I.Q. (eBook)
388 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74844-2 (ISBN)
I.Q. nennt man Isaiah Quintabe in den schwarzen Hoods von Los Angeles. Weil er ein Genie ist und weil er als eine Art Nachbarschaftsdetektiv ohne Lizenz den »kleinen Leuten« zu ihrem Recht verhilft. Oder wenn das schwierig ist, immerhin zu Gerechtigkeit, Genugtuung und Entschädigung. Zusammen mit seinem sidekick, dem schlagfertigen Gangsta Dodson, wird er wider Willen von dem Top-Rapper Black the Knife angeheuert, um Mordanschläge auf dessen Leben aufzuklären. Das führt ins finstere Herz des Rap-Business, wo sich jede Menge wunderliche und tödliche Gestalten tummeln: Gangsta Rapper, Bitches, Anwälte, Auftragskiller, Drogenbosse, Big-Business-Leute und Medienvolk.
Bald haben es I.Q. und Dodson mit verfeindeten Gangs, schießwütigen Narcos und gierigen Musikproduzenten zu tun. Gut, dass I.Q. ein Weltmeister der Deduktion ist, und gut auch, dass er notfalls genauso viel kriminelle Energien hat wie seine Widersacher. Oder noch mehr ...
»Joe Ides Debütroman ist der fulminante Auftakt einer wahnsinnig hinreißenden Krimiserie über einen ziemlich schlauen Kerl und das packend beschriebene kriminelle Umfeld, in dem er sich bewegt.« Janet Maslin, The New York Times
<p>Joe Ide, aufgewachsen in South Central, L.A., mit japanisch-amerikanischen Wurzeln, war Lehrer, Manager, Drehbuchautor und arbeitete für eine NGO. Er lebt mit seiner Familie in Santa Monica.</p>
Joe Ide, aufgewachsen in South Central, L.A., mit japanisch-amerikanischen Wurzeln, war Lehrer, Manager, Drehbuchautor und arbeitete für eine NGO. Er lebt mit seiner Familie in Santa Monica. Conny Lösch, geboren 1969 in Darmstadt, lebt als Literaturkritikerin und Übersetzerin in Berlin.
2
Mai 2005
ALLES LIEBE
Isaiahs Handy brummte. Wahrscheinlich war’s Dante, der wissen wollte, wieso er nicht beim Zehnkampftraining war. Morgen hatten sie einen Wettkampf mit der Mannschaft von der Crenshaw High, aber Isaiah hätte das nicht egaler sein können. Seit gestern Abend vergrub er das Gesicht im Sofa, die Webstruktur des tweedartigen Stoffs zeichnete sich auf seiner Wange ab und sein Mund war trocken wie verbrannter Toast. Er wartete. Atmete kaum. Der Wasserhahn über der Spüle tropfte träge. Gleich musste Marcus in eine Dampfwolke gehüllt aus dem Bad kommen und frisch wie der Ozean nach Deo duftend einen alten Motown-Song singen. »Let’s Get It On«, »I Wish it Would Rain« oder »Sugar Pie Honey Bunch«.
»Ich hab gerne was mit Melodie«, sagte Marcus immer, wenn Isaiah ihn schief ansah. »Ich mag Songs.« Und Marcus hielt sich nicht zurück, wenn er sang. Kein Gesumme mit ein paar eingestreuten Textzeilen. Er sang aus voller Kehle und machte auch die richtigen Bewegungen dazu. Rollte die Hände wie ein Hamsterrad oder streckte die Arme aus, weil er gar nicht anders konnte, als sie zu lieben und niemanden sonst. Wenn Marcus »My Girl« sang, wollte er immer, dass Isaiah »my girl, my girl, my girl« mitsang, aber er weigerte sich, weil er meinte, es sei ihm zu schnulzig. In Wirklichkeit aber wünschte er, er wäre auch so. Albern, ohne sich dafür zu schämen. Und ohne sich darum zu scheren, was die anderen dachten.
Der Hahn tropfte jetzt schneller. Isaiah spürte wie Schmerz und Entsetzen langsam auf ihn zu gekrochen kamen, ihn anfraßen, sein Nichtwahrhabenwollen niederbrannten. Marcus kam nicht aus dem Badezimmer und er würde nie wieder herauskommen und Isaiah spürte, wie er selbst zu Asche zerfiel und sich im Nichts auflöste.
Sie waren auf der Baldwin, gingen vom McClarin Park nach Hause. Gerade hatten sie gegen Carlos und Corey gespielt und sich ganz schön in den Arsch treten lassen, Isaiah war kaum zum Zuge gekommen.
»Corey ist zu groß«, maulte Isaiah, »der ist schon ausgewachsen.«
»Wieso bist du dann mit Kraft gegen ihn angegangen?«, fragte Marcus. »Du musst dir deiner selbst bewusst sein, deine Gefühle kontrollieren, das Ganze betrachten, die Gesamtsituation. Stattdessen machst du auf Macho und spielst Coreys Spiel, nicht dein eigenes. Du bist schneller als er, du hättest ihn zwingen sollen, dir zu folgen. Und dann deine Abwehr, wenn man das überhaupt so nennen will. Corey hat Körbe gemacht, als wärst du gar nicht da.«
»Er hat mich ständig gezwungen, nach unten auszuweichen.«
»Dann hättest du ihm den Ball weiter oben abnehmen müssen, ihn zwingen müssen auszuschlagen, ihn von seinem Platz fernhalten. Er konnte die Pässe viel zu leicht abfangen.«
»Hättest du mir das nicht während des Spiels sagen können?«
»Hab drauf gewartet, dass du’s dir selbst sagst.«
Isaiah hatte nicht viel für Basketball übrig, Marcus schon und das war Grund genug zu spielen.
»Du musst als Erster loslegen«, sagte Marcus. »Die Initiative ergreifen, das Spiel diktieren, nicht nur reagieren. Sonst überlässt du dem anderen das Kommando. Verstehst du den Unterschied?«
Viele Kinder hätten bei so vielen guten Ratschlägen und Ermahnungen die Augen verdreht, aber Isaiah machte das nichts aus. Er sah Marcus gerne beim Reden zu; wie er breit und fröhlich grinste oder eindringlich die Stirn runzelte, mit einer Hand der anderen Karateschläge verpasste.
»Aus dir wird kein Basketballstar«, sagte Marcus, »aber ein Star wirst du bestimmt. Auf welchem Gebiet, liegt ganz bei dir. Die meisten müssen klarkommen mit dem, was das Schicksal für sie vorgesehen hat. Aber du mit deinem Verstand? Du kannst dein Schicksal selbst bestimmen, kannst dein eigenes Spiel spielen, und niemand außer dir selbst kann dich davon abhalten.«
Isaiah hatte ein schlechtes Gewissen, wenn Marcus redete, als wäre sein eigenes Leben bereits in Stein gemeißelt und als könne sich für ihn nichts mehr ändern. Er war erst fünfundzwanzig und der klügste Mensch, den Isaiah kannte. Klüger als Sarita, die Jura studierte. Klüger als Mr. Galindo, der die Zehnkampfmannschaft trainierte und klüger als Dantes Eltern, die beide Psychiater waren.
»Du gehst dahin, wohin Gott dich ruft«, sagte Marcus. »Wirst Lehrer, Arzt, Wissenschaftler oder Schriftsteller. Ist mir eigentlich egal. Hauptsache, du machst was Gutes. Du könntest wirklich was verändern, Isaiah. Richtig viel. Ich rede davon, Leuten ein besseres Leben zu ermöglichen, ihr Elend zu lindern, für mehr Gerechtigkeit in der Welt zu sorgen. Geld hat damit nichts zu tun, verstehst du, was ich dir sage? Gott hat dir keine Begabung geschenkt, damit du Hedgefonds-Manager wirst. Wenn du diesen Weg einschlägst, mich enttäuschst, dir einen Bentley kaufst oder ein Grundstück mit Golfplatz, dann tret – ich – dir – in den Arsch.«
»Hast du schon gesagt«, erwiderte Isaiah.
»Ich weiß, dass ich dir ständig das Ohr abkaue, aber du bist mein kleiner Bruder, mein Blut, mein Stolz und meine Freude. Für dich will ich alles. Alles.«
»Das hast du auch schon gesagt.«
Sie blieben auf der Baldwin, gingen bis runter zur Anaheim und warteten an der Ampel, bis sie grün wurde. Jetzt zur Stoßzeit herrschte in beiden Richtungen dichter Verkehr. Kaum zu glauben, dass es so viele Autos gab. Sie kamen eins nach dem anderen wie in einer Endlosschleife; als würden sie in hundert Jahren immer noch heranströmen, vorausgesetzt, die Stadt war noch nicht infolge des Klimawandels unter Wasser versunken.
»Was willst du essen?«, fragte Marcus.
»Mir egal«, behauptete Isaiah.
Der Neuner-Bus fuhr vorbei, stieß heiße Luft aus und blieb an der Haltestelle stehen, die Menschen stellten sich zum Einsteigen an.
»Ich spring noch mal kurz in den Laden. Geh du schon nach Hause, mach Hausaufgaben. Bei dem Mathetest neulich hattest du nur sechsundneunzig Prozent.«
»Nur?«
»Die Koreaner schaffen sechsundneunzig Prozent mit einer Hand und spielten mit der anderen Geige. Wenn du nach Harvard willst, musst du besser werden.«
»Ach, geh ich jetzt schon nach Harvard?«
»Wenn ich mitzureden habe, auf jeden Fall. Lust auf Hackbraten?«
»Ja, Hackbraten ist gut.«
»Oder Eintopf? Wir haben noch Rindfleisch im Kühlschrank.«
»Was am einfachsten ist.«
Die Ampel wurde grün und Marcus machte einen Schritt rückwärts. »Einfach spielt keine Rolle«, behauptete er. »Sag, was du willst.«
Es ging alles so schnell. Ein Motor heulte auf, Chrom blitzte, der entsetzliche Augenblick des Aufpralls, Fleisch und Knochen wurden unter Blech und Tempo zermalmt. Marcus klappte nach vorne, schlug Purzelbäume in der Luft und knallte mit einer solchen Wucht auf den Gehweg, dass er von den Bodenplatten abprallte und in die Höhe hüpfte. Eine wirbelnde Wolke aus Abgas und Staub zog sich hinter dem davonrasenden Wagen her. Ringsum Rufen und Schreien, aber Isaiah hörte nichts. Er stolperte auf seinen Bruder zu, fiel neben ihm auf die Knie und schrie Hilfe, Hilfe, helft uns doch.
Marcus sah aus wie eine aus einem fahrenden Auto geworfene Marionette, zu unbeweglich für ein lebendiges Ding, seine Arme und Beine standen in unnatürlichen Winkeln ab. Die Sanitäter schwirrten um ihn herum, holten Sachen aus orangefarbenen Kisten und sprachen miteinander. Einer schnitt Marcus den Rucksack mit einer Schere vom Rücken. Blut war darauf und auch auf dem Handschuh des Sanitäters. Isaiah konnte nicht mehr hinsehen und wandte den Kopf ab. Er wollte fragen, ob mit Marcus alles okay war, aber er fürchtete sich vor der Antwort.
Die Sanitäter ließen Isaiah nicht im Krankenwagen mitfahren, deshalb brachte ihn ein Polizist ins Long Beach Memorial. Im Wartezimmer konnte er sich nicht hinsetzen, bedrängte jeden, der durch die Tür in den Befugten vorbehaltenen Bereich ging oder dort herauskam. Was ist mit Marcus? Ist er noch im OP? Wann kommt der Arzt? Kann ich mit ihm reden? Isaiah rief Marcus’ Freund Carlos an, der in zehn Minuten da war. »Marcus schafft das schon, der ist hart im Nehmen«, erklärte Carlos. »Alles wird gut, wart’s nur ab.«
Drei Stunden später kam ein Arzt. Er sprach mit jamaikanischem Akzent und wirkte trotz hoher Stirn und randloser Brille noch sehr jung. Sie hätten getan, was sie konnten, erklärte er, aber Marcus habe massive innere Verletzungen erlitten und sei gestorben.
Isaiah schüttelte den Kopf und lächelte, als wüsste er, dass der Arzt ihn nur auf den Arm nahm. »Nein, vergessen Sie’s«, sagte er. »Marcus ist da drin, das weiß ich, lassen Sie mich mit ihm reden – lassen Sie mich rein …« Ein Geräusch entfuhr ihm; roh, schneidend und so voller Kummer, dass er als Sprachrohr für einen Höllengefangenen hätte dienen können. Carlos wollte ihn in die Arme nehmen, aber Isaiah stieß ihn fort und schluchzte in seine Hände.
Carlos sagte, Isaiah könnte bei ihm wohnen. Seine Töchter könnten zusammenziehen, dann hätte er ein Zimmer für sich. Lucy habe was zu essen gekocht. Aber Isaiah erklärte Carlos, seine Großmutter aus El Segundo würde kommen und er sei zu Hause mit ihr verabredet. Carlos wusste nicht, dass es keine Großmutter gab, seine einzigen Verwandten in North Carolina lebten und Isaiah sie weder kannte noch je mit ihnen gesprochen hatte.
Isaiah stand vom Sofa auf, ging ins Bad und kotzte ins Klo. Er blieb lange dort, den Kopf auf den kühlen Rand...
| Erscheint lt. Verlag | 16.11.2016 |
|---|---|
| Reihe/Serie | IQ-Serie | IQ-Serie |
| Übersetzer | Conny Lösch |
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Unlicensed and Undaground |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
| Schlagworte | Anthony Award 2017 • Auftragskiller • Bandenkrieg • Gangs • Gangsta Rapper • Genie • Holmes und Watson • Hood • I.Q. • IQ • IQ deutsch • Los Angeles • Page Turner • Rap • Rapper • Shamus Award 2017 • South Central L.A. • Spannung • ST 4728 • ST4728 • suhrkamp taschenbuch 4728 • The Macavity Award 2017 • Thriller • Thriller-Serie |
| ISBN-10 | 3-518-74844-0 / 3518748440 |
| ISBN-13 | 978-3-518-74844-2 / 9783518748442 |
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