Lady Helenas Geheimnis (eBook)
576 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-688-10274-7 (ISBN)
Elizabeth Edmondson startete ihre Schriftstellerkarriere schon in jungen Jahren. Mit 'Lady Helenas Geheimnis', 'Die Farben des Himmels' und 'Die Gärten von Landrake Hall' schaffte sie ihren Durchbruch in Deutschland. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Elizabeth Edmondson startete ihre Schriftstellerkarriere schon in jungen Jahren. Mit "Lady Helenas Geheimnis", "Die Farben des Himmels" und "Die Gärten von Landrake Hall" schaffte sie ihren Durchbruch in Deutschland. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Winter 1936
1
LONDON, CHELSEA
Warum wollte sie nicht über Weihnachten in den Norden fahren?
Alix Richardson schlug zwei Eier in eine Schüssel und verquirlte sie mit einer Gabel. Cecy Grindleys Worte waren weder kritisch noch neugierig gewesen, sie hatte nur eine einfache und ganz natürliche Frage gestellt. Obwohl ihre alte Freundin wusste, wie Alix zu ihrer Großmutter stand, betrachtete sie dies nicht als ausreichenden Grund, Wyncrag fernzubleiben.
Wahrscheinlich hatte Cecy Recht. Ohne Begeisterung starrte Alix in die gelbe Masse. Dafür, dass sie sich nichts aus Omeletts machte, aß sie ziemlich oft welche.
Kochen für Einsiedler.
Andere Leute verbrachten Weihnachten bei ihren Familien. Es war so üblich, auch wenn sie es jedes Mal bereuten und alle Jahre schworen, nie wieder. Menschen, die kein richtiges Familienleben hatten, stellten sich solche Zusammenkünfte stets als Gipfel des Glücks vor, obwohl die Wirklichkeit in den meisten Fällen anders aussah: alte Familienstreitereien, die wieder ausgegraben wurden und für Verstimmungen und Feindseligkeiten sorgten, gereizte Nerven, die spätestens bei Braten und gut gefüllten Brandygläsern zur Katastrophe führten.
Alix zündete das Gas unter der Omelettpfanne an und sah zu, wie die Butter brutzelnd schmolz. Weihnachten auf Wyncrag war ganz anders. Großmutter zog allenfalls einmal die Augenbrauen hoch, erhob aber nie die Stimme. In diesem Haus war kein Platz für Wut, Zorn und Streit. Zankereien im Kinderzimmer blieben im Kinderzimmer, außerhalb dieser schützenden Wände sorgten gute Manieren und die Furcht vor Großmama für Ruhe und Frieden. So hatte es wenigstens den Anschein.
Sie goss die aufgeschlagene Eimasse auf die Butter und kippte die Pfanne, als das Omelett zu braten begann. Es hatte eine Zeit gegeben, da war Wyncrag erfüllt gewesen von Geschrei, Lachen und glücklichen Stimmen. Das war, als sie, Edwin, Isabel und ihre Eltern als Familie zusammengelebt hatten.
Vor ihrem geistigen Auge sah Alix ihre Schwester von der Jagd nach Hause kommen, bevor der Frost eingesetzt hatte und der Schnee von den Hügeln heruntergeweht war. Schon mit vierzehn war Isabel eine hervorragende Schützin gewesen, ganz anders als die übrigen Mitglieder der Familie, die wohl von Zeit zu Zeit ein Gewehr hervorholten, die leidenschaftliche Begeisterung der Nachbarn für diesen Sport jedoch nicht teilten.
Sie konnte sich daran erinnern, dass sie in diesem Dezember mit ihrem Zwillingsbruder Edwin aufs Eis gegangen war, um Schlittschuh zu laufen oder einfach zu schlittern.
Zu Beginn der Ferien hatte das Haus von aufgeregtem Geschrei und den eiligen Schritten der Kinder widergehallt, geendet hatten sie mit kalten, gereizt getuschelten Worten. Ihr letztes gemeinsames Weihnachtsfest.
Sie ließ das Omelett auf einen Teller gleiten, den sie aus dem offenen Regal über dem Herd geholt hatte, ging ins andere Zimmer und stellte ihn auf den Tisch. Dann schenkte sie sich ein Glas Wein ein. Sie schob sich eine Gabel voll Omelett in den Mund und aß, ohne wahrzunehmen, ob es schmeckte oder nicht.
Es hatte Gespräche gegeben, die abrupt endeten, wenn sie oder Edwin den Raum betraten. Sie erinnerte sich plötzlich mit erschreckender Deutlichkeit daran, wie ihre Mutter ein einziges Mal die Stimme gegen Großmama erhoben hatte, und an Großmamas gemeine, halblaut gezischte und daher unverständliche Antworten.
Sie trank einen Schluck Wein – es hätte genauso gut Essig oder Orangeade sein können. Isabel war krank, hieß es gegenüber den Zwillingen. Man sagte ihnen nicht, was mit ihr nicht stimmte, irgendetwas Ansteckendes, sodass sie in einer fernen Ecke des Hauses weggesperrt worden war. Alix erinnerte sich, mit den Augen einer versunkenen Kindheit schauend, sehr deutlich daran, wie sie die Halle betreten hatte, wo Rokeby besorgt den Weihnachtsschmuck abnahm. Tante Trudie war ebenfalls dort, riss Kerzen und Schmuck vom Baum und warf alles wie Kraut und Rüben in eine Keksschachtel, statt jedes Teil einzeln in Seidenpapier zu wickeln und in die Holzkiste zu legen, die eigens diesem Zweck diente.
Alix schob den Rest ihres Omeletts an den Tellerrand. Eintopf, sie hatte lange keinen Eintopf mehr gegessen. Die Leute in London hatten keine Ahnung von Eintopf. Oder von Porridge zum Frühstück, mit braunem Zucker und dicker Sahne vom Bauernhof. Großpapa aß seinen auf schottische Art mit Salz, doch für sie musste es immer mit Zucker und Sahne sein. Schokoladenpudding. Wenn sie nach Hause fuhr, würde die Köchin für sie ihren köstlichen Schokoladenpudding mit heißer Vanillesoße kochen, für den sie im ganzen Lake District bekannt war, dessen Rezept jedoch eisern unter Verschluss gehalten wurde.
Alix stand auf, trug den Teller und das Glas in die Küche und stellte beides ins Waschbecken; ihre Zugehfrau würde am Morgen abspülen. Sie machte Kaffee und beobachtete mit leerem Blick, wie die heiße Flüssigkeit aufkochte und Blasen warf.
Sie hatte alle Verbindungen zu Wyncrag gekappt, war fortgegangen, um ihr eigenes Leben zu führen. Bedeuteten Traditionen ihr irgendetwas? Sehnte sie sich nach Weihnachtsliedern, nach Plumpudding und Geschenken unter dem Baum?
Nein. Doch sie sehnte sich nach dem See und den Hügeln und nach dem Gefühl von eisiger Luft auf glühenden Wangen, und sie sehnte sich danach, noch einmal unter dem klaren, kalten blauen Himmel über das Eis zu fliegen. Und nach Eintopf und Schokoladenpudding. Ganz zu schweigen von dem köstlichen Wild, das es um diese Jahreszeit dort immer gab. Nach Brot, in London schien man nirgends anständiges Brot kaufen zu können. Auf Wyncrag lieferte der Bäckerjunge immer noch jeden Morgen frisches Brot, einen Korb voller Laibe, die in ein Tuch eingewickelt und wie durch ein Wunder noch warm waren.
Bestand die Gefahr, dass sie wieder unter Großmamas Fuchtel geriet, wenn sie zurückging? Sicher nicht, nicht mehr.
Wenn sie über Weihnachten nach Wyncrag fuhr – es waren schließlich nicht mehr als ein paar Tage –, konnte sie Stunden um Stunden mit Edwin zusammen sein. Mit ihm reden, spazieren gehen, Schlittschuh laufen und lachen, genau wie früher. Sie ging ihm, seit sie in den Süden gezogen war, aus dem Weg, obwohl sie wusste, dass er mehrmals im Jahr nach London kam. Sie vermisste ihn, doch die große Nähe zwischen ihnen führte dazu, dass sie sich in Acht nahm, ihn nicht zu oft zu sehen. Er kannte sie zu gut, und sie hatte das Gefühl, dass sein Verständnis ihr erst recht an den ohnehin strapazierten Nerven zerren würde. Sie hatte beschlossen, dem Norden und ihrer Familie den Rücken zu kehren, während er sich entschieden hatte zu bleiben. Für ihn war es leichter. Ihn regierte Großmama nicht mit der Härte, die sie ihren weiblichen Nachkommen zuteil werden ließ, und so konnte er in Lowfell in seinen eigenen vier Wänden wohnen und besaß gleichzeitig ein kleines Apartment in London, Privilegien, die man ihr niemals zugestanden hätte.
Doch jetzt sehnte sie sich plötzlich danach, ihn wiederzusehen. Und Perdita – wie musste sich die damals Zwölfjährige in den drei Jahren verändert haben! Wollte sie, dass ihre Schwester erwachsen und ihr immer fremder wurde?
Großpapa sah sie, wenn er nach London kam, zwei- oder dreimal im Jahr. Willensstark war sie wohl geworden, doch nicht herzlos. Er schrieb ihr, erzählte ihr zahlreiche Neuigkeiten und führte sie dann zum Abendessen in eines seiner Lieblingsrestaurants, schummrige, friedliche Orte, wo die Kellner sich mit vornehmer Geschwindigkeit bewegten und das Essen nahrhaft, liebevoll zubereitet und einfach herzerwärmend war.
Im Frühling waren sie zusammen eine Woche nach Deutschland gefahren. Er hatte als junger Mann lange in Deutschland gelebt und auch dort studiert. Er wollte, dass seine Kinder und Enkelkinder die deutsche Sprache lernten, und hatte deutsche Erzieherinnen und Hauslehrer beschäftigt, die sie ihnen beibringen sollten. Er schüttelte den Kopf über das neue Deutschland, die saure Frucht von Versailles, wie er es nannte. Alix hatte sich bestens unterhalten und sich in Gesellschaft der jüngeren Verwandten von Großpapas Freunden in das bizarre Nachtleben des vergnügungssüchtigen Berlin gestürzt. Sie hoffte, er ahnte nicht, wie sehr sich ihre Altersgenossen von den ernsten, verantwortungsvollen Bürgern unterschieden, die er so gut kannte, auch wenn Großpapa stets die Kunst beherrscht hatte, zu ignorieren, was er nicht ändern konnte. Sie liebte ihn, doch sie wusste, dass ihre Welt und ihre Gewohnheiten für ihn – Gott sei Dank – ein Buch mit sieben Siegeln waren. Er würde sich riesig freuen, wenn sie dieses Jahr nach Wyncrag käme. Der wehmütige Brief, der stets gegen Ende des Jahres von ihm kam und der wie immer einen beträchtlichen Scheck enthielt, drückte sein tiefes Bedauern darüber aus, sie an Weihnachten nicht zu sehen. Sie hatte ihn rasch aufgerissen und gelesen.
Es war dumm. Es war die Jahreszeit, die allgemeine lamettabehängte Langeweile, die verführerische Sentimentalität der Feiertage.
Natürlich würde sie nicht in den Norden fahren. Es war eine blöde Idee.
Und eine Idee, die ihr nie in den Sinn gekommen wäre, hätte sie nicht zufällig Cecy getroffen, die...
Erscheint lt. Verlag | 19.5.2017 |
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Übersetzer | Elvira Willems |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Familie • Familiengeheimnis • Familiensaga • Geheimnis • Lake District • Oberschicht • Vergangenheit |
ISBN-10 | 3-688-10274-6 / 3688102746 |
ISBN-13 | 978-3-688-10274-7 / 9783688102747 |
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