte sie zusammen mit Otto Modersohn in Berlin die große Jahrhundertausstellung deutscher Kunst noch vor deren Eröffnung.
Zu ihren Lebzeiten fand die Kunst Paula Modersohn-Beckers kaum öffentliche Anerkennung. Erst 1913, sechs Jahre nach ihrem Tod, setzte mit einer Ausstellung ihrer Werke in dem von Karl Ernst Osthaus gegründeten Folkwang Museum in Hagen ihr Nachruhm ein. Dieser gipfelte 2016, 140 Jahre nach ihrer Geburt, in einer umfassenden Retrospektive in Paris, der ersten in Frankreich.
Otto Modersohn hingegen war schon zu Lebzeiten ein hoch anerkannter, an der Düsseldorfer Kunstakademie ausgebildeter Landschaftsmaler. Als Mitbegründer der Künstlerkolonie feierte er zusammen mit den Worpswedern in der Kunsthalle Bremen und kurz darauf im Münchener Glaspalast 1895 seine ersten künstlerischen Erfolge. Modersohns Malerei stand in der Tradition der französischen Schule von Barbizon, deren Vertreter die Freilichtmalerei propagierten und realistische Stimmungslandschaften schufen, in Abkehr von der klassisch-idealistischen Landschaftskomposition, wie sie auf den Akademien gelehrt wurde....
| Erscheint lt. Verlag | 25.10.2017 |
|---|---|
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Briefe / Tagebücher |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | 20. Jahrhundert • Briefwechsel • Deutschland • Künstlerkolonie • Malerei • Mitteleuropa • Paris • Weihnachtsgeschenke • Worpswede |
| ISBN-10 | 3-458-74701-X / 345874701X |
| ISBN-13 | 978-3-458-74701-7 / 9783458747017 |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
| Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich