Diebe in der Nacht (eBook)
479 Seiten
Europa Verlag GmbH & Co. KG
978-3-95890-068-4 (ISBN)
Arthur Koestler war einer der großen Journalisten, Aktivisten und Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Geboren 1905 in Budapest als Sohn eines jüdischen Industriellen, zog er 1926 nach Palästina in einen Kibbuz, den er aber schließlich enttäuscht wieder verließ. 1937 wurde er in Malaga von den faschistischen Putschisten festgenommen und als Spion zum Tode verurteilt. Die Intervention der britischen Regierung rettete ihm in letzter Minute das Leben. Koestler avancierte zu einem der erfolgreichsten Schriftsteller englischer Sprache und pflegte Freundschaften zu George Orwell, Simone de Beauvoir und anderen Intellektuellen seiner Zeit. Er starb 1983.
Arthur Koestler war einer der großen Journalisten, Aktivisten und Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Geboren 1905 in Budapest als Sohn eines jüdischen Industriellen, zog er 1926 nach Palästina in einen Kibbuz, den er aber schließlich enttäuscht wieder verließ. 1937 wurde er in Malaga von den faschistischen Putschisten festgenommen und als Spion zum Tode verurteilt. Die Intervention der britischen Regierung rettete ihm in letzter Minute das Leben. Koestler avancierte zu einem der erfolgreichsten Schriftsteller englischer Sprache und pflegte Freundschaften zu George Orwell, Simone de Beauvoir und anderen Intellektuellen seiner Zeit. Er starb 1983.
1
»Wenn ich heute getötet werde, soll es nicht durch den Sturz vom Dach eines Lastwagens sein«, dachte Joseph und grub seine Finger in die mit Teer beschmierte Zeltbahn, die das schwankende, taumelnde Fahrzeug überdachte. Er lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken, eine horizontal gekreuzigte Gestalt auf einer schaukelnden Bahre unter den Sternen. Der Lastwagen war so hoch beladen, dass Joseph und seine Freunde etwa fünf Meter über dem Boden dahinfuhren und in dem holprigen Steinbett des Wadis von einer Seite auf die andere geworfen wurden: Sie hatten das Gefühl, als ob das ganze schwarze Ungetüm von einem Lastwagen jeden Moment umkippen würde.
Sooft Joseph über die Kante des Segeltuches hinunterlugte, erinnerte es ihn an das Gefühl schwindelnder Höhe, das er als kleines Kind empfunden hatte, als er zum ersten Mal auf den Rücken eines Pferdes gehoben worden war. Der Motor dröhnte, und der schwer beladene Lastwagen holperte in erster Geschwindigkeit über die Steinblöcke des ausgetrockneten Flussbettes; er stockte; begann dann mit einem winselnden Klageton von Neuem. Vor ihnen kroch die lang hingezogene Reihe der anderen Lastwagen des Konvois im gewundenen Lauf des Wadis stockend vorwärts, eine Karawane torkelnder, dunkel schwerfälliger Riesen auf Rädern. Es war noch eine Stunde bis zum Aufgehen des Mondes, aber die Sterne funkelten hell; der Große Bär, der sich neugierig auf seinem Rücken rekelte, verband sich mit der Milchstraße zu einer weiten, leuchtenden Schramme quer über das dunkle Himmelsgewölbe. Alle Lastwagen im Konvoi hatten ihre Lichter abgeblendet. Die bleichen Felsen lagen still in ihrem archaischen Schlummer. Der über eine Meile ausgedehnte Rest des Konvois folgte ihnen wie eine wandelnde Funkengirlande in der feindlichen Nacht.
Der Wagen kippte um fast dreißig Grad, und vom andern Ende des Segeltuches ließ Dina ein vergnügtes Quieken hören. Um sie zu sehen, musste Joseph entweder seinen Hals verkrümmen, bis seine Rückenwirbel zu krachen schienen, oder seinen Körper zu einem Bogen wölben, den er an seinem Kopf balancierte, sodass er die Welt verkehrt betrachtete. Aber Dinas Profil gegen das Sternenlicht zu sehen, war der Anstrengung wert. Sie lachte und hielt sich mit beiden Händen am Segeltuch fest:
»So schaust du noch komischer aus als gewöhnlich.«
Ihr Hebräisch hatte die richtige gutturale Modulation, um die sie Joseph beneidete und die er nicht nachmachen konnte. Von vorn kam Simons trockene, gebieterische Stimme:
»Ruhig, ihr zwei.«
»Warum denn?«, rief Dina. »Ist das ein Begräbnis?«
»Meinetwegen schrei dir die Lunge aus«, sagte Simon ungeduldig. Er saß steif aufrecht mit hochgezogenen Knien auf der vordersten Kante des Segeltuches.
»Das werde ich auch«, rief Dina. »Sollen sie wissen, dass wir kommen. Sie werden es jetzt sowieso schon wissen. Wir – sind – auf dem – Weg nach – Gali – läa.«
Ihre Stimme schwoll an und ging in das bekannte Lied über, das Lied der galiläischen Pioniere:
El jiwne ha-Galil,
Anu jiwnu ha-Galil …
Gott wird Galiläa aufbauen,
Wir werden Galiläa aufbauen,
Wir sind auf dem Weg nach Galiläa,
Wir werden Galiläa aufbauen …
Joseph fiel ein und sang mit noch verdrehtem Kopf, aber ein arger Ruck des Wagens warf ihn dann auf die Seite und ließ ihn nach dem Segeltuch greifen. Auch Dinas Stimme war abgerissen.
»Ist dir was geschehen?«, fragte er.
»Nein«, sagte sie, durch den Schreck etwas verschüchtert. Aber einen Augenblick später rief sie schon wieder aufgeregt: »Schau, schau doch! Sind das die unsern?«
Weit vor ihnen und etwas zur Linken hatte ein Funke in regelmäßigen Abständen zu blinken begonnen. Er war kaum heller als die größten Sterne, aber er war rot, und sein Aufblitzen und Erlöschen hatte unverkennbar Rhythmus und Sinn. Er schien in der Luft zu hängen, aber wenn man die Augen anstrengte, konnte man die blasse, fast durchscheinende Silhouette des Hügels erkennen.
»Stellen wir mal die Richtung fest«, sagte Joseph. »Wo ist der Polarstern?«
»Man muss durch die letzten beiden Sterne des Bären eine gerade Linie ziehen«, sagte Dina.
»Ruhig sein«, kam Simons Stimme. »Ich lese die Botschaft.«
Sie hielten den Atem an und starrten auf den fernen roten Funken: Licht und Dunkel, Licht, Licht und Dunkel, langes Licht und noch längeres Dunkel, eine endlose und beunruhigende Pause, dann wieder Licht, Licht und Licht, Punkt und Strich. Der Wagen gab einen Ruck und blieb stehen; der Fahrer tief unter ihnen las wahrscheinlich auch die Botschaft. Plötzlich begann er wild in die Nacht hinein zu hupen, und gleichzeitig setzte sich der Wagen wieder sprunghaft in Bewegung, dass sie fast vom Segeltuch geschleudert worden wären.
»Also?«, rief Dina. »Sprich doch, um Gottes willen.«
Simons Gestalt vor ihnen schien womöglich noch steifer und aufrechter zu werden; mit einer raschen Bewegung von Daumen und Zeigefinger schnellte er seine Hose zwei Zentimeter über die Knöchel hinauf. Selbst in der Dunkelheit erkannten sie die charakteristische Geste. Er sprach in seinem gewöhnlichen aggressiven Tonfall, in den sich aber ein tiefer, heiserer Unterton eingeschlichen hatte:
»Die Burschen des Verteidigungskaders haben den ORT besetzt. Bis jetzt kein Zusammenstoß. Sie haben Wachtposten aufgestellt und um den Grund herum zu pflügen begonnen.«
»Halle-lu-ja!«, rief Dina und stand unsicher auf; eine schwankende Sekunde hindurch konnte sie sich aufrecht halten, dann fiel sie kopfüber geradeaus über Josephs Brust. Sie überschlugen sich gegen die Mitte des Segeltuches zu. Joseph sah, dass das Gesicht des Mädchens feucht von Tränen war; einen Augenblick hatte er die wilde Hoffnung, sie hätte es verwunden, Das Zu-Vergessende. Dann setzte sie sich auf und zog sich zitternd zurück.
»Entschuldige, Joseph«, sagte sie.
»Gar kein Grund«, sagte er leise.
»Haltet doch den Mund, ihr zwei«, sagte Simon.
Eine Weile sprach keiner von ihnen. Der Motor dröhnte; von Zeit zu Zeit machte der Wagen einen plötzlichen Sprung nach vorn, verlangsamte stöhnend seinen Gang und blieb stecken; seine Räder zermahlten und zerrieben verzweifelt den Sand; dann gab es wieder einen Ruck vorwärts. Joseph legte sich in die vorige Lage mit ausgebreiteten Armen nieder – der Milchstraße gegenüber. Seine Gedanken kreisten erst um Dina, gaben sie resigniert auf, blieben an Simons schmalen und steifen Schultern haften, an seiner heiseren halb erstickten Stimme, wie sie vor einer Minute geklungen hatte. Die Worte, die die Besetzung des ORTES verkündeten, kamen aus ihm wie ein Strahl durch die Ritze einer Hochdruckkammer. Joseph verstand nicht, wie ein Mensch andauernd unter einer solchen seelischen Spannung leben konnte. Er selbst kam sich in Augenblicken seelischer Bewegung immer wie ein Schmierenkomödiant vor, selbst wenn kein Publikum da war; sogar jetzt.
Der Wagen hinter ihnen war nahe an sie herangekommen und hatte seine Scheinwerfer voll angedreht. Der scharfe Lichtstrahl erhellte Simons Gesicht und projizierte ihre drei Schatten auf den unebenen Abhang des Wadis. Nur ihre Köpfe und Schultern zeichneten sich ab; sie hoben und senkten sich auf den Felsen und tauchten unter wie die grotesken Riesenschatten eines Marionettentheaters. Dann wurden die Lichter des Wagens abgedreht, und es war wieder Frieden.
Aber warum, dachte Joseph, soll ich gerade heute Nacht alles analysieren?
Wenn man jemals ein Recht darauf hatte, sich ernst zu nehmen, so, wie einen die andern sahen, und nicht, wie man sich selbst kannte, dann war dies die gegebene Stunde. Dies war die Stunde der Tat und nicht ihres boshaften inneren Echos. Die Welt weiß nur von der Tat, ausgelöscht werde das Echo!
Ein paar Schakale, die den Konvoi unsichtbar hinter den Felsen begleiteten, heulten hohl und ohne Überzeugung. Der Wagen fuhr um eine Biegung des Wadis herum, und man konnte unten in der Ebene wieder die leuchtenden Punkte abgeblendeter Scheinwerfer sehen, die sich ruhig, langsam, mit unbezwingbarer Absicht vorwärtsbewegten.
Ja, dachte Joseph, wir werden Galiläa wieder aufbauen, ob Gott sich nun persönlich für die Sache interessiert oder nicht. Nur schade, dass ich in keinem Schauspiel mitmachen kann, ohne dessen bewusst zu sein, in einem Schauspiel mitzumachen. Die Araber revoltieren, die Briten wollen mit uns nichts zu tun haben, aber der ORT wartet: sechshundert Hektar lauter Steine in allen Größen auf der Spitze eines Hügels, von arabischen Dörfern umgeben, meilenweit keine andere hebräische Siedlung, dafür mit einem Malariasumpf. Aber wenn ein Jude in dieses Land zurückkehrt und einen Stein sieht und sagt: »Dieser Stein gehört mir«, dann entlädt sich in ihm etwas, das zweitausend Jahre lang in ihm angespannt gewesen ist.
Er fühlte, dass sein rechter Arm eingeschlafen war, und begann, ihn wild durch die Luft zu schwenken.
»Ach, Quatsch«, sagte er sich. »Vielleicht ist die ganze Idee der Heimkehr nichts als romantische Mache. Sollte ich getötet werden, würde ich nicht einmal wissen, ob ich in einer Tragödie oder in einer Farce sterbe … Aber was es auch ist, das Gefühl für den ORT ist echt; es ist das Echteste, was ich jemals empfunden habe. Merkwürdig. Wir werden das zu Ende denken müssen, wenn uns Zeit bleiben sollte.«
Er verdrehte seinen Kopf, um Dina anzuschauen. Sie lag etwas weiter weg, auch auf dem Rücken, in rechtem Winkel zu ihm. Sie hatte ihre Arme unter dem Nacken verschränkt; ihr Profil sah im Mondlicht weicher aus, ihre Lippen waren in einem unbewussten Lächeln leicht...
| Erscheint lt. Verlag | 1.6.2016 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
| Schlagworte | 2. Weltkrieg • Israel • Kibbuz • Nahostkonflikt • Roman |
| ISBN-10 | 3-95890-068-2 / 3958900682 |
| ISBN-13 | 978-3-95890-068-4 / 9783958900684 |
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