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Was die Schweiz zusammenhält (eBook)

Vier Essays zu Politik und Gesellschaft eines eigentümlichen Landes
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
211 Seiten
Zytglogge (Verlag)
9783729620988 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Was die Schweiz zusammenhält -  Michael Hermann
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Welche Kräfte halten das heterogene Gebilde der Schweiz, bestehend aus Direkter Demokratie, Machtteilung und -begrenzung, Föderalismus, Mehrsprachigkeit etc. als stabile staatliche Einheit zusammen? Gibt es eine spezifische schweizerische Identität und, wenn ja, aus welchen Quellen nährt sie sich? Aus vier Perspektiven nähert sich der Politikwissenschaftler und Geograf Michael Hermann dem ?Phänomen Schweiz? an. Schicht für Schicht legt er dabei das feinstoffliche Gewebe frei, das dieses Land ausmacht und letztlich auch zusammenhält: «Diese eigentümliche Nationalität» Das Gewebe der Schweiz Von Stadt und Land Ein polarisiertes Land? «Bis heute wird am Nationalfeiertag die schweizerische ?Willensnation? beschworen. An allen anderen Tagen leben Schweizerinnen und Schweizer ihr Leben, ohne angestrengt nationale Beziehungsarbeit zu leisten. Dennoch schaffen sie ganz nebenbei Kohäsion. Genau dies ist der Zauber des Gewebes der Schweiz.»

Geb. 1971 in Huttwil, Studium der Geographie, Volkswirtschaft und Geschichte an der Universität Zürich, dort Promotion am Geographischen Institut, Mitgründer und Leiter der Forschungsstelle sotomo, Dozent am Geographischen sowie am Politikwissenschaftlichen Institut der Universität Zürich, Kommentator eidgenössischer Politik in seiner Kolumne im Bund und im TagesAnzeiger. ?Was die Schweiz zusammenhält? ist sein erstes Buch bei Zytglogge.

Geb. 1971 in Huttwil, Studium der Geographie, Volkswirtschaft und Geschichte an der Universität Zürich, dort Promotion am Geographischen Institut, Mitgründer und Leiter der Forschungsstelle sotomo, Dozent am Geographischen sowie am Politikwissenschaftlichen Institut der Universität Zürich, Kommentator eidgenössischer Politik in seiner Kolumne im Bund und im TagesAnzeiger. ‹Was die Schweiz zusammenhält› ist sein erstes Buch bei Zytglogge.

Das Gewebe der Schweiz


«Erklären kann man nur, indem man vergleicht», schrieb Emile Durkheim in seiner grossen soziologischen Pionierarbeit ‹Le suicide› von 1897. Wer die Schweiz verstehen will, tut gut daran, sich nicht allzu sehr auf sie zu fixieren. Das Spezielle offenbart sich erst im Kontrast, und manches, was als originär erscheint, ist womöglich Teil eines viel weiter gefassten Phänomens. Für seine Untersuchung sammelte Durkheim statistisches Material zur Selbstmordhäufigkeit in ganz Europa. Nur in einem Land konnte er den Einfluss verschiedener Sprachregionen und quer dazu verlaufender konfessioneller Gegensätze untersuchen. Das war in der Schweiz. Hier gibt es reformierte und katholische Gebiete in allen Sprachregionen. Es gibt sie selbst im italienischsprachigen Teil, der oftmals als ausschliesslich katholisch wahrgenommen wird. Dabei wurde das bündnerische Bergell im 16. Jahrhundert reformiert und ist es geblieben auch dann, als in Italien die protestantischen Bewegungen allesamt von der Inquisition weggefegt wurden und das Bergell so zum Refugium für Glaubensflüchtlinge wurde.

Für Durkheim war es ein ideales soziologisches Laboratorium, für das multikulturelle Land bedeuteten die sich überlagernden Gegensätze viel mehr als dies. Sie bilden das Gewebe der Schweiz. Sprache und Konfession sind die Grundschichten dieses Gewebes. Darüber spannen sich viele weitere Gegensätze zwischen Stadt und Land, Berg und Tal, reich und weniger reich. Sie geben dem Gewebe seine Festigkeit, weil sie alle eine ganz eigene räumliche Gestalt besitzen und dazu noch überlagert werden von einem ganz eigenen kleinteiligen Föderalismus, der die kulturellen und ökonomischen Spannungsfelder auf vielfältige Weise überschneidet.

Die Rhetorik der Abgrenzung, mit der die Eidgenossenschaft den ethnisch-nationalistischen Bewegungen im 19. Jahrhundert begegnete, wäre im Leeren verhallt, hätte das Gewebe aus sich überlagernden Spannungsfeldern das Land nicht von innen zusammengehalten. Im 20. Jahrhundert hat das Gewebe die Schweiz dann weitgehend vor gewaltsamen regionalistischen und separatistischen Bewegungen geschützt. Spätestens mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts haben jedoch viele der alten Gegensätze an Bedeutung verloren. Heute wird der Föderalismus ausgehöhlt. Das Gewebe ist fadenscheinig geworden. Was bedeutet das für die Zukunft des Landes? Bringt dies den Zusammenhalt der Schweiz in Gefahr? Was geschieht, wenn neue Konflikte das Land vor eine Belastungsprobe stellen? Das sind ernste Fragen, doch auf sie finden wir keine Antwort, wenn wir die Schweiz als isoliertes Gebilde betrachten. Die Schweiz ist längst Teil des Gewebes Europas. Ihr Schicksal ist mit dem Schicksal Europas verwoben. «Erklären kann man nur, indem man vergleicht», meinte Durkheim, verstehen kann man die Schweiz nur, wenn man Schicht für Schicht in das Gewebe eindringt, aus dem eine Gesellschaft geschaffen ist. Genau das will ich nun tun.

Wie Konfession und Sprache zusammenspielten


Zur ersten grossen Zerreissprobe im Gewebe der Schweiz kam es schon vor der Gründung des Bundesstaats von 1848. Unter dem Eindruck der erstarkenden freisinnig-radikalen Bewegung schlossen sich die konservativen katholischen Kantone zu einem Sonderbund zusammen. Es war jedoch kein Religionskonflikt im engeren Sinn, sondern ein weltanschaulicher Gegensatz zwischen radikalen Bundesstaatsbefürwortern und konservativen Föderalisten. Das katholische Tessin etwa kämpfte auf der Seite der Reformierten für den Bundesstaat, und auch in den anderen katholischen Kantonen gab es teils starke radikale Bewegungen. Die feine Diskrepanz zwischen Konfession und Weltanschauung ist auch eine Facette der Stabilität im schweizerischen Gewebe. Die Verbindung zur Konfession war nur eine indirekte. Sie entstand nicht zuletzt, weil die vorindustrielle Entwicklung fast ausschliesslich in reformierten Regionen stattgefunden hatte. Zusammen mit den Manufakturen und den Handelsplätzen entwickelte sich hier eine selbstbewusste bürgerliche Schicht, in der die Ideen der freisinnigen Revolutionäre einen besonders guten Nährboden fanden.

Max Webers berühmte These von 1904, dass die «protestantische Ethik» dem «Geist des Kapitalismus» zugrunde liege, unterstellt einen direkten Zusammenhang. Durch die Betonung von Askese und Fleiss habe, so Weber, die reformierte Theologie die mentalen Voraussetzungen für die industrielle und kapitalistische Entwicklung geschaffen. Man muss nicht so weit gehen wie Weber. Wahrscheinlicher ist, dass die Reformation und die industrielle Entwicklung einfach von denselben Faktoren begünstigt wurden. Dort, wo es bereits Ansätze einer selbstbewussten gewerblich-bürgerlichen Schicht gab, etwa in Zürich, fiel die Reformation mit ihrem individuelleren Glaubensbekenntnis und ihrer Kampfansage an die klerikalen Hierarchien auf fruchtbaren Boden. Hier waren aber auch die Voraussetzungen für unternehmerisches Denken und die einsetzende Protoindustrialisierung besonders günstig.

In den konservativeren, katholischen Regionen weckte die Idee eines Bundesstaats teils heftigen Widerstand. Ein von Reformierten dominierter Bundesstaat erschien für viele als Angriff auf die eigene Identität. Unbegründet waren diese Ängste nicht. Die Radikalen betrieben eine massive antiklerikale Propaganda, die sich besonders heftig am jesuitischen Orden entlud. Dieser wurde als verlängerter Arm Roms gesehen, der die Schweiz ideell zu untergraben drohe. Im Aargau hoben die Freisinnigen die Klöster aus, und Banden von Radikalen fielen in zwei ‹Freischarenzügen› in die konservative Zentralschweiz ein.

Während in der Schweiz diese weltanschaulich-konfes­sionellen Konflikte tobten, avancierte in Europa die Sprache zum zentralen Merkmal der kulturellen und nationalen Abgrenzung. Dabei geriet die Schweiz in der Nord-Süd-Achse unvermittelt in den Sog der deutschen und italienischen Einigungsbewegungen, welche die virulentesten Nationalismen Europas hervorbrachten. In Ost-West-Richtung stand sie zwischen den Fronten der ‹deutsch-französischen Erbfeindschaft›, die zwischen 1870 und 1945 in drei blutige Kriege mündete.

Paradoxerweise können Konflikte im Inneren stabilisierend sein für den Zusammenhalt. Der weltanschaulich-konfessionelle Gegensatz federte den für die mehrsprachige Schweiz verhängnisvollen sprachlich-ethnisch geprägten Nationalismus ab, weil er quer dazu verlief. Die Lehren aus der Schweiz des 19. Jahrhunderts lassen sich durchaus auf das konfliktreiche Europa der Gegenwart übertragen. Spannungsfelder, die sich nicht aufschaukeln, sondern durchkreuzen, festigen ein Gewebe. Das gilt für Europa nicht anders, als es für die Schweiz gegolten hatte.

Ich werde darauf zurückkommen, doch nun schön der Reihe nach: In der Schweiz verlor der konfessionelle Gegensatz nach der Bundesstaatsgründung zunächst an Virulenz. Fast wie durch ein Wunder erwachte er jedoch genau dann wieder, als er für die nationale Kohäsion besonders gefragt war. Dies war im Sommer 1870, als sich der französische Kaiser Napoleon III. und der preussische Ministerpräsident Bismarck gegenseitig in den Krieg eskalierten. Der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 löste in der Schweiz ernste Loyalitätskonflikte aus. Die Romands sympathisierten mit den Franzosen, die Deutschschweizer mit dem sich formierenden Deutschland. Nur einen Tag nachdem Frankreich Preussen den Krieg erklärt hatte, verkündete jedoch der Papst in Rom seine Unfehlbarkeit in Glaubensfragen. Die in Rom am Vatikanischen Konzil versammelten katholischen Prälaten versuchten, die Autorität des Papstes in einer Zeit der Säkularisierung zu restaurieren. Sie provozierten damit jedoch vor allem einen konfessionellen ‹Kulturkampf›, wie er heute auf anderer Ebene wieder ein Revival zu erleben scheint. Mit dem Vatikanischen Konzil entbrannte in der Schweiz, in Deutschland und anderen Ländern ein heftiger Konflikt über die Rolle der katholischen Kirche und den Einfluss Roms. Jeder Schweizer und jede Schweizerin sah sich in den sprachlichen und konfessionellen Spannungsfeldern des späten 19. Jahrhunderts mit multiplen Loyalitäten konfrontiert. Weil sich Sprache und Konfession nicht deckten, schufen diese multiplen Loyalitäten ein Gewebe, das sich nicht mehr zertrennen liess.

Belgisches Kontrastbild


Wer nun denkt, die sich überlagernden Spannungsfelder seien bloss eine weitere nette Facette der schweizerischen Nationalmythologie, unterschätzt die Sprengkraft kultureller Gegensätze. Ganz im Sinne Durkheims zeigt sich dies am besten im Vergleich. Ein fast idealtypisches Gegenbild zu einem eng verflochtenen Gesellschaftsgewebe ist Belgien. Das zweisprachige Land ist kein ‹Failed State›, doch es bewegt sich seit Jahren am Rand des Auseinanderbrechens. Im katholischen Belgien wird der linguistische Gegensatz nicht wie in der Schweiz von einer zweiten, quer dazu verlaufenden, kulturellen Teilung konterkariert. Dafür wird der Gegensatz zwischen dem französischsprachigen Wallonien und dem niederländisch geprägten Flandern durch weitere Spannungsfelder verstärkt, die sich alle entlang der Sprachgrenze aufgestaut haben.

Auch der Zufall hatte dabei seine Finger im Spiel. Die nahe der wallonischen Zentren Charleroi und Lüttich entdeckten Eisenerz- und Kohlevorkommen machten Belgien im 19. Jahrhundert zum nach England am stärksten industrialisierten Land Europas. Vom Industriezentrum Charleroi ging nicht nur die europäische Arbeiterbewegung aus. Hier hat auch die traditionell sozialistisch geprägte politische Kultur Walloniens ihre Wurzeln. Während die Bodenschätze ausschliesslich im frankophonen Landesteil lagen, blieb die flämische Region Belgiens noch lange landwirtschaftlich geprägt. Dabei...

Erscheint lt. Verlag 15.8.2016
Verlagsort Basel
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Abstimmungen • Bund • Demokratie • Direkte Demoktratie • Föderalismus • Gesellschaft • Kantone • Konflikte • Konsens • Land • Masseneinwanderungsinitiative • Mehrsprachigkeit • Nation • Nationale Identität • Politik • Rechtsrutsch • Reformen • Schweiz • schweizerische Identität • Stadt • Wahlen • Willensnation • Zusammenhalt
ISBN-13 9783729620988 / 9783729620988
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