So, und jetzt kommst du (eBook)
352 Seiten
Tropen (Verlag)
9783608100792 (ISBN)
Arno Frank, geboren 1971, ist Publizist und arbeitet als freier Journalist vor allem für den SPIEGEL, die taz und den Deutschlandfunk. Er lebt in Wiesbaden. Zuletzt erschienen von ihm die Romane So, und jetzt kommst du (2017) und Seemann vom Siebener (2023).
Arno Frank, geboren 1971, ist Publizist und arbeitet als freier Journalist vor allem für den SPIEGEL, die taz und den Deutschlandfunk. Er lebt in Wiesbaden. Zuletzt erschienen von ihm die Romane So, und jetzt kommst du (2017) und Seemann vom Siebener (2023).
Lärchenweg
Gedrängt wie vier Freunde auf der Rückbank eines Autos standen die Häuser in unserer kleinen Straße nebeneinander, Schulter an Schulter. Mehr Häuser gab es dort nicht, vier Winkel zum Glücklichsein aus dem Baukasten einer sachlichen Moderne zwischen alten Lärchen. Darunter mein Elternhaus, ein unvordenklicher Unterschlupf.
Gebaut hatte diese Häuser in den Sechzigerjahren mein Opa väterlicherseits, nachdem er Südfrankreich mit Flugplätzen zugepflastert und sich mit seinem Architekturbüro in diesem Örtchen bei Kaiserslautern niedergelassen hatte. Kurz vor seinem Tod ließen meine Eltern mich auf seinen Namen taufen. Was ihm vielleicht eine letzte Freude war, blieb mir diffuse Verpflichtung. Einer Leerstelle kann man nicht nacheifern, man kann sie höchstens mit Phantasie füllen. In meiner Vorstellung hatte daher wirklich er die Häuser ganz alleine errichtet. Gruben ausgehoben, Zement angemischt, Rohre verlötet, Kabel verlegt, Steine geschichtet, Dächer gedeckt.
Ein altes Foto zeigte noch eine planierte Fläche, wo später mit getünchter Selbstverständlichkeit die Häuser stehen sollten. Die Baustelle hatte gezackte Ränder und leuchtete karamellfarben, als hätte damals wirklich ein glücklicheres Licht auf den Dingen gelegen. Männer mit gebräunten Oberkörpern; einer davon schmächtig, die Hände in den Hosentaschen, mein Vater. Daneben, halb angeschnitten, eine imposante Frau mit Hornbrille und rotem Kopftuch, der sichtbare Ärmel hochgekrempelt, seine Mutter.
Das glückliche Licht, die Menschen und das Foto selbst sind verschwunden. Aber die Häuser, die sind alle noch da. Ein hölzerner Carport für die Autos, frische Blumenbeete, ein neuer Wintergarten nach hinten raus, ausgebautes Dachgeschoss, Satellitenschüsseln – mehr hat sich nicht verändert in all den Jahren. Bewohnt werden sie heute von anderen Familien, glücklicheren oder auf ihre Weise unglücklichen. Sie bewähren sich, diese Häuser. Wirksam halten sie für ihre neuen Bewohner das große Draußen auf Distanz, als lenkten sie sogar die Zeit selbst um sich herum. Vielleicht stehen sie in einem günstigen Winkel zu ihrem Fluss.
Anders als die Eltern meiner Mutter, die ich ganz vertraut »Oma« und »Opa« nannte, blieb die Mutter meines Vaters die »Großmutter«. Oder Bärbel, mit einem Dutt wie ein Handball und einem »eigenen Leben«, das sie so beharrlich gegen Übergriffe verteidigte wie eine kleine Nation ihre Grenzen. Obwohl Bärbel im Haus direkt neben uns wohnte, kam sie uns nur selten besuchen. Bei ihr gab es nie Kaba, nur Ovomaltine, die sie aber stur »Kakao« nannte und die nach Enttäuschung schmeckte. Während Oma Julia tütenweise Süßigkeiten anschleppte, Haribo, Mambo, Milka, hatte Großmutter Bärbel gute Ratschläge im Gepäck. Und den Drang, meine Mutter zum Lesen skurriler Literatur zu verführen. Doris Lessing, Anaïs Nin, Germaine Greer. Einmal lag Die Welt der schönen Bilder als zerlesenes Taschenbuch auf unserem Esszimmertisch, und meine Mutter lauschte mit großen Augen ihrer Schwiegermutter, wie sie mit dem Finger auf den Umschlag tippte: »Simone de Beauvoir musst du unbedingt lesen, Jutta, das handelt von dir. Es handelt von unserer ganzen kippenden Welt, die nur noch aufs Geld schaut. Nicht nach rechts oder links, nur aufs Geld.« Das Buch gammelte danach ewig auf dem Nachttisch meiner Mutter, begraben unter Stapeln von Groschenheften, deren Heldinnen »Silvia« hießen oder »Sibylle« und hin und wieder ganz gerne aufs Geld schauten.
Mich nahm Bärbel gerne prüfend ins Visier: »Ganz der Vater, ganz der Vater …«
Dann streichelte Mutter meinen Nacken und sagte: »Ja, oder?«, aber Bärbels Blick verriet, dass sie es nicht als Kompliment gemeint hatte.
Wenn mich mal wieder eine Mittelohrentzündung plagte, dieser bohrende Schmerz im Schädel, dann machte Bärbel mir Wickel aus Zwiebeln und setzte mich vor die Infrarotlampe. Dazu kochte sie mir Fleischwurst mit Blumenkohl. Ihre Zuwendung war robust und patent und Wehleidigkeit keine Option. Im Weltkrieg war sie Krankenschwester gewesen, Feldlazarett. Erst im Westen, dann im Osten, immer knapp hinter allen Fronten. Damals musste sie sich eine Abgeklärtheit angeeignet haben, die ihr in ihrer zivilen Existenz als Hebamme am Krankenhaus in Kaiserslautern gute Dienste leisten sollte: »Im Krieg half ich Menschen beim Sterben, danach half ich ihnen auf die Welt.«
Tagelang schauten wir die Olympischen Spiele in Los Angeles, später stritten wir über den jungen sowjetischen Präsidenten. Bärbel war der festen Meinung, dass dessen Frau Raissa die Zügel in der Hand hielte, was ich mir nicht vorstellen konnte, womit ich Großmutter noch mehr reizte: »Bist auch so ein kleiner Macho, was? Kannst dir nicht vorstellen, dass die Welt nicht allein den Männern gehört, oder?«
Am Fernsehen hasste sie, was ich daran liebte. Die Klamottenkiste etwa und diese alten Western mit Fuzzi, der im Vorspann ein Loch in den Bildschirm schießt. Sie war imstande, sich mitten in der Sendung aus ihrem Sessel zu wuchten und »diesen amerikanischen Zappelquatsch« auszuschalten. Nicht anders war es mit dieser schwedischen Serie, in der ein Junge auf dem Dachboden eine braune Cordhose findet, in deren Taschen immer Geldscheine stecken. Egal, wie viel er daraus entnimmt, das Geld geht ihm nie aus. Der Junge möchte Gutes damit tun, aber bald haben es Ganoven auf die Hose abgesehen. Ich erfuhr nie, wie die Serie ausging, aber verdammt, solche Hosen hätte ich auch gerne gehabt.
Wenn Bärbel den Fernseher überhaupt aus freien Stücken einschaltete, dann nur für die Tagesschau. Und Telekolleg-Sendungen im Dritten, wo blasse Mathematiker in schlammfarbenen Pullovern schleierhafte Grafiken und Vektoren benäselten. Früher oder später zeigte mir ein sanftes Schnorcheln an, dass auch die Aufmerksamkeit meiner Großmutter nicht unerschöpflich war.
Zum Einschlafen bestand sie darauf, mir aus den Büchern vorzulesen, die sie selbst gelesen hatte. Die »Stellen« für mich waren mit Eselsohren markiert. »Wir brauchen keine ausgedachten Geschichten«, verfügte Bärbel und fütterte mich mit Anekdoten, die Tacitus über die Germanen zu berichten wusste, Herodot über den Vogel Phönix in Ägypten, Thukydides über die Pest in Athen – was mir ausreichend ausgedacht vorkam. Bisweilen zögerte sie beim Vorlesen, wenn sie nach verständlicheren Worten suchte oder allzu schwierige Absätze ganz übersprang. Sobald sie mal etwas länger zögerte, nutzte ich die Chance und schlief an ihrer weichen Schulter ein.
Der Lärchenweg wäre ein Ort, über den ich gerne Karamell gießen würde. Ich würde ihn über den Spielplatz mit Rutsche und eisernem Drehpilz und die Schaukel im Sandkasten vor den Häusern gießen. Im Frühling umbrummten mich dort die Hirschkäfer wie winzige Helikopter in Kopfhöhe. Wunder warteten direkt um die Ecke. Eines Tages stemmte ich aus Langeweile eine der grauen Schieferplatten hoch, die auf dem Gehweg vor unserem Haus verlegt waren. Darunter entdeckte ich auf einer wie glattgebügelten Fläche lehmiger Erde ein aberwitziges Gewirr von Straßen und Kanälen, die eben noch Tunnel gewesen waren und in denen ein ganzes Volk bernsteinfarbener Ameisen umherwimmelte. In einer versteckten Welt, die ohne mein Wissen immer schon unter meinen Füßen existiert hatte und als deren gütiger Gott ich mich fühlen durfte. Behutsam, um die geheime Bevölkerung darunter nicht weiter zu beunruhigen, ließ ich die Platte wieder herab.
Einmal lief ich im Sandkasten einem anderen Kind in die Schaukelbahn und schleuderte gegen die niedrige Umzäunung aus Holzpfählen. Zu Hause tupfte mir Mama die Tränen weg, versorgte die kleine Schürfwunde im Gesicht und setzte mich vor den Fernseher. Als Papa nach Hause kam, hörte ich ihn schon im Flur fluchen. Das war seltsam, denn zwischen meinen Eltern wurde es sonst selten laut. Zumindest bekam ich nie etwas davon mit. Vielleicht stellten Mama und Papa sich den Wecker, um ihre Streitigkeiten nachts im Flüsterton auszutragen. Jetzt rauschte Mama durchs Wohnzimmer und sagte im Vorübergehen: »Vorsicht, dein Vater ist geladen! Habe ihm gesagt, was passiert ist …«
Geladen, das war nicht gut. Wenn Papa geladen war, stellte er Fragen, auf die ich keine Antwort wusste. Wenn ich etwas Dummes angestellt hatte, gab es Kopfnüsse mit dem Knöchel. Keine Schläge, darauf legte er wert. Nur Beulen. Aber was könnte denn diesmal so Schlimmes »passiert« sein? Da stand er schon, die Lippen ganz straff und schmal, neben mir im Wohnzimmer.
»Was läuft?«
»Die bezaubernde Jeannie«, sagte ich.
Unverwandt starrte er mich an. Ich starrte wie...
| Erscheint lt. Verlag | 1.3.2017 |
|---|---|
| Verlagsort | Stuttgart |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Schlagworte | 80er Jahre • Adoleszenz • Deutschland • Familie • Familiengeschichte • Flucht • Gegenwartsliteratur • Geschwister • Hochstapler • Liebe • Roadmovie • Roman • Südfrankreich |
| ISBN-13 | 9783608100792 / 9783608100792 |
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