Um dem totalitären System der überbevölkerten Erde zu entkommen, bricht eine Gruppe Siedler mit einem gewaltigen Schiff zum Planeten Rustum auf, der die Sonne Epsilon Eridani umkreist. Dort herrschen erdähnliche Bedingungen, aber der Luftdruck ist so hoch, dass Menschen nur auf Berggipfeln und Hochplateaus überleben können. Jahre, ehe die Kolonisten Rustum erreichen, erhalten sie einen Funkspruch von der Erde: Sie können zurückkehren, die neue Regierung garantiert Freiheit. Den Menschen auf dem Sternenschiff bleiben nur Stunden, um sich zu entscheiden, dann ist es für eine Rückkehr zur Erde zu spät. Ihre Entscheidung wird das Schicksal der Menschheit bestimmen ...
Poul Anderson (1926-2001) begann schon während seines Physikstudiums in den Vierzigerjahren mit dem Schreiben von Science-Fiction-Stories, um sich das Studium zu finanzieren. 1952 erschien dann sein erster Roman, und bis zu seinem Tod im Jahr 2001 veröffentlichte er sowohl Fantasy- als auch Science-Fiction-Texte, hielt dabei jedoch immer die Trennung der Genres aufrecht. Er gehörte zu den produktivsten SF-Schriftstellern in den USA und wurde mehrfach ausgezeichnet; unter anderem gewann er sieben Mal den Hugo Award. Vor allem seine Geschichten und Romane um die Zeitpatrouille machten ihn auch international bekannt. Anderson starb am 31. Juli 2001 in Orinda, Kalifornien.
1
Svoboda war ungefähr sechzig Jahre alt; genau wusste er es nicht. Bei den armen Leuten wurden solche Dinge selten beachtet, und seine früheste Erinnerung war, dass er an einem kalten Regentag weinend unter einer Hochbahnbrücke saß und die Züge über sich dahindonnern hörte. Nicht viel später starb seine Mutter, und jemand, der sich als sein Vater ausgab, es aber wahrscheinlich nicht war, verkaufte ihn an Inky, der ihn und andere Jungen zu Taschendieben ausbildete.
Sechzig war ein hohes Alter für einen Mann aus den unteren Schichten, ob er sein Leben im Lärm und Schmutz der Elendsviertel zubrachte, oder in Bergwerkstollen herumkroch, oder im Bauch eines Planktonfischers die Maschinen wartete. Für einen Bürger der oberen Schichten war einer mit sechzig ein Mann mittleren Alters. Svoboda, der die letzten zwanzig Jahre seines Lebens in dieser Kategorie verbracht hatte, sah uralt aus, konnte aber auf weitere zwei Dekaden hoffen.
Wenn man es Hoffnung nennen wollte, dachte er.
Sein linker Fuß schmerzte wieder. Er war verkrüppelt und steckte in einem orthopädischen Spezialschuh. Mit ungefähr zwölf Jahren war er mit einem silbernen Leuchter aus dem Besitz eines reichen Kaufmanns namens Hargrave über dessen Gartenmauer gestiegen. Hargrave, dem der Leuchter offenbar wichtiger gewesen war als das Leben eines Zwölfjährigen, hatte mit einer Pistole auf ihn geschossen, und ein Explosivgeschoss hatte Svobodas Fuß zerschmettert. Er war irgendwie entkommen, aber es war ein grausamer Schlag für einen Jungen gewesen, der zu Inkys vielversprechenden Lehrlingen gehört hatte und danach seinen Beruf – einen der wenigen, die einem Jungen aus den Slums offenstanden – nicht mehr ausüben konnte. Immerhin hatte Inky ein Herz und schickte ihn zu einem Hehler in die Lehre, der ihn zwang, Lesen und Schreiben zu lernen und ihn so auf die lange Straße nach oben brachte. Dreißig Jahre später, als Svoboda Bevollmächtigter für Astronautik und außerweltliche Fragen war, hatte ein bekannter Mediziner ihm eine Fußprothese empfohlen.
»Ich kann Ihnen eine machen, die selbst Sie kaum von dem echten Fuß unterscheiden können«, erbot er sich.
»Zweifellos«, sagte Svoboda. »Einige von meinen älteren Kollegen wackeln mit Herzprothesen und künstlichen Mägen herum. Ich bin sicher, dass der Fortschritt der Wissenschaft uns bald eine Gehirnprothese bescheren wird, die kaum von dem echten Ding zu unterscheiden ist.« Er zuckte mit den mageren Schultern. »Nein. Ich bin zu beschäftigt. Vielleicht später einmal.«
Das Beschäftigtsein bestand für ihn darin, aus dem astronautischen Ressort auszubrechen, einer berüchtigten Sackgasse, in die nervöse Vorgesetzte und eifersüchtige Kollegen ihn manövriert hatten. Und nachdem ihm das gelungen war, hatten ihn sofort andere Probleme beschäftigt. Die Zeit reichte nie hin. Man musste sich mächtig anstrengen, nur um zu bleiben, wo man war.
Aber der Fuß schmerzte häufig. Er blieb stehen, um den Schmerz abklingen zu lassen.
»Fühlen Sie sich nicht gut?«, erkundigte sich Ikeyasu besorgt.
Svoboda sah ihn an und lächelte. Seine beiden anderen Leibwächter waren ohne Persönlichkeit, verschwiegen und wachsam, auswechselbare Durchschnittsgestalten. Im Gegensatz zu ihnen ging Ikeyasu unbewaffnet; er war ein Karatekämpfer.
Ikeyasu bot ihm seinen Arm, und sein Schützling stützte sich darauf. Der Kontrast war lächerlich. Svoboda war knapp hundertfünfzig Zentimeter groß, mit einem glänzenden, haarlosen Schädel und einem aus Runzeln bestehenden Gesicht. Seine kindlich schmächtige Gestalt steckte in einem uniformähnlich geschnittenen dunkelblauen Anzug mit hochgeschlossenem Kragen, und von seinen Schultern fiel ein feuerroter Umhang. Wogegen der einen Meter achtzig große Japaner unauffälliges Grau trug und schulterlange Haare hatte.
Svoboda fummelte mit gelbfleckigen Fingern nach einer Zigarette. Er stand auf dem Dachlandeplatz seines Amtsgebäudes, hoch über der Stadt. Unten war nichts von den Parkanlagen zu sehen, mit denen die meisten seiner hochgestellten Kollegen ihre Verwaltungspaläste zu umgeben pflegten. Sein Ministerium erhob sich inmitten der verfallenden, grauen, gesichtslosen Vorstadt, die seine Heimat war. Soweit er durch den Dunst sehen konnte, erstreckte sich das Häusermeer, aber im Osten, jenseits der Hafenanlagen und Docks, lag die blaugraue Weite des offenen Atlantiks.
Die Schatten des Abends senkten sich über die Stadt. Lichter schimmerten herauf. Svoboda zündete seine Zigarette an. Der Blick seiner Augen wanderte an der kleinen Maschine vorbei, die ihn von seinem Haus hierher gebracht hatte, und blieb an der Venus hängen, deren heller Lichtschein den dunkelnden Westhimmel beherrschte. Er seufzte und zeigte hinauf. »Wissen Sie«, sagte er zu Ikeyasu, »ich bin beinahe froh, dass die Kolonie dort aufgegeben worden ist. Nicht allein, weil sie sich nicht bezahlt gemacht hat und wir uns heutzutage keine Verschwendung erlauben können. Noch aus einem anderen Grund.«
»Und welcher ist es?« Ikeyasu fühlte, dass der Kommissar reden wollte; sie waren seit vielen Jahren zusammen.
»Weil es jetzt wenigstens einen Ort gibt, wo man von der Menschheit verschont ist.«
»Venus ist nicht gut, Chef. Wenn Sie keine Menschen sehen wollen, können Sie zu den Sternen reisen und einen Ort finden, wo Sie keinen Schutzanzug brauchen.«
»Aber neun Jahre im Tiefschlaf bis zum nächsten Stern! Ein bisschen extrem für einen Erholungsurlaub.«
»Ja, Chef.«
»Und dann sind die Planeten, die man findet, genauso schlimm wie Venus … oder man hat Glück, und sie sind wie die Erde, aber nicht genug wie die Erde, und man hält es nicht aus, weil es einem das Herz bricht. Aber gehen wir. Es wird Zeit.«
Svoboda stützte sich auf seinen Stock und humpelte schnell über die Dachterrasse zu einer Rolltreppe, die ihn zwei Etagen tiefer in einen Korridor brachte. Hier waren seine Arbeitsräume und die seines persönlichen Stabes. Am Ende des Korridors war der Raum für Telekonferenzen. Ikeyasu begleitete ihn hinein, während die beiden anderen Leibwächter im Gang zurückblieben. Svoboda humpelte zu seinem Sessel und ließ sich von Ikeyasu Kontrollpult und Schreibtisch zurechtrücken. Die meisten seiner Kollegen, die ihn aus den im Halbrund angeordneten Bildschirmen anblickten, hatten ihre Berater und Referenten mitgebracht. Svoboda war allein zur Kabinettssitzung erschienen, wie es seine Gewohnheit war.
Premier Selim nickte und blickte in die Runde. Hinter seinem Bild war ein Fenster, durch das Palmen zu sehen waren.
»Fangen wir an«, sagte er. »Wir wollen uns nicht mit Formalitäten aufhalten. Bevor wir uns mit den Themen der Tagesordnung befassen, möchte ich die Frage stellen, ob noch andere dringliche Punkte zur Erörterung gebracht werden sollen?«
Rathjen, der gegenwärtige Kommissar für Astronautik, meldete sich schüchtern zu Wort. »Meine Herren, ich möchte nochmals die Frage der zusätzlichen Etatmittel für die Instandhaltung der Raumschiffe aufwerfen. Wir haben mehrere durchaus einwandfreie Raumfahrzeuge, die mit einem Aufwand von nur wenigen Millionen voll betriebsbereit gemacht werden könnten. Wenn wir uns jetzt nicht zur Bewilligung dieses kleinen Zusatzetats entschließen, werden die wertvollen Schiffe in ein paar Jahren nur noch Schrottwert haben, und der Verlust wäre ungleich höher. Und dann das Problem der astronautischen Akademien – es ist eng mit dem ersteren verknüpft. Die Qualität des Nachwuchses hat einen beklagenswerten Tiefstand erreicht, weil es kaum noch qualifizierte junge Menschen gibt, die sich für diese Laufbahn entscheiden. Ich meine, dass hier eine großangelegte Propagandakampagne an den übrigen Hochschulen vonnöten wäre, um das Interesse wiederzubeleben. Vielleicht lässt sich gemeinsam mit dem Ressort meines verehrten Kollegen Svoboda, dessen Zuständigkeitsbereich für Erziehung und soziale Fragen hier berührt wird, ein Förderungsprogramm ausarbeiten …«
»Bitte«, unterbrach Premier Selim geduldig. »Ein anderes Mal.«
»Eine Bemerkung dazu könnte nicht schaden«, sagte Svoboda. Er wartete die zustimmende Geste des Premiers ab, dann blickte er von Bildschirm zu Bildschirm. »Unser geschätzter Kollege hier, Kommissar Novikov, könnte Ihnen eine Anzahl guter Gründe für den Verfall der Astronautik nennen: mit jedem Tag mehr Menschen und weniger Rohstoffe. Wir können uns interstellare Entdeckungsreisen ebenso wenig leisten wie das verschwenderische System unkontrollierter Privatwirtschaft. Als wir vor zwanzig Jahren anfingen, die nötigen sozialen Reformen durchzusetzen, führte das zu dem bekannten Aufstand des nordamerikanischen Bürgertums.« Er lachte. »Wir müssen uns das zu Herzen nehmen und nicht leichtfertig das astronautische Ressort zur Revolte verleiten. Es ist einfacher, für weitere zehn oder zwanzig Jahre ein paar Raumschiffe zu betreiben, als Barrikaden aus Aktenordnern zu stürmen, die von verzweifelten Bürokraten bemannt sind. Aber Sie, Kollege Rathjen, dürfen nicht von uns erwarten, dass wir uns für eine Erweiterung oder auch nur für die Instandhaltung Ihrer ohnehin zu großen Flotte einsetzen.«
»Aber … Kollege Svoboda!«, keuchte Rathjen.
Selim räusperte sich. »Wir alle kennen den Humor unseres Kollegen Svoboda, aber ich denke, dass wir jetzt zur Sache kommen sollten. Herr Svoboda hat in meinem Auftrag eine Studie über das Problem der Konstitutionalisten ausgearbeitet, die jetzt vorliegt. Ich schlage vor, Kollege Svoboda, dass Sie die Grundzüge Ihrer Studie in diesem Kreis vortragen, um eine Beschlussfassung zu erleichtern.«
Die zwanzig Gesichter richteten ihre erwartungsvollen Blicke auf Svoboda, der sein Gesicht in Zigarettenrauch...
| Erscheint lt. Verlag | 30.11.2016 |
|---|---|
| Übersetzer | Walter Brumm |
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Orbit Unlimited |
| Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
| Schlagworte | Aufbruch ins All • diezukunft.de • eBooks • Klassiker der Science-Fiction • Kolonie • Poul Anderson • Totalitarismus |
| ISBN-13 | 9783641200527 / 9783641200527 |
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