Ein fauler Gott (eBook)
336 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75094-0 (ISBN)
Voller Empathie und mit anrührender Komik erzählt Stephan Lohse in seinem Debütroman vom Aufwachsen Anfang der Siebzigerjahre, von Teenagernöten und dem Trost der Freundschaft. Vor allem aber erzählt er von einem Jungen, der seine Mutter das Trauern lehrt und dessen Mut ihr zeigt, dass das Glück, am Leben zu sein, auch noch dem größten Schmerz standhält.
Sommer 1972. Benjamin ist gerade elf geworden. Nächstes Jahr wird er ein Herrenrad bekommen, eine Freundin und vielleicht eine tiefe Stimme. Doch dann stirbt sein kleiner Bruder Jonas. Die Mutter weint nachts. Ben kommt nun extra pünktlich nach Hause und spielt ihr auf der C-Flöte vor. An Jonas denkt er immer seltener - denn Ben hat mit dem Leben zu tun.
Stephan Lohse wurde 1964 in Hamburg geboren und stand als Schauspieler unter anderem am Thalia Theater Hamburg, an der Schaubühne in Berlin und am Schauspielhaus in Wien auf der Bühne. Noch immer leiht er Figuren seine Stimme, heute allerdings schreibend.
Stephan Lohse wurde 1964 in Hamburg geboren. Er studierte Schauspiel am Max-Reinhardt-Seminar in Wien und war unter anderem am Thalia Theater, an der Schaubühne in Berlin und am Schauspielhaus in Wien engagiert. Ein fauler Gott ist sein Debütroman. Stephan Lohse lebt in Berlin.
EINS
ES WÄRE BESSER, die Raufaserkrümel bewegten sich. Wenn sie an den Rand auswichen, könnte die Tapete in der Mitte reißen und die Decke dahinter gleich mit. Das Dach würde einstürzen. Der Dachstuhl würde sich durchs Haus bohren. Die Ziegel würden in den Garten fallen und die Büsche zerhauen. Man könnte den Himmel sehen.
Die Maschine würde starten. Sie würde Impulse vom Bauchnabel durch Lichtkabel an die Oberfläche senden. Die Relaisplatten unter der Haut würden klicken. Der Unterdruck in den Gehirnfunkschläuchen würde sie vibrieren lassen. Die Zentrale Verwaltung würde übernehmen.
Er würde fliegen, das kaputte Haus hinter sich lassen, den zerstörten Garten, die Siedlung, den Wald. Die Wiesen und die Wege. Die Bundesstraße. Die Welt.
Ben ist krank, ohne wirklich krank zu sein. Der Platz hinter seiner Nase ist durchs Weinen gewachsen und stößt von innen gegen seine Augen. Eigentlich müsste er aufstehen. Doch er traut sich nicht. Gestern ist sein Bruder gestorben. Ab heute ist Ben ein Einzelkind und mit Mami allein. Sein Bruder hieß Jonas. Er war acht und in der Dritten, und Ben hat ihn Piepmanscher genannt. Wie sein Bruder jetzt heißt, weiß Ben nicht, die Seelen haben lateinische Namen.
Irgendwo im Haus geht eine Tür. Dann noch eine. Mami lebt. Sie war zu gleichen Teilen seine und Jonas’ Mutter. Was mit Jonas’ Teil geschieht, ist unklar. Vielleicht bekommt Ben ihn. Vielleicht nicht.
Als Ben gestern aus der Schule kam, war Mami bereits aus dem Krankenhaus zurück. Er wollte ihr von dem Wunderschwimmer Mark Spitz und seinen bisher sechs Goldmedaillen erzählen und dass Mark Spitz in den letzten vier Jahren um zehn Jahre klüger geworden sei und nun vorhabe, Zahnarzt zu werden.
Doch Mami flüsterte ihm zitternd ins Ohr, dass sie ihm etwas sehr Trauriges sagen müsse. Dass sie im Krankenhaus erfahren habe, dass Jonas am Morgen seiner Krankheit erlegen sei und dass dies gestorben bedeute. Dass es offenbar schnell gegangen sei und bestimmt nicht wehgetan habe. Dass sie glaube, dass Gott nach Hilfe gesucht und sich für Jonas entschieden habe. Dass sie aber trotzdem traurig sein dürften und dass Jonas jetzt eine Seele sei.
Gott ist eine Art Herr Behrends des Himmels, der die Seelen an ihren Armen packt, bis der Schmerz in ihnen pocht, und sie zum Arbeiten in die äußersten Ecken des Himmels verbannt, wo sie nackt und mit verdreckten Gesichtern aufräumen müssen und putzen und Gottes Sachen durch die Gegend schleppen. Gott selbst ist faul in seiner Allmacht, und es bereitet ihm Freude, den Brüdern die Brüder zu stehlen und den Müttern ihre Kinder. Er ist unersättlich. Es gibt im Himmel mehr Tote als Lebende auf der Erde. Während Gott wie Herr Behrends, sein Sportlehrer, die Seelen machen ließ, weinte Mami und hatte zum Sprechen keine Luft mehr. Ben weinte auch. Er konnte nicht mehr aufhören.
Später starrte Mami ewig lange die Küchentür an. Es sah aus, als verwüchsen ihre Augen mit ihrem Gesicht, als sei ihr Gesicht aus Holz und die Augen die Astlöcher und die Haare die Fusseln auf den Wurzeln und die Haut die Rinde, die sich furcht und faltet und keine Blätter und kein Spechtloch. Wie von einem plötzlichen Wind gekrümmt, stand Mami auf und nahm Jonas’ Stundenplan von der Küchentür. Sie fuhr mit den Fingern über die Stunden und sagte, sie müsse in der Schule anrufen.
Zum Essen gab es Nudelauflauf. Mami aß nichts und Ben die Nudeln mit viel Rotze. Den Pudding durfte er auf Mamis Schoß essen. Er weinte noch immer und machte Mamis Blusenkragen nass mit Tränen und Nachtisch. Es störte Mami nicht. Ben schloss die Augen und machte sich schwer, um für Jonas mitzuwiegen. Dann schlief er an Mamis Schulter ein.
Heute Morgen schämt er sich. Er findet sich nicht traurig genug. Die Zeit, die Jonas im Krankenhaus war, hatte ihm gefallen. Er hatte sich vorgestellt, Mamis Ehemann zu sein, ein Ehemann, der die elektrischen Kontakte im Toaster putzt und die Serviettenringe geradebiegt. Der die Nägel, die in alten Babybrei-Gläsern im Heizungskeller aufbewahrt werden, ihrer Größe nach ins Regal sortiert, der für seine Frau ein schönes Muster ins Kaleidoskop schüttelt und kenntnisreich am Cognac nippt. Der sich, wenn sich Mami nach dem Krankenhaus erschöpft aufs Sofa legt, in den Sessel gegenübersetzt und mit ihr klönt. Spätestens am Dienstag hätte Jonas nach Hause kommen sollen.
Doch stattdessen hat seine Seele seinen Körper verlassen. Sie ist aus ihm herausgeweht, hat auf ihn hinuntergesehen und sich gewundert, dass man seinem Körper die Hände gefaltet hat. Es sieht aus, als bete er und als sei er ein Heiliger. Doch Jonas betet nicht. Beten ist ihm zu langweilig, und Achtjährige können nicht heilig sein, dafür sind sie zu jung. Eine Haarsträhne liegt verirrt auf seinem Gesicht und sticht in sein linkes Auge. Sie wird nach seinem Tod noch etwas wachsen, das hat Ben einmal in einem Was-Ist-Was über Menschen gelesen. Jonas hätte die Strähne weggeblasen, doch als Seele fehlt ihm die Kraft dazu. Nach einiger Zeit weht Jonas’ Seele durch ein offenes Fenster. Ben schätzt ihre Geschwindigkeit auf die eines Vogels. Auf dem Weg in den Himmel könnte sie mit einem Flugzeug kollidieren, einer Boeing von Lufthansa oder Condor. Dem Flugzeug würde der Zusammenstoß nichts ausmachen, doch die Seele könnte auseinanderreißen und zerflattern, denn sie besteht hauptsächlich aus Luft. Die Seelenteile müssten sich dann wiederfinden. Schafften sie es nicht, dürften sie nicht in den Himmel. Jonas konnte gut Rad fahren und ziemlich gut schwimmen. Warum sollte er nicht auch gut fliegen können? Von Mami weg und von ihm, an den Flugzeugen vorbei und in den Himmel. Ben weint. Er ist nun doch traurig genug. An der Tür klopft es.
»Darf ich reinkommen?«, fragt Mami.
»Ja«, sagt Ben und wischt seine Tränen ins Bettzeug.
»Ich habe dir Kakao gemacht.«
»Danke.«
»Hast du Hunger?«
»Nein. Es ist immer noch Nudelauflauf drin.«
»Später solltest du aber etwas essen.«
Der Kakao hat eine Haut. Sie ist eklig, doch Ben trinkt sie mit, ohne das Gesicht zu verziehen.
»Lässt du mich unter deine Decke?«
»Ja«, sagt Ben.
Mami legt sich in sein Bett mit allem, was sie anhat. Ihrem Rock und der puddingverschmutzten Bluse von gestern. Nur die Hausschuhe zieht sie aus. Sie legt ihren Arm auf ihr Gesicht, und Ben hört sie atmen. »Möchtest du mit mir über Jonas sprechen?«
Ben weiß nicht, was er sagen soll. Er übt mit einem Ford Capri Autobahnpolizei an der Kante des Kopfkissens einparken.
»Jonas hat dir im Krankenhaus ein Bild gemalt. Es zeigt eine Rakete. Ich habe es mitgebracht und auf den Küchentisch gelegt. In dem Fenster der Rakete steht eine Blumenvase, und an ihrem Eingang wacht ein Hund. Jonas’ Bettnachbar hat sich über die Farbe des Raketenfeuers beschwert. So ein Feuer sei nicht grün. Ich finde das grüne Feuer aber schön.«
»Weißt du, dass Jonas nicht gewusst hat, dass Astronauten ihr Essen aus der Tube essen? Ich habe es ihm gesagt. Dass bei den Nudeln auch die Tomatensoße mit drin ist, und dass Schnitzel ein bisschen flüssiger sind, damit sie vorne durch den Ausgang passen. Jonas wollte dann Astronaut werden und Gerald mitnehmen. Ich habe ihm gesagt, dass Hunde nur in russischen Raketen erlaubt sind. Auch Spielzeughunde nur.«
Mami weint unter ihrem Arm. »Komm her«, sagt sie.
Sie verbringen den Nachmittag unter der Decke wie in einer Höhle und unterhalten sich über Jonas und die Kinder, die er im Krankenhaus kennengelernt hat, über das Mädchen ohne Haare, dessen Geschlecht man nur daran erkenne, dass es ein Album mit Pferdeglanzbildern mit sich herumtrage, über den großen Jungen, dem ein Bein fehle bis unters Knie und der deswegen den ganzen Tag heule, und über die asiatischen Zwillinge, von denen nur einer krank sei, der andere aber nicht gehen wolle und angedroht habe, loszuschreien, sobald man ihn zwinge. Sie erinnern sich, dass Jonas im letzten Winter nicht mehr Schlitten fahren wollte, weil ihm der Schnee leidtat, wegen des Rostes von den Kufen, und dass er als Papst dauernd über sein Messgewand aus Badezimmervorleger gestolpert ist. Sie sprechen über Rex Gildo und sein schönes Lied Fiesta Mexicana und über den bemerkenswerten Umstand, dass das Orchester Kurt Edelhagen bei der olympischen Eröffnungsfeier zum Einmarsch der Nationen Stücke mit Takten von 114 Schlägen pro Minute gespielt habe, weil der Mensch dann am lockersten gehe, und dass dies mit seiner Größe zusammenhinge und den Auswirkungen der Erdanziehungskraft auf ihn. Sie unterhalten sich auch über die Farbe von Jonas’ Haut, die in den letzten Tagen etwas gelb war.
»Hat Jonas geschlafen, als er gestorben ist?«, fragt Ben.
»Ja, bestimmt«, sagt Mami. »Da bin ich mir sicher.«
»Das habe ich mir gedacht«, sagt Ben. Er beginnt zu weinen und schlägt mit der Faust aufs Bett.
Am Abend zünden sie für Jonas eine Kerze an. Es ist wie Weihnachten in klein. Die Flamme zittert auf dem Docht, und die Schatten der Gegenstände flattern über die Wände. Ben erinnert sich, dass Jonas wegen seines Namens manchmal geglaubt hat, in einem Wal zu leben. Er erzählt es Mami.
»Das habe ich nicht gewusst«, sagt sie.
»Ja«, sagt Ben. »Er hat gedacht, dass er im Magen von dem Wal lebt. Und dass die Wände des Magens sich bewegen können und man aufpassen muss, dass man nicht hinfällt und im Magenschleim landet, weil der nach Fischkotze schmeckt. Deshalb hat der Piepmanscher...
| Erscheint lt. Verlag | 6.3.2017 |
|---|---|
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Schlagworte | All Age • BRD • Bruder • Coming of Age • Debüt • Deutschland • Erziehung • Familie • Franz-Tumler-Literaturpreis 2017 • Gefühle • Glück • Identität • Jugend • Kinderseele • Kindheit • Kindstod • Leben • Liebe • Mitteleuropa • Mutter • Pubertät • Roman • Schule • Sexuelle Orientierung • Siebzigerjahre • ST 4872 • ST4872 • Sterben • suhrkamp taschenbuch 4872 • Teenager • Tod • Trauer • Verlorenheit • Verlust |
| ISBN-10 | 3-518-75094-1 / 3518750941 |
| ISBN-13 | 978-3-518-75094-0 / 9783518750940 |
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