Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de

Man hat ja seinen Stolz (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
288 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-44200-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Man hat ja seinen Stolz -  Corinna Vossius
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
(CHF 9,75)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
In ihrem warmherzig-witzigem Roman, 'Man hat ja seinen Stolz' zeigt Corinna Vossius, dass das Leben jenseits der Achtzig zwar nichts für Feiglinge, aber auch noch lange nicht vorbei ist. Mit Augenzwinkern und viel Respekt für ihre Figuren entwirft sie eine humorvolle Geschichte ums Älter werden, Sterben und Erben. Ihre ungewöhnlichen Heldinnen, die Schwestern Lilli und Berta Berburg, die sich im Alter immer ähnlicher sehen, »teilen« sich einen Platz im Seniorenstift, um sich halbwochenweise aufpäppeln zu lassen, ohne ihr trautes Heim ganz aufgeben zu müssen. Doch als Krankenschwester Ruth sich über das wechselhafte Wesen von ?Frau Berburg? wundert und eine beginnende Demenz befürchtet, ruft das eine Nichte auf den Plan, die schon lange ein Auge auf die Immobilie der beiden Damen geworfen hat. Zum Glück ist Schwester Ruth nicht der Drache, für den Lilli sie hält, und Hilfe annehmen nicht so schlimm, wie Berta befürchtet hat.

Corinna Vossius, 1963 in Darmstadt geboren, lebt seit 1999 mit ihrer Familie in Norwegen. Zurzeit arbeitet sie als Ärztin im Gefängnis und in einem Pflegeheim für suchtkranke Menschen.

Corinna Vossius, 1963 in Darmstadt geboren, lebt seit 1999 mit ihrer Familie in Norwegen. Zurzeit arbeitet sie als Ärztin im Gefängnis und in einem Pflegeheim für suchtkranke Menschen.

Kapitel 1


Lilli

Doktor Schreiner ist ein Idiot, eine aufgeblasene Kröte, ein arroganter Pinsel, und er kann nichts.

»Lauf die Treppen nicht so schnell hinauf!«, ruft Berta von unten. »Nachher hast du es dann wieder mit dem Herzen.«

Mühsam kommt sie hinter mir her. Der Weg von der Straßenbahn ist ihr schwergefallen.

»Lass uns ein Taxi nehmen«, habe ich vor Dr. Schreiners Praxis vorgeschlagen.

Und Berta hat wie immer gesagt: »Für mich ist es kein Problem, mit der Tram zu fahren. Aber ganz wie du willst.«

Meistens bin ich nett und entscheide mich für ein Taxi. Aber heute hatte ich zu schlechte Laune und bestand auf die Straßenbahn. Der Fahrer wurde fast böse, denn er musste extra aussteigen, um uns beiden die hohen Stufen hochzuhelfen, erst der einen, dann der anderen. Früher konnte man nur darauf hoffen, dass ein anderer Fahrgast so freundlich wäre, aber seit ein paar Jahren sind die Fahrer dazu verpflichtet, Alten, Behinderten und Müttern mit kleinen Kindern zu helfen. Früher allerdings hat uns das Einsteigen auch noch nicht so viel Mühe gemacht.

Berta schnauft in die Wohnung hinein und schließt sorgfältig ab, beide Schlösser, oben und unten. Sie lebt in dem festen Glauben, dass die Mieter über und unter uns nur darauf warten, uns auszurauben. In diesem Falle hätten sie allerdings die letzten zehn bis zwanzig Jahre auf eine passende Gelegenheit gewartet und wirklich Geduld bewiesen.

»Du hast deine Schuhe nicht ins Regal gestellt«, sagt sie. »Dir mögen zwar die Knie weh tun, aber mit meinem Rücken kann ich mich auch nicht mehr bücken. Und häng deinen Stock in die Garderobe, sonst fällt noch jemand darüber.«

Ich sage nichts dazu, denn ich weiß, dass sie das am meisten ärgert.

Berta ist meine Schwester, meine ältere Schwester, um genau zu sein, und wir kennen uns schon lange. Sie findet Dr. Schreiner einen gutaussehenden jungen Mann mit begnadeten Händen. Ich finde, er ist ein fünfzigjähriger, geldgieriger Orthopäde mit Tränensäcken vom Rauchen und einem Hängebauch vom Trinken. Aber ich gehe trotzdem immer wieder zu ihm. Einerseits, um Berta eine Freude zu machen, und andererseits, weil die anderen Orthopäden auch nicht besser sind. Nur Frauenärzte sind mir noch unsympathischer, aber bei einem Frauenarzt bin ich sowieso schon ewig nicht mehr gewesen. Ich brauche keine Vorsorgeuntersuchungen mehr, finde ich. Mit über achtzig kann ich genauso gut an Krebs sterben wie an etwas anderem. Aber ich finde es ärgerlich, dass mein Körper auf dem Weg zum Tod schon stückweise aufgibt. Wie auf einer Busreise, wo die meisten Fahrgäste bereits vor der Endstation aussteigen.

Meine Knie zum Beispiel sind zwei dicke, schmerzende Beulen, die weder zum Gehen noch zum Stehen taugen, und die mir im Weg sind, wenn ich mir die Schuhe binden will. Dr. Schreiner sagt, das ist das Alter. Das weiß ich selber. Und er sagt, mein Herz sei zu schwach für eine Operation. Dann lehnt er sich zurück, froh darüber, dass er fünfunddreißig Jahre jünger ist als ich, und fest davon überzeugt, dass ein großartiger Mann wie er sowieso nicht so hemmungslos altern wird wie wir, und er schreibt mir eine Packung Ibuprofen auf.

»Ach nein«, sagt er gleich darauf, »das sollen Sie mit Ihrem Herzen ja auch nicht nehmen. Tja, da bleiben wohl nur Paracetamol und warme Wickel.« Und er hält mir und meiner Schwester die Türe auf, froh, uns von hinten zu sehen. Für seinen Geschmack verlassen wir sein Sprechzimmer viel zu langsam. Zeit ist Geld, und während wir hinausschlurfen, verdient er keines.

 

Mit Orthopäden kenne ich mich aus. Bis zu meiner Pensionierung habe ich als Sprechstundenhilfe bei einem gearbeitet. Zuerst war ich allerdings bei einem Urologen. Dr. Kampmann. Das war nach dem Krieg. Dr. Kampmann war einer der Ersten, der sich wieder eine Praxis aufbaute. Ich hatte Glück, dass er mich damals nahm, denn ich hatte eigentlich gar keine richtige Ausbildung, nur ein bisschen Steno und Schreibmaschine, aber Dr. Kampmann war ein Bekannter meines Vaters. Später, als er seine Praxis zumachte, war es kein Problem mehr, eine Stelle zu finden. In den Sechzigern gab es genügend Arbeit. Ich wechselte damals in die orthopädische Praxis Schuhmacher, weil sie günstig gelegen war. Ich konnte zu Fuß hingehen. Da war ich schon über vierzig, und es war unwahrscheinlich, dass ich noch heiraten und umziehen würde. Und warum sollte ich es den Rest meiner Berufszeit nicht bequem haben?

Dr. Schuhmacher erfüllte sorgfältig jedes Klischee, das man von einem Orthopäden haben konnte. Er machte Ferien in Italien, er spielte Tennis, und er war sorgfältig gebräunt. Außerdem schlief er mit seinen Sprechstundenhilfen. Natürlich nicht mit mir, aber mit den jungen. Der Doktor und ich konnten einander nicht ausstehen, doch die Praxis hielt ich ihm tipptopp in Ordnung. Und da er die anderen Sprechstundenhilfen nach Gebrauch auswechseln musste, war ich die Einzige, die sich wirklich auskannte. Ab und zu erwog ich zu kündigen. Doch letztendlich war ich zu faul dazu. Ich wusste, was ich an Dr. Schuhmacher hatte, im Guten wie im Schlechten. Immerhin musste ich mich nicht bemühen, nett zu ihm zu sein, so wie all die anderen Mäuschen, die bei ihm hinein- und hinaushuschten. Ich verdarb ihm also konsequent die Laune – bis ich mit zweiundsechzig in Rente ging. Da war der Doktor auch schon nicht mehr so viril wie früher. Du meine Güte, das ist über zwanzig Jahre her.

 

Berta und ich sind in der Paul-Ehrlich-Straße geboren, und ich habe mein ganzes Leben lang hier gewohnt. Das Haus hat vier Stockwerke in guter Lage. Die Paul-Ehrlich-Straße ist weit genug von der Kennedyallee entfernt, um vor Verkehrslärm geschützt zu sein. Den Krieg hat sie fast unbeschadet überstanden. Überhaupt hat meine Familie den Krieg fast unbeschadet überstanden. Ein paar Verwandte sind gestorben, aber niemand, den wir sonderlich mochten. Die Zeit nach dem Krieg war schlimmer.

Schon meine Kindheit war eine Nachkriegszeit. Für uns war es die Zeit nach dem Großen Krieg. Nicht die paar Jahre vor dem nächsten. Mein Vater war Chirurg, deswegen wohnten wir auch so nah am Klinikum. Für die Chirurgie waren die zwanziger und dreißiger Jahre goldene Zeiten, und mein Vater war mit Leib und Seele Arzt. Um Politik kümmerte er sich nicht. Aber ich nehme mal an, dass ihm der Nationalsozialismus den einen oder anderen Konkurrenten aus dem Weg räumte, denn wir waren Arier bis in die dritte Generation. Wahrscheinlich noch länger.

Die zweite Nachkriegszeit traf uns sehr viel härter. In meiner Erinnerung ist es immer kalt, selbst wenn das ja schlecht sein kann. Und ich stehe immer für irgendetwas Schlange. Wir konnten die Wohnung nicht heizen. Nichts Anständiges zu essen kochen. Kaputte Schuhe waren eine Katastrophe. In dem strengen Winter 1946/47 starb mein Vater an einer Lungenentzündung, ausgekühlt und abgemagert, wie er war. Nur wenige Jahre später hätte es Penizillin gegeben, doch damals konnten wir nichts tun. Meine Mutter tauschte eine Rubinbrosche gegen einen Sarg, der, ehrlich gesagt, gebraucht aussah.

Im Jahr nach Vaters Tod bekamen wir noch Lebensmittelmarken. Aber nach der Währungsreform mussten wir plötzlich Geld verdienen, und die Einzige in der Familie, die etwas gelernt hatte, war ich. Mein großer Wunsch war es immer gewesen, Medizin zu studieren. Oder wenigstens Krankenschwester zu werden. Stattdessen hatte ich 1943, als ich mit der Schule fertig war und doch irgendetwas anfangen musste, einen Kurs für Schreibmaschine und einen für Stenographie belegt. An eine richtige Ausbildung war wegen des Krieges nicht zu denken, weder Sekretärin noch Krankenschwester und erst recht nicht Medizin. Nur diese Kurse. Jahrelang lebten wir alle drei von dem Gehalt, das ich bei Dr. Kampmann bekam. Viel war es nicht, aber viel gab es ja auch gar nicht zu kaufen. Zum Glück hatten wir das Haus und mussten daher keine Miete bezahlen. Meine Mutter hatte sich ganz der Trauer um meinen Vater ergeben. Berta war intensiv auf der Suche nach einem Ehemann. Ich hielt die Familie zusammen und ernährte sie. Ich besorgte mir sogar einen alten Werkzeugkasten, mit dem ich einfache Reparaturen in der Wohnung und bei unseren Mietern selbst ausführte. Das heißt, Miete zahlte damals kaum einer, wovon auch. Aber wir waren gezwungen, den Wohnraum zur Verfügung zu stellen, und konnten noch froh sein, dass wir keine Einquartierungen in die eigene Wohnung bekamen.

Statt Ärztin zu werden, habe ich es also nur zur Sprechstundenhilfe gebracht. Direkt nach dem Krieg fand man sich leichter damit ab, dass einem das Leben nicht jeden Wunsch von den Augen ablas, aber ich habe weder den Beruf ergreifen können, den ich mir wünschte, noch konnte ich heiraten und Kinder bekommen. 1950, als es langsam wieder bergauf ging, war ich bereits siebenundzwanzig Jahre. Selbst wenn die paar ledigen Männer, die es noch gab, gerne mit mir flirteten, als spätere Mutter ihrer Kinder sahen sie mich nicht. Ich war zu alt. Es gab genügend jüngere Mädchen, die dazu auch noch bessere Hausfrauen waren. Kleine Küchenfeen. Das war übrigens nicht schwer. Ich habe nie gerne gekocht, und das musste ich auch nicht. Denn wenn ich abends von der Arbeit kam, stand das Essen auf dem Tisch, und hinterher erledigten meine Mutter und Berta den Abwasch. Ich verdiente das Geld. Für Putzen, Einkaufen, Kochen und Waschen war ich nicht zuständig. Das fanden die Männer zwar interessant, aber in der eigenen Küche wollten sie so jemanden dann doch nicht haben. Und ich hätte auch nicht jeden genommen. Warum sollte ich?

Erst viele Jahre später, als ich endgültig eine alte Jungfer geworden war, da tat es mir leid. Da hätte ich eine Zeitlang alles für einen Ehemann...

Erscheint lt. Verlag 31.3.2017
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alter • Altersheim • Freundschaft • Heiterer Roman • Humor • Komödie • Rollentausch • Schwestern • Senioren • Verwechslung • Witz
ISBN-10 3-426-44200-0 / 3426442000
ISBN-13 978-3-426-44200-5 / 9783426442005
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 679 KB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
CHF 20,50
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
CHF 12,65
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
CHF 12,65