Eine Ehe in Wien (eBook)
496 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1292-4 (ISBN)
In den Fängen einer dunklen Liebe In seinem Meisterwerk beschreibt David Vogel in sensibler wie schonungslos offener Sprache die Liebesqualen eines angehenden Schriftstellers und erzählt dabei von nichts Geringerem als vom Kern des Daseins: Rudolf Gordweil ist im Wien der zwanziger Jahre einer Femme fatale verfallen. Von Woche zu Woche mehr gedemütigt und erniedrigt, braucht er die Kraft des Verzweifelten, um endlich zum Befreiungsschlag auszuholen. 'Eine Ehe in Wien zählt zu den sechs, sieben besten Büchern, die mir je untergekommen sind.' Maxim Biller
David Vogel, geboren 1891 in Satanow, lebte ab 1912 in Wien. 1929 emigrierte er nach Palästina, kurz darauf erschien 'Eine Ehe in Wien'. 1930 zog er nach Paris. Nach der Besetzung Frankreichs wurde er ins KZ Auschwitz deportiert und 1944 ermordet. Heute gilt er als großer Erneuerer der hebräischen Literatur. 2013 konnte sein verschollener Roman 'Eine Wiener Romanze' erstmals veröffentlicht werden.
»Komme ich auch nicht zu spät?«, lächelte die Baronin und streckte ihm die Hand entgegen.
»Ja, doch. Weil ich schon seit gestern warte …«
»Aber nicht die ganze Zeit hier, hoffe ich. Das wäre ein bisschen langweilig.«
Sie setzte sich auf die Polsterbank an der Wand, entnahm ihrer Handtasche eine Schachtel Zigaretten, zündete sich eine an und ließ auch Gordweil eine nehmen. Dann sog sie den Rauch begierig ein wie ein alter Raucher, der sich lange enthalten hat, und bestellte schwarzen Kaffee.
Gordweil steckte voller Dinge, die er ihr sagen wollte, aber die Zunge war ihm wie angewachsen. Er saß ihr gegenüber und blickte sie zärtlich an, während ein leises, schüchtern-vergnügtes Lächeln nicht aus seinem Gesicht wich. Die Baronin trank aus und fragte ihn nach seinem Vornamen.
»Ah, Rudolf«, sagte sie. »Rudolf, Rudolfus, Rudolfinus! Mein Vetter heißt auch Rudolf. Er ist etwa zwei Kopf größer als Sie – aber er ist ein Rindvieh.«
»Ich, ich f-freue mich wirklich, dass er ein R-rindvieh ist«, stammelte Gordweil mit törichtem Grinsen.
»Was? Sie freuen sich? Sie freuen sich, dass er …« Die Baronin brach in unbändiges Gelächter aus.
»Das heißt«, Gordweil erlangte die Fassung wieder und versuchte zu korrigieren, »das heißt, ich weiß nicht … Ich freue mich sicherlich über etwas anderes … Habe mich nicht richtig ausgedrückt … Ich stelle ihn mir lang und mager vor, mit glatter Brillantinfrisur, Mittelscheitel und stets geputzten Schuhen, die schön glänzen. Lackschuhe. Und wenn er einen Menschen anschaut, neigt er den Kopf ein wenig nach rechts wie ein Huhn und setzt eine höchst würdevolle Miene auf, was ihn sehr lächerlich wirken lässt, da er in Wirklichkeit ja nichts als ein Rindvieh ist …«
»Fein haben Sie ihn beschrieben – aber keine Lackschuhe, sondern stets braune. Und den Stock haben Sie vergessen, mit dem goldenen Knauf. ›Dorothea‹ – er nennt mich immer Dorothea, weil das würdiger und traditioneller klingt – ›Dorothea‹, sagt er mit lächerlich greisenhafter Ernsthaftigkeit, ›du bist Spross einer alten Rasse. Die Vorfahren haben zu den Kreuzfahrern gezählt, vergiss das nicht. Du musst dich vor allem vor den Juden in Acht nehmen. Die Stadt Wien ist vom einen Ende zum anderen verjudet. Es wird nicht mehr zwischen Blut und Blut unterschieden. Sie verpesten die Luft. Ohne sie hätten wir den Krieg nicht verloren.‹ Und dabei läuft er selbst einer kleinen Jüdin nach, die ihm die Sinne verwirrt.«
»Und gehorchen Sie ihm, mein Fräulein?«, forschte Gordweil.
»In welcher Hinsicht denn?«
»Die Reinheit der Rasse zu bewahren?«
Die Baronin brach in lautes, hartes, zügelloses Gelächter aus.
»Wissen Sie«, sagte sie auf einmal zusammenhanglos, »nennen Sie mich einfach Thea. So ist es richtiger. Titel sind nicht nach meinem Geschmack.«
Gordweil warf ihr einen dankbaren Blick zu. Schlug aus irgendeinem Grund vor, Cognac zu bestellen. Leichtsinn war in ihn gefahren: Seine weiblich schmalen, blassen Hände suchten nach einem Gegenstand, der ihre überschüssige Energie aufsaugen könnte, bis er unter dem Tisch eine Hand der Baronin fand, die keinerlei Gegenwehr zeigte. Der Kellner servierte zwei Gläser Cognac, und Gordweil leerte seines in einem Zug. Die Baronin erklärte, morgen, Samstag, habe sie ganz arbeitsfrei, weil »der General« (so nannte sie den Rechtsanwalt, bei dem sie arbeitete) bis Montag weggefahren sei, und sie könne heute Abend länger ausbleiben.
»Das ist gut, das ist ausgezeichnet«, sagte Gordweil begeistert.
Sie redeten und schwiegen und redeten erneut, dem Anschein nach alltägliche Dinge, die doch von verborgener Bedeutung erfüllt waren, und die Zeit flog, von Gordweil unbemerkt, vorbei wie ödes Steppenland zu beiden Seiten eines Expresszugs.
Es war gegen elf. Beide verspürten unvermittelt den Drang, das Café zu verlassen. Gordweil rief dem Kellner und zahlte.
Draußen hakte sie sich bei ihm unter, und sie gingen stumm die Alserbachstraße hinunter und bogen in die Sechsschimmelgasse ein. Plötzlich sagte die Baronin, halb im Ernst, halb im Scherz: »Du wirst mich doch zur Frau nehmen, Rudolfus? Nicht wahr? Du gefällst mir, das kann ich dir offen sagen.«
Gordweil war verblüfft. Auf diese Möglichkeit wäre er gar nicht gekommen. Sie war zweifellos ein interessantes Mädchen. Wie einfach sie das dahingesagt hatte. Nein, so was hatte er noch nicht gehört. »Gewiss, gewiss«, antwortete er eilig. »Ich bin bereit. Dem steht nichts im Wege.« Und einen Moment später: »Aber was wird deine Familie dazu sagen? Ich fürchte, sie wird nicht einwilligen …«
»Meine Familie?«, rief sie verächtlich. »Wer? Mein Vetter Rudolf ? Und ich, wo bin ich denn? Ich bin gewohnt, zu tun, was mir passt. Mein Vater ist übrigens ein sehr netter Mann. Du lernst ihn ja kennen und kannst dann selber sehen. Du wirst ihm gefallen, das weiß ich.«
Sie unterhielten sich noch lange darüber, während sie durch die schlummernden Straßen bummelten. Die Baronin wollte eine »echte« Hochzeit, das heißt in aller Form in der »Israelitischen Kultusgemeinde«. Dazu würde sie zum Judentum übertreten müssen, was in ihren Augen eine Leichtigkeit war. Sie wollte die Angelegenheit nicht unnötig aufschieben, und so kamen sie überein, »unverzüglich die notwendigen Schritte einzuleiten« und sofort zu heiraten, sobald sie in den jüdischen Glauben aufgenommen war. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, sei gesagt, dass in Gordweils Herz einige flüchtige Bedenken hinsichtlich der dadurch bevorstehenden Veränderung in seiner Lebensweise aufflammten, die er jedoch augenblicklich als unbegründet unterdrückte. Jetzt, dachte er mit überschwänglicher Freude, jetzt würde ein langgehegter Traum Wirklichkeit werden. In einem Jahr! Vielleicht auch erst in zwei Jahren. Und von wem? Von ihr! Ein Sohn von ihr! Zwei alte Stämme! (Denn Rudolf Gordweil gehörte einer alten jüdischen Familie an. Sein Stammbaum führte seine Wurzeln bis auf einen großen, berühmten Rabbiner in Prag zurück.)
Vor lauter Freude blieb er stehen und umarmte die Baronin mitten auf der Straße.
»Ein Sohn«, flüsterte er inbrünstig. »Du wirst mir doch einen Sohn schenken? Nicht wahr?«
Die Baronin warf ihm einen ungewissen Blick zu und lächelte, ohne etwas zu antworten. Es erschien ihr lächerlich, dass dieser Kleine da sich einen Sohn wünschte …
Sie befanden sich in einer schlechterleuchteten Seitengasse. Es mochte halb eins sein. Öde Stille herrschte, und nur ihre Schritte riefen ein hohles Echo hervor. Unweit schimmerte ein vorragendes Hotelschild mit orangefarbenen Leuchtbuchstaben. Aus dem weit offenen Eingang fiel eine Lichtzunge übers Pflaster und kletterte die Wand gegenüber zur Hälfte hinauf. Gordweil spürte ein gewisses Zögern im Gang seiner Begleiterin, das er sich nicht erklären konnte. Vor dem Hoteleingang blieb sie stehen, beugte sich über Gordweil wie zu einem kleinen Kind herab und flüsterte: »Also halten wir doch jetzt unsere Hochzeitsnacht, mein kleiner Verlobter …«
Nun erst ragte das erleuchtete Hotel vor ihm auf, das seinen Augen die ganze Zeit entgangen war. Er meinte mit einem Schlag den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ein unklarer Drang zu rebellieren flackerte in ihm auf, erstarb aber sofort wieder. Und ehe er noch wusste, wie ihm geschah, standen sie schon im Empfang. Gordweil schrieb sich mechanisch ein: Rudolf Gordweil, geboren dann und dann in der und der Stadt, mit seiner Ehefrau und so weiter.
Mit völlig gleichgültigem Ausdruck auf den müden, schläfrigen Zügen führte der Hotelangestellte sie über die mit einem alten, verschlissenen Teppich belegte Treppe zum zweiten Stock hinauf und ließ sie in ein quadratisches, spärlich möbliertes Zimmer ein.
»Wenn die Herrschaften etwas brauchen, bitte hier läuten.« Er deutete auf einen Elfenbeinknopf neben der Tür und steckte das Trinkgeld ein, das Gordweil ihm gegeben hatte.
Die Baronin richtete sich im Zimmer ein, guckte in den Wasserkrug, ob er gefüllt war, hob die Bettdecken ab und begutachtete die Laken.
Gordweil wurde abrupt von jener feindlichen, nach anrüchigen Abenteuern und unerwarteten Missgeschicken riechenden Atmosphäre überwältigt, die Hotelzimmern dieser Art anhaftet, und war augenblicklich ernüchtert. Die ganze Sache schien zugegebenermaßen etwas sonderbar. Ohne großes Zutun fand er sich in einer neuen, zweifelhaften Lage wieder, war nicht mehr Herr seiner Taten, unfähig, sie nach seinem Willen zu lenken. Was hatte er in diesem fremden, ungemütlichen Zimmer verloren? Einen Augenblick bereute er, hier eingetreten zu sein, und spielte mit Fluchtgedanken. Es erwachte auch eine Art Schamgefühl in ihm. So hätte sein neuer Lebensabschnitt nicht anfangen dürfen. Er stand mitten im Zimmer, im Mantel, den Hut in der Hand, wie jemand, der sich verabschieden will. Dann wandte er das Gesicht seiner Begleiterin zu, die mittlerweile den Hut abgenommen hatte und ihr langes strohblondes Haar löste. Er wurde sehr verlegen. Suchte mit den Augen nach einer Ablage für seinen Hut und setzte ihn geistesabwesend wieder auf. Trat, warum auch immer, ans Fenster, schob den Vorhang beiseite und blickte kurz hinaus, ohne etwas zu sehen. Dann kehrte er zu Thea zurück, die schon auf dem Bett saß und die Schuhe aufschnürte. Ihr vorspringendes, nach unten gekrümmtes Kinn zuckte krampfartig, und ihr Busen wogte mächtig. Gordweil setzte sich neben sie aufs Bett. Sofort ließ sie von ihren Schuhen ab, wandte ihm ein...
| Erscheint lt. Verlag | 14.6.2017 |
|---|---|
| Nachwort | Maxim Biller |
| Übersetzer | Ruth Achlama |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Chaie nissuim |
| Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | 20er Jahre • Alfred Döblin • Arthur Schnitzler • assimilation • Boheme • David Vogel • Femme fatale • Franz Kafka • Franz Werfel • Hebräische Literatur • Israel • Joseph Roth • Jüdisches Leben • Künstlerexistenz • Künstlerleben • maxim biller • Meisterwerk • Ruth Achlama • Schriftsteller • Weltliteratur • Wiederentdeckung • Wien • Zwanziger Jahre |
| ISBN-10 | 3-8412-1292-1 / 3841212921 |
| ISBN-13 | 978-3-8412-1292-4 / 9783841212924 |
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