Moorbruch (eBook)
336 Seiten
Paul Zsolnay Verlag
978-3-552-05845-3 (ISBN)
Peter May, geboren 1951 in Glasgow, ist einer der erfolgreichsten Fernsehdrehbuchautoren Schottlands und mit seinen Krimis regelmäßig auf den internationalen Bestsellerlisten vertreten. Die Serie um Fin Macleod wurde vielfach ausgezeichnet. Peter May lebt in Frankreich und Schottland.
Eins
Als Fin die Augen aufschlug, lag ein seltsam rosa getöntes Licht in dem alten Steinhaus, in dem sie Schutz vor dem Sturm gefunden hatten. Träger Rauch stieg aus dem noch schwach glimmenden Feuer in die stille Luft auf. Whistler war nicht mehr da.
Fin stützte sich auf die Ellbogen. Der Stein am Eingang war zur Seite gerollt worden, und dahinter lag der rosa getönte Nebel, mit dem der Morgen in den Bergen anfing. Der Sturm hatte sich verzogen. Er hatte sich abgeregnet und eine unnatürliche Stille hinterlassen.
Unter Schmerzen schälte sich Fin aus seinen Decken und kroch am Feuer vorbei zu seinen Sachen, die über den Stein ausgebreitet waren. Sie waren zwar immer noch ein bisschen feucht, aber trocken genug, dass er sie wieder anziehen konnte, und er legte sich auf den Rücken und schob ruckelnd die Beine in die Hose, setzte sich dann auf, knöpfte das Hemd zu und zog den Pullover über den Kopf. Er streifte die Socken über, zwängte die Füße in die Stiefel und kroch hinaus zum Hang, ohne sie erst umständlich zuzuschnüren.
Die Aussicht, die ihn empfing, war fast übernatürlich. Steil ragten ringsum die Berge des Südwestens von Lewis auf, ihre Gipfel von niedrigen Wolken verhängt. Das unter ihm liegende Tal erschien ihm nun breiter als am Abend zuvor im Licht der Blitze. Die riesigen Felsbrocken, die an seinem Boden verstreut waren, erhoben sich wie Geistergestalten aus den Nebelschwaden, die von Osten heranzogen, wo eine noch nicht sichtbare Sonne schon ein unnatürlich rot leuchtendes Licht warf. Es war wie beim Anbeginn der Zeiten.
Whistler zeichnete sich umrisshaft neben den verfallenden Steinhütten ab, die hier Bienenkörbe genannt wurden und auf einem Grat standen, von dem man das ganze Tal überblickte. Noch wackelig auf den Beinen, stolperte Fin auf dem aufgeweichten Boden zu ihm hinüber.
Whistler schaute nicht her, tat überhaupt nichts dergleichen. Er stand einfach nur da, starr wie ein Ölgötze. Fin war bestürzt über Whistlers bleiches Gesicht, aus dem alle Farbe gewichen war. Der Bart sah aus wie Farbe, schwarz und silbern, auf weiße Leinwand gespachtelt, die Augen dunkel und unergründlich, in Schatten versunken.
»Whistler, was ist?«
Doch Whistler gab keine Antwort, und Fin sah nun auch zu der Stelle im Tal, die Whistler fixierte. Im ersten Moment konnte er den Anblick, der sich ihm dort bot, gar nicht einordnen. Er erfasste zwar, was er sah, es ergab aber keinen Sinn. Fin wandte sich um und sah an den Bienenkörben vorbei zu den noch höheren Felsen und dem mit Geröll bedeckten Hang, der zu dem Bergrücken führte, auf dem er am Abend zuvor gestanden und den Loch betrachtet hatte, auf dessen Wasser sich die Blitze spiegelten.
Dann schaute er wieder ins Tal hinab. Aber da war kein Wasser und kein Loch. Bloß eine große leere Senke. An dem deutlich abgegrenzten Rand war zu erkennen, wie sie sich im Verlauf von Äonen durch den Torf und den Stein eingegraben hatte. Der Vertiefung im Boden nach zu urteilen maß sie vielleicht eine Meile in der Länge, eine halbe Meile in der Breite und fünfzig oder sechzig Fuß in der Tiefe. Ihr Bett bildete ein dicker Brei aus Torf und Schlamm, getüpfelt mit großen und kleinen Felsbrocken. Am östlichen Ausgang, wo das Tal sich im Morgennebel verlor, zog sich ein breiter brauner Kanal, der vierzig oder fünfzig Fuß messen mochte, wie die Schleimspur einer Riesenschnecke durch den Torf.
Fin warf Whistler einen Blick zu. »Wo ist der Loch abgeblieben?«
Doch Whistler sagte achselzuckend nur: »Der ist weg.«
»Wie kann ein Loch einfach verschwinden?«
Whistler starrte noch eine ganze Weile weiter wie in Trance zu der leeren Senke. Dann sagte er unvermittelt, als habe Fin eben erst gesprochen: »So etwas ist früher schon mal vorgekommen, Fin. Ist aber lange her, du und ich waren noch nicht auf der Welt. In den Fünfzigern war das. Drüben bei Morsgail.«
»Ich verstehe kein Wort. Wovon sprichst du?« Fin konnte sich keinen Reim auf das Gehörte machen.
»Da war es genau dasselbe. Der Briefträger kam auf dem Pfad, der von Morsgail nach Kinlochresort führt, jeden Morgen an einem Loch vorbei. Ganz abgelegen, mitten im Nichts. Der Loch nan Learga. Tja, und eines Morgens kommt er wie üblich dort vorbei, da ist der Loch weg. Und an der Stelle bloß noch eine tiefe Senke. Ich bin selber schon viele Male da vorbeigekommen. War damals eine ziemliche Sensation. Da haben sich Journalisten aus London herbemüht, von Zeitungen und vom Fernsehen. Und was die spekuliert haben … Heute würde man sie für verrückt halten, aber damals haben sie den Äther und die Spalten ihrer Zeitungen damit gefüllt. Die beliebteste Hypothese war, dass ein Meteor in den Loch eingeschlagen und ihn zum Verschwinden gebracht hätte.«
»Und was war wirklich passiert?«
Whistler zuckte die Achseln. »Am plausibelsten ist noch die Theorie, dass es ein Moorbruch war.«
»Und das ist was?«
Whistler verzog die Lippen und konnte den Blick nicht von dem schlammgefüllten Becken des verschwundenen Lochs lösen. »Tja … so was kann in einer langen Phase ohne Regen schon mal vorkommen. Hier ist es aber eher selten.« Es fehlte nicht viel, und er hätte gelächelt. »Die oberste Torfschicht vertrocknet und reißt ein. Und wie jeder Torfstecher weiß, wird Torf, wenn er einmal trocken ist, wasserundurchlässig.« Er wies mit dem Kopf auf die Stelle, an der sich die Spur der Riesenschnecke im Dunst verlor. »Da hinten ist noch ein Loch, weiter unten im Tal. Wenn ich Geld hätte, würde ich es darauf verwetten, dass der Loch hier in den anderen gesickert ist.«
»Wie das?«
»Die meisten Lochs ruhen auf einer Schicht Torf und der wiederum auf Lewiser Gneis. Ganz oft sind sie durch Kämme aus einem weniger festen Gestein getrennt, Amphibolit zum Beispiel. Wenn es nach einer trockenen Zeit stark regnet, wie gestern Abend eben, läuft das Regenwasser durch die Risse im Torf durch und bildet eine Schlammschicht über dem Grundgestein. Gut möglich, dass der Torf zwischen den Lochs hier einfach auf dem Schlamm weggerutscht ist, und dann ist das Wasser im oberen Loch wegen seines Gewichts durch das Amphibolit durchgebrochen und alles zusammen ins Tal gesackt.«
Ein Lüftchen regte sich, die Sonne stieg ein Stückchen höher, und der Dunst hob sich. Genug, um den Blick auf etwas Rot-Weißes freizugeben, das an der wohl tiefsten Stelle des Lochs das Licht einfing.
»Was zum Teufel ist das?«, sagte Fin und fragte, als Whistler keine Antwort gab: »Hast du ein Fernglas dabei?«
»Im Rucksack.« Whistlers Stimme war kaum mehr als ein Hauch.
Fin lief zu ihrer Steinhütte zurück, kroch hinein und holte das Fernglas. Als er wieder auf dem Kamm war, stand Whistler noch genau so da wie zuvor. Und starrte weiter reglos auf die Senke, die einmal der wassergefüllte Loch gewesen war. Fin hob sich das Fernglas an die Augen und drehte so lange an den Okularen, bis der rot-weiße Gegenstand scharf zu sehen war. »Allmächtiger!«, murmelte er. Es war ihm herausgerutscht, wie er jetzt selber hörte.
Es war ein einmotoriges Kleinflugzeug, das dort, leicht schräg, zwischen Felsbrocken klemmte. Es wirkte fast unzerstört. Die Fenster des Cockpits waren von Schlamm und Schlick verdunkelt, Rot und Weiß des Rumpfs waren aber deutlich auszumachen. Nicht anders als die schwarzen Lettern des Rufzeichens.
G-RUAI.
Fin spürte, wie sich jedes einzelne seiner Nackenhaare aufstellte. RUAI, die Kurzform von Ruairidh, der gälischen Form von Roderick. Ein Rufzeichen, das einmal wochenlang in allen Zeitungen stand, als das Flugzeug – und Roddy Mackenzie mit ihm – vermisst wurde. Siebzehn Jahre war das jetzt her.
Der Nebel zog wie Rauch, vom Morgengrauen getönt, über die Berge hinweg ab. Es war vollkommen still. Kein Geräusch nirgends. Nicht einmal ein Vogelruf. Fin ließ Whistlers Fernglas sinken. »Du weißt, wessen Flugzeug das ist?«
Whistler nickte.
»Was zum Teufel macht es da unten, Whistler? Angeblich hat er laut eingereichtem Flugplan doch zur Isle of Mull gewollt und ist irgendwo über dem Meer vom Radar verschwunden.«
Whistler zuckte die Achseln, sagte aber nichts dazu.
»Das schau ich mir mal aus der Nähe an«, sagte Fin.
Whistler hielt ihn am Arm zurück, einen seltsamen Ausdruck in den Augen. Angst, hätte Fin gemeint, wenn er es nicht besser gewusst hätte. »Das sollten wir lieber lassen.«
»Warum?«
»Weil es uns nichts angeht, Fin.« Whistler seufzte. Ein tiefer Atemzug, mit dem er die Sache entschlossen abtat. »Melden werden wir es wohl müssen, aber ansonsten sollten wir uns nicht einmischen.«
Fin schaute ihn prüfend an, beschloss aber, keine Fragen zu stellen. Er befreite seinen Arm aus Whistlers Griff und sagte noch einmal: »Ich schau mir das aus der Nähe an. Du kannst mitkommen oder es lassen.« Er drückte Whistler das Fernglas in die Hand und ging los, kraxelte den Hang hinab zu dem leeren Becken.
Der Abstieg war steil und schwierig, führte über Geröll und harten Torf, glitschig geworden von Gras, das der Regen zu Boden gedrückt hatte. Gesteinsbrocken säumten das Ufer dessen, was einmal der Loch gewesen war, und Fin geriet immer wieder ins Schlittern, hatte Mühe, nicht...
| Erscheint lt. Verlag | 30.1.2017 |
|---|---|
| Übersetzer | Silvia Morawetz |
| Verlagsort | Wien |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | The Chess Man |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
| Schlagworte | 21. Jahrhundert • Bestseller • Geschichte • Großbritannien • Krimi |
| ISBN-10 | 3-552-05845-1 / 3552058451 |
| ISBN-13 | 978-3-552-05845-3 / 9783552058453 |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
| Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich