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Musikmomente (eBook)

eBook Download: EPUB
2017
btb Verlag
9783641216368 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Musikmomente - Hanns-Josef Ortheil
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Der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil hat in seinen Romanen immer wieder von starken Momenten der Musik erzählt, in denen die handelnden Akteure sich hörend, spielend oder deutend mit großen Kompositionen beschäftigen. Mal handelt es sich um die Passionen Johann Sebastian Bachs, mal um die Klavierwerke Robert Schumanns oder Frédéric Chopins – besonders häufig aber um das Gesamtwerk von Wolfgang Amadeus Mozart, dem sich der ausgebildete Pianist Ortheil besonders ausführlich und intensiv gewidmet hat. In dieser Anthologie stellt er die wichtigsten Klangmomente seines stark von der Musik geprägten Lebens vor, erläutert die kulturellen Hintergründe seines lebenslangen Musikhörens und erzählt davon, wie die Musik sein Empfinden und Denken geformt und gestaltet hat.

Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den beliebtesten und meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis, dem Stefan-Andres-Preis und dem Hannelore-Greve-Literaturpreis. Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.

Die Sekunde, die über mein Leben entschied

Ich war vier Jahre alt, als meine Eltern ein großes Geschenk in Form eines Klaviers erhielten. Wir wohnten damals, Mitte der Fünfziger Jahre, im ersten Stock eines Kölner Mietshauses. Einen Fernseher gab es noch nicht, und Radio wurde während des Tages nur selten gehört. Keine Nachrichten, nur ab und zu Musik, viel Klassik und manchmal französische Chansons, die meine Mutter besonders liebte.

Während des Krieges und in der Nachkriegszeit hatten meine Eltern vier Söhne verloren, und dieser schmerzliche Verlust hatte seine Spuren hinterlassen. Nach dem Tod des vierten Kindes war meine Mutter verstummt, und im Alter von etwas über drei Jahren hatte ich es ihr nachgetan und ebenfalls aufgehört zu sprechen.

So war es in unserer Kölner Wohnung oft gespenstisch still. Sie war eine abgeschottete Klause, in der es keine lebhafteren Szenen und kaum Besuche gab. Wollten wir mit Verwandten zusammen sein, fuhren wir aufs Land, wo die meisten von ihnen lebten. In unserer Wohnung aber blieben wir unter uns: Mutter, Vater und Sohn, ohne eine Ahnung, was wir gegen die Stille hätten ausrichten können.

Das Klavier, das meine Eltern von einem Bruder meiner Mutter als Geschenk erhielten, erregte vom ersten Moment seines Erscheinens an meine Aufmerksamkeit. Es war, als hätte ich geahnt, dass ich gerade mit diesem zunächst fremd und sonderbar erscheinenden Möbel zu tun bekommen würde. Als es von meiner Mutter zum ersten Mal gespielt wurde, empfand ich diesen Moment als den bis dahin schönsten meines Lebens. Was für ein Rauschen und Singen! Die ganze Wohnung lebte auf, als besäßen die Töne eine magische Kraft.

Von einem Moment auf den andern erlebte ich aber nicht nur klangvolle, selbstgespielte Musik, sondern nahm auch meine Mutter ganz anders wahr als bisher. Plötzlich war sie nicht mehr die stumme, ruhige Frau, die sich von den anderen Menschen weitgehend fernhielt. Indem sie Klavier spielte, begann sie zu sprechen, schöner als sie es mit Worten und Sätzen hätte tun können! Und wie gut sie spielte! Nicht wie eine Anfängerin, sondern wie eine Klavierspielerin, die bereits viel Zeit ihres Lebens an einem solchen Instrument verbracht hatte.

Dass die Rückkehr an ein Klavier sie überforderte und ihre große Trauer wiederbelebte – diesen Zusammenhang verstand ich damals noch nicht. Wohl aber spürte ich, dass ihr Klavierspiel sie an die Vergangenheit erinnerte. Irgendetwas Schlimmes, das die vielen Tränen auslöste, musste in diesen früheren Zeiten geschehen sein.

Nicht nur meine Mutter, auch ich selbst war als kleines, nichts ahnendes Kind von der gleichzeitigen Präsenz des Schönen und Schrecklichen überfordert. Hätte sie sich damals gänzlich vom Klavier abgewandt, wäre mein Leben anders verlaufen. Möglicherweise hätten meine Eltern das alte Instrument, das mit so vielen Erinnerungen an die Vergangenheit verbunden war, rasch wieder aus der Wohnung geschafft.

Die Sekunde, in der alles anders kam, war der Moment, in dem meine Mutter aus ihrer Verzweiflung und Trauer erwachte und auf mich, ihr übrig gebliebenes fünftes Kind, aufmerksam wurde. Es war der Moment, in dem sie instinktiv erkannte, dass dieses stumme Kind doch eine Zukunft (als »Kind am Klavier«) haben könnte. Deshalb ließ sie mich neben sich Platz nehmen. Das »Kind am Klavier« saß nun an ihrer Seite, und es spielte von da an (im wahrsten Sinne des Wortes) »um sein Leben«.

Gab der Glaube meinem kindlichen Leben ein Fundament und eine Bedeutung, so konnte er mir, was mein Stummsein betraf, nicht wirklich helfen. Manchmal stelle ich mir vor, wo ich wohl gelandet und was aus mir geworden wäre, wenn dieses Leben immer so weiter verlaufen wäre, wie ich es bisher beschrieben habe. Im Grunde war ich zu nichts anderem geeignet als dazu, ein ewiger Idiot zu werden, einer, der sich aus dem Staub machte, wenn die anderen ihm zu nahe kamen, einer, der niemals etwas begreifen und lernen würde von dem, was sie so leicht und selbstverständlich lernten.

Dass es nicht zu diesem Idiotendasein gekommen ist, verdanke ich einem nicht einmal geplanten Anstoß von außen, im Grunde war es sogar nur ein Zufall in Form einer Eingebung, die ein Bruder meiner Mutter plötzlich hatte. Dieser ältere Bruder lebte als Pfarrer in Essen, wo er eine große Pfarrei betreute und mit seinen imponierenden Predigten gut unterhielt.

Im Arbeitszimmer seines Pfarrhauses stand damals bereits seit einiger Zeit ein Klavier, das ihm seine Gemeinde in dem guten Glauben geschenkt hatte, er werde es täglich benutzen. Wahrscheinlich hatten die Gläubigen es sich wahrhaftig so ausgemalt: den allabendlich Bachs Choräle spielenden Herrn Pfarrer, der während des Klavierspiels über die nächsten Predigten nachdachte.

In späteren Jahren hat mir mein Onkel einmal erzählt, dass er ausgerechnet dieses Klavier immer gehasst habe. Es habe ihn an den Klavierunterricht erinnert und daran, dass seine Mutter (und damit meine Großmutter) von ihm immer ein gutes, ja sogar ein sehr gutes Klavierspiel erwartet habe. In Wirklichkeit sei er jedoch dafür gar nicht geeignet gewesen, es habe ihn nicht im Mindesten interessiert, vielmehr sei die eigentlich gute Klavierspielerin der Familie meine Mutter gewesen.

Um sich von der Last falscher Zumutungen zu befreien, hatte mein Onkel an einem Nachmittag beim Blick auf das ungespielt dastehende, lästige und zudem noch vorwurfsvoll dreinschauende Klavier plötzlich beschlossen, sich für immer von ihm zu trennen. Aus den Augen wollte er das Klavier haben, niemals mehr wollte er erinnert werden an all die Ermahnungen und all den Ärger, den er wegen seines schlechten Klavierspiels hatte ausstehen müssen. Und so hatte er den Pfarrgemeinderat seiner Pfarrei darüber informiert, dass er sein Arbeitszimmer anders und zeitgemäß und aus eigener Tasche neu möblieren wolle.

Das dunkelbraune Klavier war ein Klavier der Marke Sailer, es wurde an einem Vormittag von zwei Möbelpackern das Treppenhaus hinauf in unsere Wohnung geschleppt und dort in unser Esszimmer geschoben. Ich habe das Aufsehen, das die Lieferung dieses Möbels machte, noch genau in Erinnerung. Die Hausnachbarn versammelten sich im Treppenhaus, und wir bekamen den üblichen Spott zu hören, ausgerechnet die Familie der Sprachlosen schaffte sich ein Klavier an, das war in den Augen unserer Nachbarn ein weiterer Anlass für deftige Witze.

Als die Möbelpacker verschwunden waren, machte sich meine Mutter daran, das Instrument gründlich zu reinigen. Sie säuberte das Holz mit einer hellen Tinktur und nahm sich dann Taste für Taste vor, bis das ganze Möbel glänzte und einen betäubenden Tinktur-Duft ausstrahlte. Ich saß neben ihr auf dem Boden und schaute ihr zu, ich hatte schon davon gehört, dass Mutter gut Klavier spielen könne, aber ich konnte mir so etwas nicht vorstellen, deshalb wartete ich geduldig auf den großen Moment.

Der aber ließ auf sich warten, denn nachdem das Instrument gereinigt worden war, klappte meine Mutter den Deckel zu, strich noch einmal prüfend mit der rechten Hand über das Holz und entfernte sich dann. Sie entfernte sich aber auf seltsame Art, denn sie ging langsam rückwärts, Schritt für Schritt, den Blick weiter prüfend und bewundernd auf das Instrument gerichtet, als wollte sie es nicht mehr aus den Augen lassen.

Ich stand langsam auf und folgte ihr, auch ich verließ das Esszimmer rückwärts, Schritt für Schritt, es muss ein merkwürdiger Anblick gewesen sein, wie Mutter und Sohn sich da bewegten, als entfernten sie sich von einer Hoheit oder Exzellenz, die nach den Strapazen einer langen Reise im Möbelwagen nun der Ruhe bedurfte.

Hatte ich erwartet, das Reinigen des Klaviers sei die Vorstufe zu Mutters Klavierspiel, so sah ich mich bald getäuscht. Jeden Tag wartete ich darauf, dass Mutter Ernst machen würde, doch sie tat nichts anderes als immer wieder den Deckel des Klaviers zu öffnen und die Tasten erneut so vorsichtig mit Tinktur zu säubern, dass kaum einmal ein richtiger Ton zu hören war.

Am liebsten hätte ich mich selbst an das Instrument gesetzt und seinen Klang ausprobiert, das aber wagte ich nicht, weil ich Mutter den Vortritt lassen wollte. Vater schließlich warf jeden Nachmittag nur einen kurzen Blick auf das Instrument, als wollte er nachschauen, ob es noch da sei und ob es ihm gut gehe. Es war, als sei ein Gast bei uns eingezogen, dem man eine allzu große Nähe noch nicht zumuten könne.

Ich selbst aber ließ das Klavier nicht mehr aus den Augen. Vom ersten Moment seines Erscheinens in unserer Wohnung an hatte ich zu ihm eine besondere Verbindung, die mit seinem seltsamen Status zu tun hatte. Zum einen schien es zu meiner Mutter und ihrer Vergangenheit zu gehören, zum anderen aber war es ein fremdes Wesen, das in unseren geschlossenen Kreis eingedrungen war und seinen eigentlichen Ort noch nicht gefunden hatte. Stattdessen stand es da wie eine kapriziöse Erscheinung, die man päppeln und pflegen musste, ohne dass es sich durch seinen Einsatz hätte bedanken können. Anscheinend wussten wir nichts anderes mit ihm anzufangen als es zu polieren und anzustarren, während es doch geradezu ideal dafür geeignet war, in unseren stummen Haushalt endlich etwas Leben und Klang zu bringen.

Mit der Zeit ärgerte mich das alles, ich wollte nicht länger warten, und ich begriff nicht, warum Mutter es mit dem Säubern und Polieren derart übertrieb. Der braune, meist geschlossene Kasten glänzte längst so strahlend, dass man sich darin spiegeln konnte. Manchmal robbte ich langsam...

Erscheint lt. Verlag 11.12.2017
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anthologie • Autobiografie • Bach • Bestsellerautor • eBooks • Erinnerungen • Hören • Klang • Komposition • Kultur • Mozart • Musik • Schumann
ISBN-13 9783641216368 / 9783641216368
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