Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe (eBook)
320 Seiten
Tempo (Verlag)
978-3-455-00058-0 (ISBN)
Uwe Kopf, Jahrgang 1956, war u.a. Kolumnist und Textchef der Zeitschrift TEMPO, danach arbeitete er als freier Schreiber für über 80 verschiedene Zeitschriften und Zeitungen, darunter lange für das Magazin Faces und den Rolling Stone. Vielen Lesern war er auch durch seine tägliche Kolumne in der B.Z. bekannt. Uwe Kopf starb im Januar 2017 in seiner Heimatstadt Hamburg.
Uwe Kopf, Jahrgang 1956, war u.a. Kolumnist und Textchef der Zeitschrift TEMPO, danach arbeitete er als freier Schreiber für über 80 verschiedene Zeitschriften und Zeitungen, darunter lange für das Magazin Faces und den Rolling Stone. Vielen Lesern war er auch durch seine tägliche Kolumne in der B.Z. bekannt. Uwe Kopf starb im Januar 2017 in seiner Heimatstadt Hamburg.
Cover
Titelseite
Für Stephan
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Neunundzwanzig
Dreissig
Einunddreissig
Zweiunddreissig
Dreiunddreissig
Vierunddreissig
Fünfunddreissig
Sechsunddreissig
Siebenunddreissig
Achtunddreissig
Neununddreissig
Vierzig
Einundvierzig
Zweiundvierzig
Dreiundvierzig
Vierundvierzig
Fünfundvierzig
Sechsundvierzig
Siebenundvierzig
Achtundvierzig
Neunundvierzig
Fünfzig
Editorische Notiz
Impressum
Vierzehn
Nach bereits drei Wochen sagte Jenny morgens, während sie in ein Franzbrötchen biss und Bulli den Goldhamster streichelte: »Ich kriege ein Baby, kostet 500 Mark«, ich konnte mein Glück kaum fassen, erinnerte sich Tom, nach zwölf Jahren Verlobung endlich die ersten Penetrationen, und dann schwängere ich sofort diese Frau, die Bestleistung meines Lebens, er umarmte und küsste Jenny, als er dann ahnte, was die 500 Mark bedeuteten; »du gibst mir die Hälfte«, hörte er von ferne, »ich gehe wieder in die Tagesklinik am Schanzenbahnhof, da bin ich wegen so einer Sache schon zweimal gewesen, morgens hin, Vollnarkose, Ausschabung, aufwachen, ein bisschen erholen, am Nachmittag komme ich im Taxi nach Hause, dann werde ich zwei, drei Tage ziemlich weinen, dann ist wieder gut, du willst das Kind doch wohl nicht haben?«, fragte Jenny, und Tom hätte die Frage noch ertragen, aber Jenny grinste dabei, nein, natürlich konnte Tom nun nicht antworten: Ja, das wäre die Chance, und sechs Tage später war die Chance ausgeschabt. Tom, ohne Jenny zu informieren, ging zu Mutter und erzählte das Drama, das für Jenny offenbar nur eine Allerweltsangelegenheit war, und Mutter sagte: »Hm, ich würde, wenn ich’s noch mal zu tun hätte, meine fünf Kinder auch ausschaben lassen und so mehr Spaß im Leben haben.«
Nach der Schicht bei der Post schlief Tom gerne noch mal vier, fünf Stunden, bis er nachmittags aufstand, sich nur in Unterhose über die Küchenspüle beugte und Fischfilets von Hawesta (am liebsten mit Eiersenfsoße) aus der Blechbüchse fraß und hinterher zwei Flaschen Bier trank (er trank übrigens nie während einer Mahlzeit, weil Lori mal berichtet hatte, diese Gleichzeitigkeit würde den Darm irritieren). Nach der Ausschabung schlief Tom noch zwei Stunden länger, und wenn er aufstand, hätte er sich gerne mal wieder mit der Rasierklinge belebt, aber er unterließ es, denn er wollte Jenny nicht die Schnitte erklären müssen.
Tom führte Jenny einmal in den Eichtalpark, wo Lori und Dirk Dose wieder ihr Lager aufgebaut hatten, Dirk Dose beachtete Jenny gar nicht, er würde nie wieder eine Frau beachten, aber Lori schien sich für Jenny zu interessieren, zumal sie von der Statur her seiner Aschaffenburger Lebensliebe glich. Jenny stammte aus Husum und erzählte, wie sie in einem Hafenlokal gekellnert hatte, und Lori sagte, er kenne Husum ganz genau, Theodor Storm, der Dichter dieser Stadt, habe ja 1888 den Schimmelreiter geschrieben, Hauke Haien, der Deichgraf und Held der Geschichte, habe als Todesreiter bereits Henry Fonda gegen Mundharmonica in Spiel mir das Lied vom Tod vorweggenommen, ob Jenny jemals darüber nachgedacht habe? (Dirk Dose spuckte einen Schluck Bier neben Jenny, was sie nicht mitkriegte, da sie gebannt war von Lori, der jetzt wirkte wie ein Cineast und Literaturwissenschaftler). Aber Lori verkündete auch die Nachricht, dass sein Vater, das Schwein, gerechterweise an einem Herzinfarkt gestorben war und Lori jetzt nach Freiburg ziehen könnte, denn seine Mutter hatte dort ein Häuschen von einer Tante geerbt, er wolle mit seiner Mutter noch verhandeln, ob Dirk Dose dort im Keller wohnen dürfe (Dirk Dose hätte gedurft, aber er wollte nicht und erfror im Spätherbst 1996 unter einer Brücke am Rheinufer).
Nachdem Jenny bei ihrem Gemüsehändlermann ausgezogen war und die Scheidung verlangt hatte, zögerte sie nicht, bei Tom einzuziehen, obwohl die Wohnung noch nach Tanja roch (Patschuli-Parfüm) und die zwölf Jahre lange Verlobung auf den Räumen lastete. Es war ein Fehler, einfach mit der nächsten Frau dort weiterzumachen, und ich Idiot und Weichling lernte nicht mal aus diesem Fehler, sondern wiederholte und verlängerte ihn bei der nächsten Frau, der letzten Frau.
Was würde Jesus dazu sagen, was ich tue, das fragte ich mich leider immer wieder, so wie mein Bruder Sören fragte, was würde Elvis dazu sagen, wenn mal wieder der Rock ’n’ Roll neu erfunden wurde: Dieses Jesus-Gequatsche verfolgte mich, die wissenden Augen, die Matte mit Mittelscheitel bis auf die Schulter, selten lachen, Wahrheiten aussprechen. Rory Gallagher ist gekommen, um der Welt und den Menschen endlich den Bluesrock zu bringen, ja, das hatte ich wohl nach sieben Flaschen Bier wirklich mal gesagt und auch gemeint, aber eine Bergpredigt habe ich nie gehalten. Lasset die Kindlein zu mir kommen, selig sind die geistig Armen, das sagte Jesus Christus, er könnte unter anderem mich gemeint haben; Sören sagte oft, die Schwachsinnigen seien die Leute, die nicht wissen, wer sie sind, und auch sonst keine Urteilskraft haben – wer Dieter Bohlen oder Thomas Mann oder Leni Riefenstahl mag, muss bescheuert sein, sagte Sören, wobei ich nie begriffen habe, wie die Dreierreihe Bohlen (kannte ich), Thomas Mann (kannte ich aus der Schule) und Leni Riefenstahl (nie gehört) zusammenpassen sollten. Keine Urteilskraft haben, nichts beurteilen können oder wollen, ja, das ist Alltag, ich erinnere mich, wie ich zum ersten Mal mit Jenny in Husum war und ihre Familie besuchte, sogenannte einfache Menschen, die, da sie nicht mehr arbeiten konnten oder keine Lust hatten zu arbeiten, meistens vorm Fernseher lagen, aber meistens schliefen, während der Fernseher lief; Susanne, die Schwester von Jenny, schreckte manchmal hoch und sagte: »Mami, ist das Monster schon tot?«, und dann schlief sie schon wieder, bevor Mami, die wegen der Tochterfrage aufgewacht war, überhaupt die Monsterfrage beantworten konnte und selbst wieder wegnickte.
Aber Husum: immerhin eine Erfahrung, die ich ohne Jenny nicht gemacht hätte, eine Todesstadt wie Venedig, aber Venedig kannte ich nur aus der Ferne, da Sören mich mal gezwungen hatte, den Film Tod in Venedig zu gucken. Da fährt der Komponist Aschenbach nach Venedig, begehrt einen Jüngling, geht zum Frisör und lässt sich zu einer Art David Bowie machen, dann stirbt er am Strand an der Cholera und sieht noch mal den Jüngling, wie er badet. Husum hängt in die Nordsee, einmal pro Jahr kommen die Touristen wegen der Krabbentage, die ganze Stadt riecht dann nach Krabben und Verwesung, obwohl die Krabben auf den Krabbenbrötchen so frisch sind, dass ich dachte, die Krabben bewegen sich noch auf mich zu. Die Husumer scheinen während der Krabbentage verabredet zu haben, keine Würstchen zu essen, die Imbissbudenbesitzer sind verdammt, die Würstchen zu verstecken, die Krabbe triumphiert total, der Dichter Theodor Storm, der gerne ein deutsches Stück Fleisch aß, kann das so nicht gewollt haben. Jenny in Hamburg gewöhnte sich an Extremgerichte wie Labskaus, ein Seemannsmatsch, bei dessen Anblick sich Zugereiste oft erbrechen. Einmal kam Tom früher als sonst von einem Saufabend mit seinen Jungs nach Hause und beobachtete, wie Jenny auf der Bettkante saß und Krabben von einer Scheibe Schwarzbrot saugte und kaute – so hingegeben hatte er seine Freundin nur am Nachmittag gesehen, als sie aus der Kneipe zu ihr gegangen waren. Jenny und ich sind da schon fast vier Jahre zusammen gewesen, und ohne mich vorgewarnt zu haben, sagte sie eines Nachmittags, als ich versuchte, ihren Zwergenhintern durch die Zwergenjeans zu streicheln: »Das gibt’s erstmal nicht mehr, du musst dich verändern, du machst ja nix außer schlafen, rauchen und trinken und Rory Gallagher hören, du bist ja praktisch tot, und ich will leben, ich bin erst 32 Jahre alt!«
Es verstärkte sich ein anderes Problem, denn Jenny entdeckte jetzt Dinge, die ich früher mal gemocht hatte und inzwischen ablehnte, weil ich jenseits der Albernheit war und öfter als 200 Mal pro Tag an den Tod dachte, während der Durchschnittsmann, wie eine Studie ergeben hatte, 200 Mal am Tag an Sex dachte. Jenny amüsierte sich beispielsweise über die Gruppe Torfrock aus Friesland, die hatte gerade ihr Comeback mit dem Hit Beinhart geschafft, Jenny kannte die beiden Torfrock-Chefs von einer Party in Husum und erzählte immer wieder, dass Raymond Voß, der Gitarrist, und Klaus Büchner, der Sänger und Flötist, sich Eiswürfel in einen 100-Mark-Rotwein taten. Beinhart hieß damals auch der erste Film über die Comicfigur Werner, den Büchner spricht, während Voß mit seinem Geschnauze taugt, den Präsi zu beleben. Die Bücher las ich bereits 1981, Rötger Feldmann, der aussah wie ein angetrunkener John Lennon, hatte sich Werner ausgedacht und benutzte den Namen Brösel, »in Husum bin ich einmal mit ihm ausgegangen«, erzählte Jenny, »er ist so lustig und macht einen Witz nach dem anderen«. Am Anfang konnte ich über den Unsinn und die Sprache auch noch lachen, Tass’ Kaff; pump ab, das Bier; hau wech den Scheiß, aber irgendwann wirkte der Kram so, als wären sämtliche Schleswig-Holsteiner aus dem Irrenhaus entlaufen. Das Hausschwein aus den Werner-Geschichten saß auf dem Bett, in dem ich jetzt neben Jenny lag und erstmal nicht mehr an sie ran durfte, denn ich war ja tot, ihrer Meinung nach. »Es geht bei Werner immer um Autos, Motorräder, Rock ’n’ Roll und Flaschenbier«, sagte Jenny und lachte, »aber ganz selten um Frauen.« Ja, das machte den Unterschied zwischen Werner aus Norddeutschland und Bruce Springsteen aus Amerika.
Auf Selbstbefriedigung konnte Tom nicht ausweichen, er schaffte es nie, sich anzufassen, seit er als ungefähr Siebenjähriger mit Tante Lissi am Elbstrand in der Sonne gelegen und eine Frau vom Strandkorb nebenan auf ihn gewirkt hatte: Die Frau hatte viel Busen, viel Po und viel Schenkel, die Haare unter den Achseln kräuselten sich, und Tom merkte, dass Tante Lissi...
| Erscheint lt. Verlag | 11.4.2017 |
|---|---|
| Verlagsort | Hamburg |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Schlagworte | Barmbek • Familie • Familiengeschichte • Hamburg • Humor • Kiez • Norddeutschland • Popliteratur • Reeperbahn • Suizid • Tempo |
| ISBN-10 | 3-455-00058-4 / 3455000584 |
| ISBN-13 | 978-3-455-00058-0 / 9783455000580 |
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