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Der magnetische Norden (eBook)

Gespräche mit Ellen Hinsey. Erinnerungen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
656 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75099-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der magnetische Norden - Tomas Venclova
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Er hat sie alle noch gekannt: Joseph Brodsky und Czes?aw Mi?osz ebenso wie Wis?awa Szymborska, Anna Achmatowa, Boris Pasternak und die sowjetischen Dissidenten. Als Kind erlebte Tomas Venclova die Okkupation seiner Heimat - erst durch die Sowjets, dann durch die Nazis. Sein Hunger nach Welt war unstillbar: Er ging nach Leningrad, lernte Sprachen, befasste sich mit der modernen Poesie und geriet als Übersetzer und Dichter früh ins Visier des KGB. 1976 gehörte er zu den Mitbegründern der litauischen Helsinki-Gruppe für Menschenrechte. Während eines Aufenthaltes in den USA wurde ihm 1977 die sowjetische Staatsbürgerschaft entzogen. Er lehrte bis 2012 an der Yale University und lebt seit 1990 auf zwei Kontinenten - ein Emigrant, der am unabhängigen Litauen zu viel auszusetzen hatte, um in sein Heimatland zurückzukehren, und sein Exil als 'Glücksfall' empfand.

In Gesprächen mit seiner Dichterkollegin und Übersetzerin Ellen Hinsey rekapituliert er sein Leben und lässt das 20. Jahrhundert wiederauferstehen: Ob es um Freundschaften geht oder um Fragen der Poesie, ob er über die Politik der Großmächte oder über die verwickelte Geschichte Mittelosteuropas spricht - Venclovas Klugheit und Selbstironie geben dieser großen europäischen Erzählung von Entwurzelung und Heimatlosigkeit etwas heiter Gelassenes.

»Venclova ist ein nördlicher Dichter, geboren und aufgewachsen an der Ostsee, diese Landschaft ist monochrom, Grauschattierungen herrschen vor ? das Licht des Himmels, zu Dunkelheit verdichtet. Beim Lesen finden wir uns in dieser Landschaft wieder.« Joseph Brodsky



Tomas Venclova, 1937 in Klaipéda geboren, lebt seit 1977 in den USA und lehrt russische Literatur in Yale. Sein lyrisches und essayistisches Werk wurde vielfach übersetzt und ausgezeichnet. Venclova lebt in New Haven und Vilnius.

Tomas Venclova, 1937 in Klaipéda geboren, lebt seit 1977 in den USA und lehrt russische Literatur in Yale. Sein lyrisches und essayistisches Werk wurde vielfach übersetzt und ausgezeichnet. Venclova lebt in New Haven und Vilnius. Claudia Sinnig, geboren 1965, aufgewachsen in Gotha. Bis 1988 Studium der russischen und englischen Sprache und Sonderstudium der litauischen Literatur in Leipzig. Ab Herbst 1989 Doktorandin an der Universität Vilnius, Mitbegründerin der Lithuanian Review, der ersten unzensierten englischen Zeitung in Litauen. Ab 1990 im Pressebüro von Parlamentspräsident Landsbergis tätig. 1992 Promotion, seither freie Autorin und Übersetzerin. Veröffentlichungen zur litauischen und russischen Literatur und Gegenwartskunst, Mitarbeit beim Kulturradio des russischen Diensts der BBC. 2002 erschien Litauen. Ein literarischer Reiseführer. Claudia Sinnig lebt in Berlin. Tomas Venclova begegnete sie zum ersten Mal 1999 in Moskau, wo sie auch die Herausgabe seines ersten russischen Lyrikbands vorbereitete. Seither zahlreiche Übertragungen seiner Gedichte und Essays (u.a. in Wespennest, die horen, Sprache im technischen Zeitalter, Osteuropa) sowie von Vilnius. Eine Stadt in Europa (2006).  

Der magnetische Norden – Eisen und Anmut
von Ellen Hinsey

In seiner Einführung zu den Charles-Eliot-Norton-Vorlesungen für Poesie an der Harvard-Universität unterstrich Czesław Miłosz die Tatsache, dass das zwanzigste Jahrhundert – »proteushafter und vielgestaltiger als jedes andere« – sein Erscheinungsbild nicht nur in Abhängigkeit vom eigenen Blickwinkel wechselt, sondern auch in Abhängigkeit von den unbeständigen Koordinaten des Längen- und des Breitengrads – »den geographischen [Blickwinkel] eingeschlossen«. Miłosz führt weiter aus:

»Mein Winkel Europas ermöglicht aufgrund der dort stattfindenden außerordentlichen und todbringenden Ereignisse, für die nur verheerende Erdbeben die passende Metapher scheinen, eine besondere Perspektive, der zufolge alle, die von dort stammen, die Poesie unseres Jahrhunderts etwas anders zu beurteilen pflegen als die Mehrheit meiner Hörer: sie suchen in dieser Poesie einen Zeugen und Teilnehmer an der großen Umwandlung, die die Menschheit erlebt.«1

Tomas Venclova, der unter demselben Himmel aufgewachsen ist und dieselbe Universität besucht hat wie Miłosz, wenngleich in der umgetauften litauischen Hauptstadt Vilnius, hätte diese Zeilen ohne weiteres selbst schreiben können. Die »besondere Perspektive«, die Miłosz nur vage andeutet, ist eine fast achthundert Jahre alte intellektuelle Tradition, mit ihrer spezifischen, reichhaltigen und komplexen Identität und Geschichte. Und während der Erdball, wie uns John Donne erinnert, eine perfekte Kugel ist, einer Träne gleich, bleibt es ein menschliches Kuriosum, dass gewisse loci auf der Erde als weiter entfernt vom »Zentrum« wahrgenommen werden, selbst wenn ihr Magneterz einige der gewaltsamsten Erdbeben der Geschichte überdauert hat. Dieser Umstand – ergänzt durch das systematische Schweigen des Totalitarismus – hat für die Schriftsteller der »Grenzräume« Osteuropas zu der Notwendigkeit geführt, dessen Topographie zu erläutern, zu versuchen, die Konturen dieses kritischen kulturellen und geopolitischen Punktes im Raum zu erhellen. Hierbei ist die Poesie tatsächlich ein wesentlicher Zeuge und Teilnehmer gewesen.

Venclova ist diese Aufgabe zuteilgeworden, weil sein Leben einige der dunkelsten seismischen Bewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts durchlaufen hat. Geboren 1937 in Klaipėda, Litauen, auf dem Höhepunkt von Stalins Großem Terror, hat Venclova seine frühe Kindheit zunächst in Kaunas verbracht, dann in Freda, einem Vorort, im Haus von Merkelis Račkauskas, seinem Großvater mütterlicherseits. Nach Ausbruch des sowjetisch-deutschen Krieges 1941 wurde Venclovas Mutter, Eliza Venclovienė, von den Nazis verhaftet, und sein Vater, der Schriftsteller Antanas Venclova, damals Bildungsminister der litauischen Sowjetrepublik, wurde nach Moskau evakuiert.

Diese ersten Umbruchserfahrungen sind für Venclova bis heute von Bedeutung, wie etwa der Heimweg nach seinem ersten Schultag, als er sich in den Nachkriegsruinen von Vilnius verirrte. In diesen Augenblicken schon war für Venclova das chaotische Potenzial der Geschichte sichtbar geworden – das, was Jan Patočka als Erlebnis der »Erschütterung« bezeichnet. Zugleich jedoch barg dieses Terrain noch immer die Überreste einer einst kohärenten Welt. Als Venclova in der späten Stalinzeit erwachsen wurde, begannen diese Relikte auf ihn wie ein Zeichen zu wirken, das von »etwas sprach […] und Ansprüche« stellte. Aus dieser Herausforderung sollte ein Lebenswerk der intellektuellen Bergung und Wiederherstellung erwachsen.

Trotz der Position von Venclovas Vater als Teil der sowjetischen Nomenklatura brach Venclova 1956, nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands, mit der in seiner Umgebung herrschenden Ideologie. Es war in dieser Periode, dass er seinem Gefühl, die Sowjetunion der Nachkriegszeit sei »aus den Fugen«, eine poetische Stimme zu geben begann. Bald schon kursierten seine Gedichte; im dritten Studienjahr warf ihm der litauische Schriftstellerverband antisowjetische Tendenzen vor – eine Tatsache, die Venclova nicht in Abrede stellte. Während seiner Aufenthalte in Moskau und Leningrad in den sechziger Jahren suchte er die Gesellschaft von gleichgesinnten Schriftstellern: Menschen, die noch mit dem sogenannten Silbernen Zeitalter verbunden waren wie Boris Pasternak, Anna Achmatowa und Nadeschda Mandelstam, aber auch Dichter der jüngeren Generation, darunter Joseph Brodsky und Natalja Gorbanewskaja. Venclova reiste auch nach Tartu, um Kontakt zu Juri Lotman zu knüpfen, dessen Untersuchungen zur strukturellen Poetik und Semiotik einen bedeutenden Einfluss auf sein Werk ausüben sollten. 1972 erhielt Venclova die Genehmigung zur Veröffentlichung von Sprachzeichen, seinem einzigen Gedichtband, der in Sowjetlitauen erschienen ist.

In der Stagnationszeit der Breschnew-Ära engagierte sich Venclova zunehmend in der litauischen und der sowjetischen Dissidentenbewegung. 1975 verfasste er einen offenen Brief an das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Litauens, in dem er seine Ansichten über das kommunistische System darlegte und das Recht auf Emigration einforderte. Dieser riskante Schritt hatte die politische Ausgrenzung zur Folge und gefährdete seinen Lebensunterhalt; überdies bestand die Möglichkeit, wegen »Sozialparasitismus« angeklagt zu werden, wie es Joseph Brodsky ergangen war, der 1964 auf diese Weise vor Gericht gebracht und verurteilt wurde. 1976, ein Jahr nach der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki, gehörte Venclova zusammen mit Viktoras Petkus, Eitan Finkelstein, Ona Lukauskaitė und Karolis Garuckas zu den Gründungsmitgliedern der litauischen Helsinki-Gruppe. Wegen seines öffentlichen Widerstands gegen das System und seines Engagements für dissidentische und »unsowjetische« kulturelle Aktivitäten erreichte Venclovas ohnehin schon angespanntes Verhältnis zu den Machthabern einen kritischen Punkt.

Bereits seit März 1971 war die Ausreise von sowjetischen Juden stillschweigend erleichtert worden, um unmittelbar vor dem vierundzwanzigsten Parteitag der KPdSU politische Gegner loszuwerden, entweder durch Ausweisung oder indem man ihnen die Emigration »nahelegte«. Mitte der siebziger Jahre sollte diese Taktik flächendeckend zur Demontage der sowjetischen Dissidentenbewegung genutzt werden. Nach seiner Rückkehr von der Moskauer Pressekonferenz am 1. Dezember 1976, bei der die Gründung der litauischen Helsinki-Gruppe verkündet wurde, luden die litauischen Machthaber Venclova vor und »empfahlen« ihm die Emigration – ein Schicksal, das er mit anderen bedeutenden Aktivisten teilte, darunter Juri Orlow, Ljudmila Alexejewa, Pawel Litwinow und Andrei Amalrik. Venclova hatte zu jenem Zeitpunkt keine Kenntnis davon, dass der offizielle Beschluss, ihn auszuweisen, auf höchster Ebene in Moskau getroffen und von Juri Andropow unterzeichnet worden war, dem damaligen Vorsitzenden des Komitees für Staatssicherheit (KGB). In einem Dokument vom 20. Januar 1977, das Maßnahmen gegen vier Dissidenten – Juri Orlow, Alexander Ginsburg, Mykola Rudenko und Venclova – festlegt, heißt es, Venclova solle die Emigration gestattet, über sein Schicksal jedoch »auf Grundlage seines Verhaltens im Ausland entschieden« werden.2

Nach seiner Ankunft in den USA am 25. Januar 1977 setzte Venclova sein politisches Engagement fort und sagte vor dem Komitee für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa über die religiöse und politische Unterdrückung in Sowjetlitauen aus. Der Einladung von Czesław Miłosz folgend, ein Semester an der University of California zu lehren, zog Venclova vorläufig nach Berkeley. Fünf Monate später wurde ihm »aufgrund von Aktivitäten, die den Ruf eines Sowjetbürgers beflecken«, die sowjetische Staatsbürgerschaft entzogen – Venclovas Exil in den USA begann. In Litauen war er unmittelbar nach der Emigration zur »Unperson« geworden: seine Bücher (in Buchhandlungen ohnehin nicht erhältlich) wurden aus den Bibliotheken entfernt. Und doch sollte sich Venclovas Exil, wenngleich es mit Herausforderungen belastet war, als Glücksfall für die Weltliteratur erweisen, wie bei Miłosz. In dieser Periode ist eine ganze Reihe von Venclovas wichtigsten Lyrikbänden, Essays und journalistischen Schriften erschienen, in denen er sich häufig mit verfolgten Autoren befasst. Wie andere litauische, polnische und russische Emigranten fand auch Venclova Zuflucht in der amerikanischen intellektuellen Gemeinschaft und begann ab 1980 eine herausragende Karriere als Professor an der Yale University.

Im vorliegenden Dialog werden die persönliche, die politische und die literarische Geschichte miteinander verwoben. Dieses Verfahren ist beabsichtigt, da Venclovas Leben und Schaffen auf komplizierte Weise mit seiner Epoche verquickt ist und mit den Herausforderungen, vor die er sich gestellt sah. Aus diesem Grund stößt man neben der Erkundung von Ereignissen und Erfahrungen auf eine parallel verlaufende moralische Untersuchung, die zu einem basso continuo des Buches geworden ist. Für den Magnetischen Norden ist die Frage wesentlich, wie es unter den real existierenden Bedingungen von Totalitarismus und Autokratie möglich war, ein Leben in Würde zu leben. Venclova beschreibt die Versuche, die er und seine Freunde unternommen haben, der...

Erscheint lt. Verlag 8.3.2017
Übersetzer Claudia Sinnig
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Dissens • Erinnerungen • Exil • Helsinki-Gruppe • Litauen • Lyrik • Nordamerika (USA und Kanada) • Osteuropa • Petrarca-Preis 2014 • Russland • Sowjetunion • UdSSR
ISBN-10 3-518-75099-2 / 3518750992
ISBN-13 978-3-518-75099-5 / 9783518750995
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