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Zunehmendes Heimweh (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
436 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-95309-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zunehmendes Heimweh -  Silvio Blatter
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»Zunehmendes Heimweh« ist der erste Teil von Silvio Blatters großer Freiamt-Trilogie. Mit ihr wurde er zu einem der bedeutendsten und meistgelesenen Schweizer Autoren. - Das Freiamt, die Region im Kanton Aargau, ist nicht nur die Heimat des Autors. »Zunehmendes Heimweh« nach ihr verspürt auch die Romanfigur Hans Villiger. Eine Weile hat Villiger in der Ferne in Amsterdam gelebt, nun ist er ins Freiamt zurückgekommen. Er arbeitet als Hilfslehrer in Muri, streift durch die dunklen Wälder und wird zum Chronisten seiner Heimat. Auch Margrit Fischer, die ihr erstes Kind erwartet, lebt wieder in dem Haus, in dem sie geboren ist. Es sind die Gärten hinter dem Haus, die Orte ihrer Kindheit, die sie nicht missen will. In epischer Breite und großer Ruhe entfaltet Silvio Blatter Landschaft und Natur des Freiamt und stellt sie in einen Bezug zu den Menschen, die dort leben. Seine Figuren suchen nach einer Heimat im Innen oder im Außen, und Silvio Blatter gibt ihnen in diesem Meisterwerk des Realismus den Raum dafür.

Silvio Blatter gilt als einer der 'herausragenden Schweizer Gegenwartsautoren' (Südwest Presse). Seine Romantrilogie 'Zunehmendes Heimweh', 'Kein schöner Land', und 'Das sanfte Gesetz' machte ihn bei einem breiten Publikum bekannt. Blatter erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen, u.a. den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis und den Preis der Neuen literarischen Gesellschaft Hamburg. Zuletzt erschien von ihm 'Wir zählen unsere Tage nicht'. Silvio Blatter lebt in München und Zürich.

1


Es war Winter und kalt, es war an einem Sonntagmorgen mit allen Hoffnungen, die Sonne schien, auf dem Weg, der dem Fluss folgte, ging eine junge Frau, und über ihrem Bauch spannte der Mantel, denn sie war schwanger.

Margrit Fischer zählte fünfundzwanzig Jahre, sie erwartete ihr erstes Kind.

Über Nacht hatte ein Schneefall die Straßen und Häuser der Stadt, den Wald und die umliegenden Felder in seinen weißen Besitz genommen. Nur die Reuss zog unverändert dahin, spiegelte Licht und führte nur wenig Wasser wie immer im Januar. Margrit ging behutsam; in den Taschen des Mantels versteckt, legte sie die Hände auf den Bauch und spürte die Bewegungen ihres Kindes; in zwei Wochen sollte es zur Welt kommen.

Die Reuss bildete einen weiten Bogen und zog eine Schlaufe, in deren schmalster Stelle die Stadt Bremgarten gebaut war. Geteilt in zwei Terrassen, gesäumt von den flach ansteigenden Höhenzügen des Wagenrains und den schrofferen Hängen des Hasenbergs, lag sie größtenteils in der breiten und kiesigen Talsohle der Reuss. Die enge Oberstadt besetzte einen Sporn, die weitläufigere Unterstadt erstreckte sich mit ihrem Vorgelände in die Au hinaus.

Die Helligkeit schmerzte in den Augen, doch Margrit ging fühllos gegen das Licht. Sie hatte sich ein Kind gewünscht und war doch ein wenig irritiert gewesen, als der Arzt ihre Vermutung bestätigt und ihr gesagt hatte, dass sie schwanger sei: da hatte in ihrem Bauch etwas zu wachsen begonnen und war von Monat zu Monat leibhafter geworden, und dennoch war es anfänglich ein Vorgang gewesen, dem sie nicht mit dem Verstand allein hatte beikommen können, und erst ein Gefühl, das sie allmählich für dieses Wachsen hatte aufbringen können, hatte daraus ein Kind gemacht, ihr Kind.

Margrit blieb an einer Stelle stehen, wo das Ufergelände freien Blick auf die Reuss gab, Kies und Sandbänke lagerten im Flussbett, das gegenüberliegende Ufer wurde von Bäumen abgeschlossen, dahinter stand Wald.

In den ersten drei Monaten der Schwangerschaft war es ihr manchmal übel geworden, sie hatte erbrechen müssen, aber sie war auch froh, während dieser Zeit im Gesicht keine Pickel bekommen zu haben, auch die Beine hatte sie nie einbinden müssen; nur ihr rundgeschnittenes, braunes Haar war stark nachgedunkelt, nun glänzte es im Sonnenlicht.

Eigentlich hatte Margrit die Messe besuchen wollen, und während die Kirchenglocken den hellen Tag mit ihrem Geläute metallisch durchwirkten, war sie an der Kirche vorbeigegangen und hatte, ohne nach Gründen zu fragen, den Weg an die Reuss genommen; es war eine plötzliche Laune gewesen, der sie nachgegeben hatte.

Margrit war in Bremgarten aufgewachsen; schon als Kind war sie, an schulfreien Nachmittagen, zum Fluss gelaufen, damals mit Zeichenblock und Malkasten, und hatte verschwiegene Plätze am Ufer aufgesucht. Sie hatte einen granitenen Findling als ihren liebsten Platz gewählt, der sich wie der Rücken eines Elefanten aus dem Flussbett erhob und den sie durch das knietiefe Wasser watend erreichen konnte. Im Sommer saß sie auf dem warmen Stein; mit den Füßen im Wasser planschend, malte sie ganze Nachmittage. Sie hatte die Stunden vergessen. Das Alter des Steins, den der Gletscher vor Jahrtausenden gebracht und bei seinem Rückzug liegen gelassen hatte, hob die Zeit gänzlich auf. Sie malte Aquarelle in den klaren Farben von Himmel, Wasser und Stein. Flussbilder, die Struktur der Kiesel, und den Vogelzügen gab sie das Treibgut ihrer Träume mit. Wenn es eindunkelte und der Stein seine Wärme verlor, die Sonne nur noch die Wipfel der Bäume am anderen Ufer streifte, ging sie schweigend nach Hause, verwahrte Blätter in der Mappe, die niemand zu Gesicht bekam, denn in ihren Zeichnungen hätte man sie selbst erkannt, und das wollte sie nicht.

Margrit wandte sich wieder dem Weg zu, der schon nach ein paar Schritten von Bäumen und Sträuchern gesäumt wurde. Sie war eher schmal gebaut, mittelgroß, sie benötigte Kraft, den schweren Bauch zu tragen, und die Spur, die sie hinter sich zurückließ, war etwas zu breit. Doch Margrit war auch zäh, ging Schritt für Schritt durch unberührten Schnee und atmete die kalte Luft ein. Sie kam an einem vereinzelt stehenden Haus vorbei, dessen Scheiben das Sonnenlicht sammelten und gleißten. Ein paar Hunde, die in einem groß angelegten Zwinger gehalten wurden, liefen ans Gitter ihres Geheges und verbellten sie, doch sie hatte keine Angst vor den Tieren. Nach dem Zeltplatz erreichte sie das Holzlager der Genietruppen, auf den Stämmen lag Schnee. Von Weitem sah sie, dass ihr ein Läufer entgegenkam, sein roter Trainingsanzug leuchtete im Weiß. Der Läufer trabte mit tierischer Ruhe seinen Weg. Als er an Margrit vorbeigelaufen war, versuchte sie, seiner verlassenen Spur zu folgen, doch seine Schritte waren länger als die ihren, und es wäre ein anstrengendes Spiel gewesen, in seinen Stapfen zu gehen.

Die Bretterstapel und die aufeinandergeschichteten Stämme des Holzlagers grenzten einen weiten Platz von der Reuss ab, das Ufer war flach und setzte seinen sanften Abfall auch ins Wasser hinaus fort, sodass ein Teil des Flussbettes unter dem Wasserspiegel sichtbar blieb.

Margrit verweilte und schaute aufs Wasser hinaus. Im Juli hatte sie hier an einem sommerheißen Samstagnachmittag Anita, mit der zusammen sie drei halbe Tage jede Woche in der Mohrenkopffabrik arbeitete, anvertraut, dass sie schwanger sei. Sie war auf einem Badetuch gelegen, über Bauch und Badehose hinweg hatte sie Anita betrachtet, die in einem orangefarbenen Bikini vor ihr stand und in jeder Hand eine Orange hielt.

Dann kommt das Kind im Winter zur Welt, hatte Anita sofort nachgerechnet. Es ist auch angenehmer, nicht gerade während der ärgsten Hitze hochschwanger zu sein.

Am Tag vorher hatte Margrit dieselbe Mitteilung auch ihrer Tante Anna Villiger gemacht, mit der sie seit dem Tod ihrer Mutter sehr vertraut war. Anna Villiger hatte sich über die Mitteilung gefreut und Margrit umarmt. Und an dieser Uferstelle war sie auch mit Herbert gestanden, in jenem Sommer, als sie einander kennengelernt hatten, er hatte zu den Sternen hochgeschaut und gesagt: Wenn du an die Distanzen zwischen den einzelnen Sternen denkst, verlieren alle Maßstäbe ihre Bedeutung und Lichtjahre werden zu Katzensprüngen, dann ist der Weg von Zürich nach Bern nichts mehr, gar nichts.

Und trotzdem brauchst du zwei Tage und Nächte, um ihn zu gehen, hatte sie lachend geantwortet, oder ein schnelles Auto, das die Strecke in einer guten Stunde schafft.

Dann waren sie weitergegangen, sie hatte sich bei ihm untergehakt und gesagt: Sterne, das sind auch Wünsche und Hoffnungen, aber wenn sie verraten werden, fallen sie vom Himmel, darum hat es hier so viele Steine. Damals war sie achtzehn Jahre alt.

Von dieser Uferstelle waren es nur noch wenige Schritte bis zur Militärbrücke, zu der Margrit über schmale Stufen hochstieg. Auf dem Rückweg zur Unterstadt begegneten ihr langsam fahrende Autos. Einzelne, sonntäglich gekleidete Kirchgänger, das Messbuch in der Hand, Nachdenklichkeit im Gesicht, dehnten den Heimweg zu einem Spaziergang aus. Kinder ereiferten sich bei einer Schneeballschlacht und versuchten, den pulvrigen Schnee zu Bällen zu formen, doch im Wurf fielen die Geschosse meist auseinander. Ein Mann zog einen Schlitten hinter sich her, auf dem zwei in dicke Kleider vermummte Mädchen mit unbewegten Gesichtern saßen und auch nicht lachten, als Margrit ihnen zuwinkte. In einem Garten, von dessen Zaun Margrit die weichen Schneekappen streifte, wühlte ein Hund im Schnee, scharrte ihn mit Sätzen und Sprüngen auf und rannte kläffend hinter einem blauen Gummiball her, den ihm eine Frau immer wieder abnahm, um ihn erneut in den Schnee zu werfen. Ein alter Mann, dem Margrit ausweichen musste, schlurfte, den Weg mit dem Stock ertastend, dem Friedhof zu und fror in sich hinein.

Nach ein paar Minuten langte Margrit bei der Kirchentreppe an, die Unterstadt und Oberstadt über breite Steinstufen miteinander verband, an deren Fuß ein altes, von der Kirchgemeinde renoviertes Fachwerkhaus stand, in dem Anita wohnte. Auf halber Höhe der Treppe, die immer nach einer Stufenfolge eine Plattform hatte, blieb Margrit ein Weilchen stehen, bevor sie weiterstieg und am oberen Ende der Treppe zur »Alten Apotheke« kam, wo sie links abbog, um auf dem Trottoir zur Sternengasse hinaufzugehen. Dabei beobachtete sie eine fette Taube, die vor einem Auto flüchtete und sich erst im letzten Augenblick darauf zu besinnen schien, dass sie ein Vogel war und fliegen konnte.

Die Häuser der Sternengasse bildeten eine Grenze, die Frontseiten richteten sich gegen die Oberstadt, die rückwärtigen Fenster aber schauten über Terrassengärten und Mauern auf die Unterstadt hinunter, in...

Erscheint lt. Verlag 12.1.2017
Reihe/Serie Freiamt-Trilogie
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Freiamt • Heimatroman • Heinrich Böll • Siebzigerjahre • Trilogie
ISBN-10 3-492-95309-3 / 3492953093
ISBN-13 978-3-492-95309-2 / 9783492953092
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