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Der letzte Mönch von Tibhirine -  Freddy Derwahl

Der letzte Mönch von Tibhirine (eBook)

Mit Fotos von Bruno Zanzottera.
eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
192 Seiten
adeo (Verlag)
978-3-86334-708-6 (ISBN)
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In der algerischen Wüste harrt eine kleine Schar von christlichen Mönchen aus. Schon mehrfach wurden sie von militanten Rebellen bedroht. Sie wissen, dass ihr Leben auf Messers Schneide steht. Nach intensiver Beratung beschließen sie, im Kloster Tibhirine zu bleiben, um für die Bevölkerung da zu sein. Sie wollen ihre Krankenstation weiterhin öffnen, für Versöhnung eintreten und mit ihrem Leben dem christlichen Glauben Gestalt geben. Am 26. März 1996 kehren die Rebellen zurück. Sieben Mönche werden entführt und später enthauptet. Die Umstände und Hintergründe der Morde sind bis heute ungeklärt. Dieses Buch erzählt das Leben von Frère Jean-Pierre Schumacher, den die Terroristen damals nicht entdeckten. Er überlebte und begann an anderer Stelle neu. Heute lebt er - inzwischen fast 90 Jahre alt - im Wüstenkloster Midelt, am Rande des Hohen Atlas. In seinen Erzählungen spiegelt sich, was damals wirklich geschah.

Freddy Derwahl arbeitete als Journalist für eine deutsche Tageszeitung, anschließend für das Belgische Rundfunk- und Fernsehzentrum. Derwahl ist Mitglied des PEN-Clubs sowie Inhaber mehrerer Literatur- und Filmpreise, seit 2007 ist er freier Schriftsteller. Er publiziert u. a. in der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung' und in 'Die Zeit'.

Freddy Derwahl arbeitete als Journalist für eine deutsche Tageszeitung, anschließend für das Belgische Rundfunk- und Fernsehzentrum. Derwahl ist Mitglied des PEN-Clubs sowie Inhaber mehrerer Literatur- und Filmpreise, seit 2007 ist er freier Schriftsteller. Er publiziert u. a. in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und in "Die Zeit".

Kapitel 1


Im Schatten schwarzer Berge


In den hinteren Gebäuden des Atlas-Klosters befindet sich ein „Tee-Salon“. Salon, so lautet in dieser Kaschemme zwar nur der über den Eingang gepinselte Name, dennoch reichen zwei Bänke und klapprige Tischchen aus, um gute Gespräche zu führen. In einer Nische stehen Dosen mit Tee und ein Gaskocher. Zweimal am Tag, um 10:30 und um 16:30 Uhr, trifft sich in diesem engen Raum eine verschworene Gemeinschaft: vier französische Trappistenmönche und ihre drei marokkanischen Arbeiter. Omar, ein 56-jähriger Moslem mit feurigen schwarzen Augen, ist der „Chef“ und für das Aufgießen zuständig. Er schüttet das heiße Wasser in einen zerbeulten, mit frischer Pfefferminze vollgestopften Kessel. Der Geruch ist das Beste; er verbreitet Vorfreude.

Ich habe die Unumgänglichkeit dieses Ortes noch zu lernen. Schlägt die Stunde der Pause, eilt Bara, eine verwitwete Schwägerin von Omar, durch die Flure des Gästehauses, klopft an die Zellentüren und ruft: „Tee, Tee …“, als sei irgendwo Feuer ausgebrochen. Im „Salon“ begrüßt jeder jeden mit Handschlag und wünscht einen guten Tag oder guten Abend, selbst dann, wenn man sich zuvor schon mehrmals begegnet ist. Das ist Teil der moslemischen Lebensart und bekräftigt die Solidarität. Das gezuckerte, heiße Getränk ist von hervorragender Qualität, sein Genuss beschränkt die Gespräche auf das Nötigste. Man nennt sich beim Vornamen, sitzt im selben Boot. Auch der Prior trägt Jeans und T-Shirt. Er hat die Regel des „Ordens der Zisterzienser von der strengen Observanz“ für die Dauer einer Viertelstunde außer Kraft gesetzt und den Gewohnheiten der moslemischen Nachbarn angepasst. Das sind die kleinen interreligiösen Nahtstellen im langen Tagesablauf, der für die Mönche von der Vigil um 4 Uhr bis zur Komplet um 21 Uhr dauert.

So haben die Tee-Pausen in diesem Abstellraum starken symbolischen Charakter für das, was hier am Fuße des Hohen Atlas auf einem einsamen Vorposten des christlichen Mönchtums geschieht: ärmliche Einfachheit, herzliche Freundschaft, ein Hauch praktizierter Avantgarde einer Handvoll mutiger Männer im weiten Meer zweier Weltreligionen. Wenn sich die Trappisten und ihre Arbeitsgehilfen mehrmals am Tag die Hände geben und sich „Salam – Frieden“ wünschen, sind das zwar spärliche Gesten, aber sie reichen dennoch über alle Formen offiziellen Dialogs hinaus. Man bildet sich nichts darauf ein, doch weiß man auch, dass es anders als mit ganz kleinen Schritten nicht geht. Man erwartet keine Tapferkeitsorden, sondern nur etwas Verständnis.

Von der Königsstadt Fès bis hierher an unser Ziel, der Gebirgsstadt Midelt, waren es 200 Kilometer. Die Fahrt führte von den uralten Stätten islamischer Weisheit und Gelehrsamkeit hinaus aufs einfache Land. Das soziologische Fresko reicht von der schönen Studentin in engen Jeans bis zu den verarmten Hirten mit Ziegen- und Schafherden, die zwischen Distelblüten nach Grün suchen. In Infran steht wohlbehütet eine königliche Residenz, vor den braunen Nomadenzelten steigt Rauch in den Himmel empor. Die bunte Wäsche flattert wie die Fähnchen tibetanischer Bergbauern im heißen Wüstenwind. Markt­orte wie im Wilden Westen. Da und dort dichte Wälder, die sich gegen Fels und Sand behauptet haben. An den spärlichen Bächen Fußball spielende Kinder in Barcelona-Trikots. Entlang der Landstraße Honig- und Feigenverkäufer. Meist jedoch viel Weite, viel Einsamkeit, bis plötzlich in der Mittagshitze ein alter, bärtiger Mann mit seinem Lasttier auftaucht, von dem man sich fragt, woher er kommt und wohin er geht. Eine Erscheinung in der Mitte von Nirgendwo.

Dann die Grate des Atlas, die vom Osten kommend in die Höhe steigen und am Arachy 3.270 Meter erreichen. Die Silhouette des Massivs liegt noch im Dunst, färbt sich jedoch in der Umgebung von Midelt zunehmend in mächtiges Schwarz, wie eine Wand. Dahinter vermutet man die Unendlichkeit der Sahara und die Tore ins schwarze Afrika. Obwohl sich die Lichtspiele auf diesen Höhen am Tag mehrmals ändern und sie spätestens im Herbst schneebedeckt sind, werde ich sie in den nächsten Wochen „die schwarzen Berge“ nennen. Diese Farbe sticht stark hervor und umhüllt die Landschaft des Übergangs mit mythischer Kraft. Vom Fenster der Klosterzelle aus werde ich ständig auf die Bergkette blicken, immer wieder gebannt von einer Kraft, von etwas, dass mich aufsteigen lassen möchte, dem „Heiligen“ entgegen.

Midelt ist eine graue, unauffällige Stadt. Ihre beste Zeit als Zentrum der Erzminen liegt lange zurück. Jetzt erstreckt sie sich in alle Himmelsrichtungen im Schatten des Bergmassivs. 60.000 Einwohner leben weitverzweigt in den Hügeln des Vorgebirges. Vom Ortsrand geht es noch zehn Minuten über eine Seitenstraße bis zum Kloster. Die simple Bauweise dieser Vorstadt endet plötzlich an einer hohen Mauer. Zwei Wachtürme flankieren das verriegelte Eingangstor. Dahinter liegt ein Schotterhof, einem Kasernenplatz nicht unähnlich, die Fenster sind vergittert, die Stille am Nachmittag ist erschreckend. Der erste Gedanke geht nach Tibhirine, dem algerischen Kloster der sieben enthaupteten Mönche. Alles wirkt defensiv, als wolle man einen neuerlichen nächtlichen Anschlag namenloser Angreifer verhindern. Obwohl dieser militärische Eindruck täuscht und die Architektur auf ein ehemaliges Kloster franziskanischer Schwestern zurückgeht, bleibt der Name „Tibhirine“ auf Schritt und Tritt präsent.

Bereits gegenüber der Klosterpforte steht es auf einer Türe zu lesen: Mémorial. Hinter der Tür befindet sich auf engem Raum eine Gedenkstätte, die an eine kleine Totenkapelle erinnert und für all jene Besucher bestimmt ist, die im Kloster Unserer Lieben Frau vom Atlas den sieben Märtyrern von Tibhirine die Ehre erweisen und sich in das ausliegende Gedenkbuch eintragen wollen. Das Marien­bild in der Apsis der benachbarten Klosterkapelle stammt aus dem Gebetsraum der algerischen Trappisten. Die sieben Schlafenden sind in leuchtenden Farben auf einer Ikone dargestellt. An den Wänden des Gästeflügels ihre Fotos. Als Lektüre liegt, neben Werken von Papst Johannes Paul II. und Zisterzienser-Autor Guillaume von St. Thierry, die florierende Literatur über die Ermordeten aus. Schließlich erinnert ein Plakat an „Von Menschen und Göttern“, den Film von Xavier Beauvois, der das Mysterium Tibhirine, das weltweit starke Aufmerksamkeit erregte, in Szene setzte. Da sieht man sie noch einmal um den Tisch ihres kleinen Kapitelsaals versammelt, in dem die entscheidenden Versammlungen stattfanden, in denen sie sich entschieden, der Bedrohung durch die „Brüder aus den Bergen“ nicht nachzugeben. „Zur Nacht“, sagten die Mönche, „nehmen sie die Waffen und wir nehmen das Buch.“

Selbst in meiner Zelle finde ich einen Gedenkzettel mit den sieben Köpfen und einem Gebet des Andenkens. Drei auf drei Meter, der spartanische Raum. Die einzige Konzession an Farbe ist eine Marienikone mit Palmzweig in einer Mauernische. Auf dem Ecktischchen ein Leselämpchen, eine Kleinausgabe der Jerusalem-Bibel. Ich habe nur drei Bücher mitgenommen: „Jesus von Nazareth“ von Papst Benedikt XVI. (um in Form zu bleiben), „Dieu pour tout jour“ von Christian de Chergé, dem ermordeten Prior von Tibhirine (als christlich-islamische Einführung), sowie Ernst Jüngers „Siebzig verweht“ (ein Tagebuch zur stilistischen Übung). Gegenüber eine Kleiderablage, ein Waschbecken, ein Spiegel. Neben dem herrlich harten Bett ein Nachttisch. Vor dem Fenster ein kleiner Blumengarten mit Malven, Nachtschönen (Wunderblume) und Kakteen, dahinter die Kette der schwarzen Berge. Ein Ausblick, der für Wochen reicht.

Als Jean-Pierre am späten Nachmittag nach meiner Ankunft im Eingang des Tee-Salons erschien, haben wir uns gleich umarmt. Er wusste, was ich von ihm erwartete: Ich hoffte, dass er mir alles erzählen würde. Der etwas gebeugte 87-jährige Trappistenmönch ist guter Dinge. In seinen blaugrünen Augen ein verschmitztes Lächeln, viel Güte verbirgt sich dahinter. Auf der Stirn und dem Kinn tiefe harmonische Falten. Es sind keine Sorgen-, sondern Weisheitsfalten. Er trägt das in diesem Klima übliche sandfarbene Habit mit Ledergürtel und auf dem Kopf einen gestrickten Terbouche mit islamischen Motiven. Ich wusste zwar, dass er Schumacher hieß, doch nicht, dass er aus Luxemburg stammte. An der Mosel, im luxemburgisch-deutsch-französischen Dreiländereck, hatten wir gemeinsame Bekannte. Damit hatten wir schon den ersten Gesprächsstoff. Am nächsten Morgen um 10:30 Uhr setzten wir uns erstmals zusammen. Unser einziges Thema: sein Leben. Das Massaker an seinen sieben Brüdern von Tibhirine lag 15 Jahre zurück, er blieb von dem Anschlag verschont, wohin führte ihn sein Schicksal?

Im Kloster von Midelt gehört man zu einer etwas größeren Familie, man duzt sich. Selbstverständlich gilt das ebenfalls für den Prior, wenn das auch Probleme schafft, denn Frère Flachaire heißt wie Frère Schumacher ebenfalls Jean-Pierre mit Vornamen. So nennt man den einen den „Älteren“ und den anderen den „Jüngeren“. In diesem Buch werden wir sie, zur besseren Unterscheidung, einfach „Prior“ bzw. „Jean-Pierre“ nennen. Auf Abkürzungen wie P. (Pater), Fr. (Frère) oder Br. (Bruder) verzichte ich; es passt nicht in diesen mönchischen Freundeskreis, und die Personen sind für den Leser besser unterscheidbar.

Jean-Pierre und ich sind uns 1987, knapp zehn Jahre vor der Entführung, in Tibhirine schon einmal begegnet. Er als Mönch, der für Botengänge zuständig war, die einige Zeit später lebensgefährlich wurden, ich als „Beobachter“ oder, wie die Trappisten sagten, als „der Neue“. Es war die Zeit...

Erscheint lt. Verlag 10.8.2012
Verlagsort Asslar
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Biografie • Bruno Zanzottera • Kloster • Mönche
ISBN-10 3-86334-708-0 / 3863347080
ISBN-13 978-3-86334-708-6 / 9783863347086
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