Das gelbe Zeichen (eBook)
165 Seiten
Martin Dehling (Verlag)
978-3-946309-07-9 (ISBN)
2
Jarek vergaß Erschöpfung und Schmerz. Die Nadelpistole in der einen, das Stilett in der anderen Hand, folgte er Thale. Die Ausdünstungen raubten dem Assassinen fast den Atem, er spürte ätzenden Magensaft seine Kehle hinaufsteigen.
Eine schmale Treppe führte nach unten in eine gemauerte Kammer. Kerzen standen auf dem Boden verteilt und spendeten gelblich trübes Licht. Das Klirren entstammte von der Decke hängenden Ketten, die in der Zugluft hin und her schwangen. Das, was in den Ketten hing, teilweise mit Fleischerhaken daran befestigt war, hatte nicht mehr viel Menschliches an sich, trotzdem wusste Jarek sofort, was er da vor sich sah. Welcher Wahnsinn war hier am Werk?
Neben den undefinierbaren Fleischbrocken hing ein Frauenkopf in den Ketten. Der Mund war zu einem ewigen, stummen Schrei geöffnet, die Augen starrten weit aufgerissen aber blicklos ins Leere.
Thale stürmte Jarek entgegen, drückte sich an ihm vorbei und hastete in den Gang zurück. Der Assassine hörte, wie der Major sich draußen geräuschvoll erbrach.
Doch da war noch etwas in dieser Kammer des Schreckens und der Perversion, etwas Lebendiges. Eine Gestalt kroch dort auf allen Vieren über den Boden. Sie trug eine gelbe Robe, die an vielen Stellen mit dunklen Flecken besudelt war, eine ebenfalls gelbe Kapuzenmaske verbarg ihr Gesicht.
Auf wackligen Beinen stakste Jarek die Treppe hinunter, auf den Maskierten zu, der den Assassinen an einen desorientierten Käfer denken ließ. Jareks Schritte erzeugten auf dem von Blut und Fäkalien klebrigen Untergrund ein saugendes Geräusch.
»Wer bist du?« fuhr der Assassine den Maskierten an. »Was ist das hier?«
Die Gestalt schien Jarek nicht zur Kenntnis zu nehmen, setzte ihr sinnloses Krabbeln ungerührt fort.
Jarek packte den Kapuzenträger bei den Schultern, schüttelte ihn. »Kannst du nicht sprechen?«
Die Kreatur stieß ein Geräusch aus, das Jarek erst nach einigen Momenten als Gelächter erkannte. Sie kicherte und gluckste, als hätte der Assassine gerade einen besonders guten Witz erzählt.
Jarek riss der Gestalt die Maske vom Gesicht. Ein kahlgeschorener, bartloser Kopf kam zum Vorschein. Irre Augen, die weder Brauen noch Wimpern besaßen, rollten haltlos wie Murmeln in ihren Höhlen. Schaum tropfte aus dem Mund, der heiseres Gelächter ausstieß.
Von Abscheu übermannt, stieß Jarek den Wahnsinnigen von sich.
»Das Gelbe Zeichen«, wisperte das Wesen. »Hast du das Gelbe Zeichen gesehen?«
»Wovon redest du?«, rief Jarek. »Was soll das hier alles?«
»Er wird kommen.« Die Kreatur schüttelte sich, als würde sie vor Lachkrämpfen beinahe ersticken. »Er wird kommen und dann werdet ihr alle sehen. Dann ist es zu Ende. Dann fällt der Vorhang.«
Jarek drückte ab. Die Nadel traf das kichernde Scheusal genau zwischen die Augen. Das Wesen verstummte endgültig.
Keuchend machte der Assassine sich auf den Weg zur Treppe. Jeder Atemzug kostete unendlich viel Kraft und er wäre nur zu gerne stehengeblieben, um sich wie Thale zu übergeben. Jarek stolperte beinahe in den Gang hinter der Tür. Er schwankte, rang krampfhaft nach Atem, sog köstlich frische Luft in seine Lungen, schaffte es, die drohende Ohnmacht zurückzudrängen. Trotzdem musste er raus aus diesem Haus, diesem Ort des Schreckens, der weitaus Schlimmeres beherbergte als ein paar Mitglieder der AKU.
Die Eingangstür stand offen. Nicht weit entfernt lag Thale zusammengekrümmt zu einem Häuflein Elend. Er schluchzte und schüttelte sich, als litte er unter Fieber. Jarek kniete sich neben den Freund, strich ihm über die schweißnasse und doch kalte Stirn.
Der Major hustete, spie aus, bevor er verständliche Worte herausbrachte: »Ich habe so etwas noch nie gesehen, niemals. Im Krieg gegen Ythill war es auch schlimm, da gab es viele Tote und Verletzte, aber das war eben der Krieg, aber hier … das …
Thales Stimme ging in Schluchzen über.
Jarek sagte nichts, aber wortlos stimmte er dem Major zu. Etwas war hier am Werk, etwas Unmenschliches, etwas unvorstellbar Böses. Im Keller war es körperlich spürbar gewesen. Die Abscheulichkeit des Ortes rührte nicht nur von den zerstückelten Leichen und dem Blut her, da war noch anderes gewesen, Unbegreifliches …
Eine Weile saßen die beiden Männer schweigend nebeneinander; die Feuchtigkeit des Waldbodens durchnässte allmählich ihre Kleidung. Bis auf die Rufe der Nachtvögel und gelegentlichem Rascheln im Geäst war alles still. Die Erlebnisse im Haus hätten genauso gut nur ein Albtraum sein können.
Es war Thale, der die Ruhe schließlich durchbrach.
»Jarek, was bei St. Haita machen wir denn jetzt nur?«
Der Assassine atmete noch einmal tief durch.
»Jetzt, mein Freund, rufen wir das Direktorium.«
**
Jarek ließ Thale alleine in das in der Nähe versteckte Kabelmobil steigen. Die Schulter des Assassinen klopfte und pochte und ihm war mittlerweile trotz der frischen Luft so übel, dass er sich die holprige Fahrt über unbefestigte Straßen bis zur Telegraphenstation nicht zumuten wollte.
An einen Baumstamm gelehnt, saß Jarek in der Nacht und betrachtete die an den drei Monden vorüberziehenden Wolken. Der Assassine stammte nicht aus Carcosa und auch nicht aus Ythill. Sein früheres Leben, bevor er in die Stadt am Ufer des Sees Hali gekommen war, erschien ihm wie ein Traum, an den er sich kaum erinnerte. Die in den Himmel ragenden, grauen Steingebäude mit den beiden bleichen Sonnen darüber und das rauchige, wolkenähnliche Wellen schlagende Wasser des Sees, das war Carcosa. Cassilda war in Jareks Leben getreten, Carcosas traurige Königin. Seine Königin. Seine Geliebte …
Jarek schrak auf. Er musste eingenickt oder ohnmächtig geworden sein. Seine Schulter tat immer noch höllisch weh. Geräusche von Rädern, die durch Buschwerk brachen, waren zu hören zusammen mit dem Surren von Spulenmotoren. In der Ferne schrie jemand Befehle.
Vier Kabelmobile brachen aus dem Unterholz. Auf den Fahrzeugen waren Scheinwerfer montiert, welche die Umgebung in kaltes, weißes Licht tauchten. Wie klobige Schatten wirkende Uniformierte mit Pickelhauben folgten den Kabelmobilen im Laufschritt.
Das Direktorium war eingetroffen.
Die Kabelmobile brausten an Jarek vorbei. Drei Soldaten blieben jedoch bei ihm stehen und richteten Bolzengewehre auf ihn.
»Bleib wo du bist«, knurrte ein Kerl mit einem Schnauzbart.
Dem Rangabzeichen nach war der Mann ein Unteroffizier und anscheinend wollte er sich vor seinen niederrangigen Kameraden beweisen.
»Wer bist du? Was hast du hier zu suchen?«, schnauzte der Unteroffizier den Assassinen an.
Jarek hob seine rechte Hand, an deren Ringfinger Königin Cassildas goldener Siegelring mit dem Rosenwappen der Familie Castaigne steckte. Das Scheinwerferlicht spiegelte sich im Gold des Ringes. Der Unteroffizier starrte das Wappen verständnislos an, dann weiteten sich seine Augen in plötzlichem Begreifen. Er ließ sein Gewehr sinken. Die anderen Soldaten wichen vor ihm zurück, als befürchteten sie, dass ihn im nächsten Augenblick ein Blitz in Flammen setzten könnte.
»Bitte entschuldigen Sie«, nuschelte der Unteroffizier. »Das … ich … ich habe Sie nicht erkannt.«
Jarek schüttelte lediglich den Kopf. Er war so müde, konnte kaum die Augen offenhalten. Seine Gedanken schweiften zu Cassilda. Wie gern wäre er jetzt bei ihr, würde ihre kühlen Lippen küssen, sie einfach in den Arm nehmen …
»Ist schon gut, wegtreten.« Er erschrak selbst, wie müde und brüchig seine Stimme klang.
»Sehr wohl, mein Herr.« Der Unteroffizier nahm Haltung an und salutierte.
Jarek erwartete geradezu, dass der Mann im Stechschritt abmarschieren würde.
»Und ihr holt mir jetzt endlich einen Arzt her«, krächzte der Assassine in die Richtung der verbliebenen Soldaten. Dann wurde ihm schwarz vor den Augen.
**
Jarek kam zu sich, als ein älterer, glatzköpfiger Mann ihm die Wange tätschelte.
»Herr K., können Sie mich hören?«
Jarek schenkte Dr. Jaspert ein schwaches Lächeln. »Taub bin ich noch nicht, Herr Doktor.«
Die Schmerzen in seiner Schulter waren verschwunden und anstelle der provisorischen Bandage bedeckte ein dicker, weißer Verband die Wunde. Während Jareks Ohnmacht musste Jaspert die Verletzung versorgt haben.
Der Doktor schnaubte. »Sehr komisch. Sie haben ziemlich viel Blut verloren und können glücklich sein, wenn Sie ohne eine Infektion davonkommen. Wie kann man nur so unvorsichtig sein? Der Bolzen hätte auch durch Ihren Kopf gehen können.«
Jarek antwortete nicht, sondern zog sich an dem Baumstamm, an dem er kürzlich noch gelehnt hatte, auf die Beine. Er sah zu dem Versteck der Anarchisten. Die Scheinwerfer der Kabelmobile tauchten das Gebäude in grellweißes Licht. Direktoriumstruppen schwärmten wie behelmte Ameisen um das Haus herum, einige befanden sich sicherlich auch im Inneren.
»Wo ist Thale?«, fragte Jarek.
»So weit ich weiß, mit einem Stoßtrupp im Gebäude. Ich selbst war noch nicht da drinnen, aber ich habe es schon von den Männern gehört. Sie beide haben ja mit Nofris’ Leuten kurzen Prozess gemacht.«
»Waren unsere Männer schon im Keller?«, fragte Jarek.
Jaspert schüttelte den Kopf. »Ich weiß gerade nicht, was Sie damit meinen.«
Ein Schrei aus Richtung des Hauses ließ beide Männer den Kopf drehen. Aus der Haustür stürzten zwei Uniformierte ins Freie. Der eine erbrach sich unmittelbar nach der Schwelle, der andere lehnte sich wie zu Tode erschöpft...
| Erscheint lt. Verlag | 30.4.2016 |
|---|---|
| Mitarbeit |
Designer: Patrick Santy Cover Design: Johann Sturcz Assistent: Markus Becker |
| Überarbeitung | Mario Weiss |
| Verlagsort | Vachendorf |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Comic / Humor / Manga ► Humor / Satire |
| Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Horror | |
| Schlagworte | Carcosa • Gelber König • Hali • Hastur • Lovecraft • True Detective |
| ISBN-10 | 3-946309-07-0 / 3946309070 |
| ISBN-13 | 978-3-946309-07-9 / 9783946309079 |
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