Die Füchsin und der Wolf
I.
Großväterchen lebte mit seiner Frau. Großväterchen sagte zu ihr: »Weib, backe Kuchen, ich fahre inzwischen auf den Fischfang.« Er fing Fische, eine ganze Wagenladung, und führte sie nach Hause. Wie er so dahinfuhr, sah er die Füchsin zusammengerollt am Weg liegen. Großväterchen stieg ab und ging auf die Füchsin zu, die rührte sich nicht, sondern lag da wie tot. »Ei, das gibt ein Geschenk für meine Frau«, sagte er, nahm die Füchsin und legte sie auf den Wagen. Er selbst ging voraus. Die Füchsin aber benützte ihre Zeit und warf ein Fischchen ums andere, eins und noch eins, zum Wagen hinaus. Wie alle Fische draußen waren, sprang sie selbst davon.
»Sieh, Alte«, sagte Großväterchen, »ich brachte dir Pelzwerk zu einem Kragen.«
»Wo ist es?«
»Dort auf dem Wagen sind Fische und Pelz.«
Die Frau ging zum Wagen; da war weder Pelz noch Fisch! Da schimpfte sie ihren Mann aus. »So ein alter Narr will mich auch noch betrügen.«
Jetzt merkte Großväterchen, daß die Füchsin nicht tot war. Er grämte sich, er grämte sich, aber es war nichts zu machen.
Die Füchsin sammelte inzwischen die herausgeworfenen Fische, setzte sich nieder und fraß.
Da kam der Wolf des Weges: »Guten Tag, Gevatterin!«
»Guten Tag, Gevatter!«
»Gib mir von deinen Fischen.«
»Wenn du welche fressen willst, fange sie dir selbst.«
»Das kann ich nicht.«
»Geh zum Fluß, Gevatter, und hänge deinen Schweif in die Eisspalte auf dem Waschplatz, dann beißen die Fische an, aber bleibe lange sitzen, sonst fängst du nichts.«
Der Wolf ging an den Fluß und steckte den Schweif in die Eisspalte, denn es war Winter. So saß er und saß – die ganze Nacht, da fror sein Schwanz fest. Als er endlich versuchte, ihn herauszuziehen, ging es nicht. »Ei, so viele Fische haben angebissen, daß ich meinen Schwanz gar nicht herausbringe!« dachte er.
Am Morgen kamen Weiber, um Wasser zu holen; als sie ihn sahen, schrien sie: »Der Wolf, der graue Wolf! Schlagt ihn tot, schlagt ihn tot!« Da liefen viele Leute herbei und schlugen auf den Wolf los, mit Stangen und Eimern, mit allem was ihnen zur Hand war.
Der Wolf sprang und sprang bis der Schwanz losriß, und dann lief er davon, so schnell er konnte. »Warte Gevatterin«, dachte er, »das zahle ich dir heim.«
Als die Füchsin, das Schwesterchen, die Fische aufgegessen hatte, überlegte sie, ob nicht noch etwas anzustellen sei; sie schlich in eine Hütte, wo die Weiber Pfannkuchen buken, und sprang kopfüber in das Becken mit Teig, schmierte sich ein und lief davon.
Als der Wolf sie fand, sagte er: »Was lehrtest du mich? Sie prügelten mich so stark!«
»Ach, Gevatter«, sagte die Füchsin, das Schwesterchen, »bei dir floß immerhin nur Blut, aber mich prügelten sie noch mehr, mein Mark tritt aus. Ich schleppe mich nur mühsam fort.«
»Das ist wahr«, sagte der Wolf, »du kannst kaum gehen, Gevatterin, setze dich auf mich, ich trage dich!«
Wie die Füchsin, das Schwesterchen, so sitzt, spricht sie ganz leise vor sich hin: »Der Geschlagene trägt den Gesunden, der Geschlagene trägt den Gesunden!«
»Was sagst du, Gevatterin?«
»Ach, Gevatter, ich sagte: Ein Geschlagener trägt einen Wunden!«
»Ja, ja, Gevatterin, so ist es!«
»Gevatter wir wollen uns Hütten bauen.«
»Gut, Gevatterin.«
»Ich baue mir eine Rindenhütte und du dir eine aus Eis.«
Sie gingen an die Arbeit und bauten sich Hütten, die Füchsin eine Rindenhütte, der Wolf eine aus Eis, darinnen wohnten sie. Der Frühling kam und die Wolfshütte zerfloß.
»Ach, Gevatterin«, sagte der Wolf, »du hast mich wieder betrogen, dafür muß ich dich auffressen.«
»Gevatter, laß uns erst durchs Los entscheiden, wer den andern auffressen soll.«
Die Füchsin, das Schwesterchen, führte ihn in den Wald zu einer tiefen Grube und sagte: »Springe! Springst du über die Grube, magst du mich fressen, wenn nicht, so freß ich dich.«
Der Wolf sprang und fiel in die Grube.
»Na«, sagte die Füchsin, »sitz du nur drin!« und ging davon.
Sie ging, trug ein Stöckchen in den Pfoten und verlangte Einlaß bei einer Bauernhütte: »Laß dein Schwesterchen, die Füchsin, bei dir übernachten.«
»Wir haben es eng auch ohne dich!«
»Ich störe euch nicht. Ich leg mich auf ein Bänkchen, zieh drunter hin mein Schwänzchen. Das Stöckchen kommt unter den Herd.«
Da ließen sie die Füchsin ein. Früh am Morgen stand die Füchsin auf, verbrannte ihr Hölzchen und fragte später: »Wo ist mein Hölzchen, es war mir nicht um ein Gänschen feil!«
Der Bauer konnte sich nicht helfen, er mußte ihr ein Gänschen für das Stöckchen geben. Die Füchsin nahm das Gänschen, ging weiter und sang:
»Schwesterchen Füchsin ging über Land,
Sie trug ein Stöckchen,
Statt des Stöckchens jetzt hat sie ein Gänschen!«
Klopf, Klopf, Klopf! pocht sie an der Hütte eines zweiten Bauern.
»Wer ist draußen?«
»Ich, die Füchsin, das Schwesterchen. Laßt mich ein, über Nacht!«
»Wir haben es eng auch ohne dich.«
»Ich störe euch nicht. Mich selbst ich auf das Bänkchen leg, das Schwänzchen ich darunter steck, das Gänschen kommt unter den Herd.«
Da ließ man sie ein. Sie selbst sich auf das Bänkchen streckt, das Schwänzelchen darunter steckt, das Gänschen unter den Ofen. Früh morgens sprang sie auf, ergriff das Gänschen, rupfte es, fraß es und sagte später: »Wo kam mein Gänschen hin? Es war mir nicht feil für einen Truthahn!«
Der Bauer konnte sich nicht helfen und mußte ihr einen Truthahn für das Gänschen geben. Die Füchsin nahm den Truthahn, ging und sang:
»Schwesterchen Füchsin ging über Land,
Sie trug ein Stöckchen
Dafür sie ein Gänschen bekam,
Für das Gänschen sie einen Truthahn nahm.«
Klopf, Klopf, Klopf! pocht sie an die Hütte eines dritten Bauern.
»Wer ist draußen?«
»Ich, die Füchsin, euer Schwesterchen, laßt mich ein über Nacht.«
»Wir haben es eng auch ohne dich.«
»Ich störe euch nicht. Ich leg mich auf ein Bänkchen, zieh drunter hin mein Schwänzchen, der Truthahn kommt unter den Herd.«
Da ließ man sie ein, und sie sich auf das Bänkchen streckt, das Schwänzelchen darunter steckt, der Truthahn liegt unter dem Herd. Frühmorgens sprang die Füchsin auf, ergriff den Truthahn, rupfte ihn, fraß ihn und sagte später: »Wo kam mein Truthahn hin? Er war mir nicht um ein Töchterchen feil.«
Der Bauer konnte nichts machen und gab ihr ein Mädchen für den Truthahn. Die Füchsin steckte es in einen Sack, ging weiter und sang:
»Schwesterchen Füchsin ging über Land,
Sie trug ein Stöckchen,
Für das Stöckchen ein Gänschen,
Für das Gänschen einen Truthahn,
Für diesen sie ein Mädchen nahm.«
Klopf, Klopf, Klopf! pocht sie an die Hütte eines vierten Bauern.
»Wer ist draußen?«
»Ich, die Füchsin, euer Schwesterchen, laßt mich übernachten.«
»Es ist eng bei uns auch ohne dich.«
»Ich störe euch nicht. Mich selbst ich auf ein Bänkchen leg, mein Schwänzchen ich darunter steck, der Sack kommt unter den Herd.«
Da ließ man sie ein und sie sich auf das Bänkchen streckt, das Schwänzelchen darunter steckt, der Sack kommt unter den Herd.
Der Bauer ließ leise das Mädchen heraus und stopfte einen Hund in den Sack.
Am nächsten Morgen machte sich die Füchsin, das Schwesterchen, auf, nahm den Sack, ging und sagte: »Töchterchen, sing mir ein Lied!«
Ei wie heulte der Hund! Die Füchsin erschrak, als der Sack mit dem Hund zu strampeln begann, und lief davon.
Wie sie läuft, sieht sie auf dem Tor einen Hahn sitzen, zu dem sagt sie: »Hähnchen, Hähnchen, komm herunter, ich will dir die Beichte abnehmen. Da du siebzig Weiber hast, bist du stets voll Sündenlast.« Der Hahn kam herab, da packte sie ihn und fraß ihn.
II.
Es war einmal ein Mann und eine Frau. Er hatte einen Hahn und sie eine Henne. Eines Tages gingen diese auf den Mist, Futter zu suchen. Der Hahn fand eine Weizenähre, die Henne einen Mohnkopf. Aus der Ähre drosch Großväterchen das Korn heraus und mahlte es; die Frau reinigte und zerstieß den Mohn, mischte ihn mit Honig und machte aus Großväterchens Mehl einen Kuchen, den sie mit Mohn füllte. Da sie aus Armut keinen Herd und kein Feuer hatten, legte sie den Kuchen an das Fenster ihrer Hütte, damit die Sonne ihn gar backe.
Da ging gerade die Füchsin mit dem kleinen Wolf vorüber und sagte: »Wölfchen, stehlen wir diesen Kuchen und teilen wir ihn...
| Erscheint lt. Verlag | 7.3.2017 |
|---|---|
| Übersetzer | Anna Meyer |
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Märchen / Sagen |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | Afanasjew • Alexander Afanasjew • Anthologie • Das weiße Entchen • Der Mann und sein Weib • eBooks • Märchen • Märchen aus Russland • Märchenbuch • Russische Märchen • Russische Volksmärchen • Russland • Sagen • Volksmärchen |
| ISBN-13 | 9783730691601 / 9783730691601 |
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