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Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten (eBook)

Briefe 1952-2011

Sabine Wolf (Herausgeber)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
1040 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74796-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten -  Christa Wolf
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»Post, Post, Post«. Dieser Stoßseufzer, notiert im Kalender unter dem Datum vom Sonntag, dem 4. März 1990, kommt nicht von ungefähr: Christa Wolf war eine ungeheuer produktive Korrespondentin. Ihre Briefe an Verwandte und Freunde, Kollegen, Lektoren, Politiker, Journalisten geben faszinierende Einblicke in ihre Gedankenwelt, ihre Schreibwerkstatt, ihr gesellschaftliches Engagement. Ob sie an Günter Grass oder Max Frisch schreibt, von Joachim Gauck Einsicht in ihre Stasi-Akte fordert oder sich mit Freundinnen wie Sarah Kirsch und Maxie Wander austauscht, wir sind Zeuge von Freundschaften und Zerwürfnissen, Auseinandersetzungen und von Bestätigung, von der Selbstfindung einer der wichtigsten Autorinnen des 20. Jahrhunderts. Nicht zuletzt beeindruckt ihr Umgang mit der Flut von Leserbriefen, die sie mit zunehmendem schriftstellerischen Erfolg erreicht und auf die sie geduldig und kundig - und manchmal auch mit der gebotenen Direktheit - eingeht.

<p>Christa Wolf, geboren 1929 in Landsberg/Warthe (Gorz&oacute;w Wielkopolski), lebte in Berlin und Woserin, Mecklenburg-Vorpommern. Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen, darunter dem Georg-B&uuml;chner-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Uwe-Johnson-Preis, ausgezeichnet. Sie verstarb am 1. Dezember 2011 in Berlin.</p>

31 An Nora Büchner, Lünen/Westfalen

[Kleinmachnow], 2. ‌1. ‌63

Liebe Nora,

wie kommst Du darauf, daß ich mich nicht mehr an Dich erinnern könnte? Gerade in letzter Zeit hatte ich manchmal an Dich gedacht, und ich habe mich wirklich gefreut, als Dein Brief kam. Am meisten freute ich mich über die Meldung, daß Du einen kleinen Jungen hast, ich kann mir denken, wie schön das für Dich ist. Meine sind schon groß, 12 und 7 Jahre, die Kleine, Tinka (Katrin) geht seit dem Herbst zur Schule.

Wir wohnen hier fast wie auf dem Lande, allerdings erst seit einem guten Jahr, es ist sehr schön für die Kinder, und auch für uns nicht schlecht, weil man Berlin ja schnell erreichen kann. Wie kommst Du nach Lünen? Wie ist es Dir überhaupt ergangen, seit Du, das muß nun wohl zehn Jahre her sein, zum letzten Mal in Karlshorst bei uns warst? Wir haben inzwischen in Halle gewohnt, irgendwie hat es sich bei uns eingebürgert, daß wir alle drei Jahre umziehen. Dadurch habe ich viele Städte und Leute kennengelernt, das ist ja wichtig für mich. Ich hab vorher schon ein kleines Büchlein geschrieben, »Moskauer Novelle«. Der »geteilte Himmel« ist das zweite. Ich schick's Dir mit. Über das Echo bin ich selbst erstaunt, unter anderem haben sich mehrere alte Bekannte dadurch wieder eingefunden, also auch Du. Mir ist es sehr recht, wenn wir wieder in Kontakt kommen, obwohl das gar nicht leicht sein wird, brieflich wieder wirklichen Kontakt zu kriegen, man müßte sich mal sehen. Schick mir doch mal ein Bild, ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie Du jetzt aussiehst. Ich schick Dir auch eins.

Abb. 2. Christa und Gerhard Wolf in Kleinmachnow, Anfang 1965

Du wirst Dich noch an Christa Tabbert erinnern. Sie hieß seit ihrer Verheiratung Gebauer, wir waren bis zuletzt eng befreundet. Sie ist Anfang des letzten Jahres gestorben, an Leukämie. Drei kleine Mädchen sind zurückgeblieben, das älteste 7 Jahre. Ihr Mann, der Tierarzt ist, lebt nun mit den Kindern in einem ganz abgelegenen Haus, das sie sich gerade gemeinsam erbaut hatten, in Mecklenburg …

Schreib mir bald wieder. Alles Gute Dir und Deiner Familie für das Neue Jahr. Wenn Du mein Buch gelesen hast, weißt Du mehr über mich als ich über Dich. Also mußt Du dafür längere Briefe schreiben!

Herzlich Deine

//Christa//

32 An Heinz Quermann, [Berlin (Ost)]

[Kleinmachnow], 23. ‌1. ‌63

Werter Herr Quermann!

Anlaß meines Briefes ist Ihr Programm am letzten Sonntag nachmittag, das ich am Fernsehschirm verfolgt habe. Diejenige Passage Ihrer Conférence, die sich mit ordinären Verunglimpfungen einiger unserer Schriftsteller befaßte, hat in mir, in vielen meiner Kollegen und in anderen Leuten, die ich gesprochen habe, Empörung hervorgerufen.1

Sie wissen sehr gut, daß Stephan Hermlin und Günter Kunert gute Schriftsteller sind, die unsere Republik mit hohen Auszeichnungen bedacht hat. Abgesehen von ihren Verdiensten für unseren Staat, hat der eine in der Nazizeit als Kommunist gegen den deutschen Faschismus gekämpft, der andere, damals noch ein Kind, hat schwer unter ihm gelitten. Die Partei wird, wenn sie sich mit Genossen auseinandersetzt, niemals das Mindestmaß an menschlichem Anstand verletzen. Ihnen, Herr Quermann, der Sie die auf dem Parteitag kritisierten Vorgänge gar nicht kennen,2 Ihnen ging es nicht um Kritik, Ihnen ging es um billige Stimmungsmache durch persönliche Diffamierung. Auf diese Weise haben Sie Menschen, die Achtung verdienen und alles andere als unsere Gegner sind, vor Millionen Zuschauern verhöhnt.

Nach meiner Ansicht ist unserem Staat und unserer Partei aus Ihrem Auftreten ein großer politischer und kulturpolitischer Schaden erwachsen, der nur schwer wiedergutzumachen ist. Diese Ansicht werde ich auch öffentlich vertreten, wo ich dazu Gelegenheit haben sollte.

Da Sie mich nicht kennen: Ich saß auf der Tribüne des Parteitags auf dem Platz links neben Ihnen.3

//Christa Wolf//

 

 

1

  

Am Nachmittag des 20. ‌1. ‌1963 findet in der Berliner Dynamo-Sporthalle im Rahmen des VI. SED-Parteitags (15. ‌- ‌21. ‌1. ‌1963) eine Veranstaltung statt mit Konzert, Rezitationen, Artistik. Neben Ulbricht sind u. ‌a. auch Nikita Chruschtschow und Władysław Gomułka anwesend. Quermann nimmt in seiner Conférence Hermlins lyrische Unproduktivität aufs Korn und trifft damit einen schon Angeschlagenen (vgl. Anm. 5 zu Brief 30 an Willi Sitte). Die Attacke auf Kunert richtet sich gegen seine – chiffriert-staatskritischen – drei Gedichte, die er in der Weltbühne vom 2. ‌1. ‌1963 veröffentlicht hat: Auch die Würmer …, Als unnötigen Luxus …, Unterschiede. Die Ostsee-Zeitung beginnt am 12. ‌1. ‌1963 eine Kampagne dagegen, in der sich u. ‌a. Edith Braemer exponiert. Schon im Dezember 1962 ist Kunert Gegenstand eines Pressefeldzuges nach der Uraufführung seiner Fernsehoper Fetzers Flucht gewesen. Das Erscheinen des Bandes Der ungebetene Gast, dem die drei inkriminierten Gedichte entstammen, verzögert sich. Erst 1965 kommt ein Band dieses Titels heraus, der jedoch nicht mit dem Manuskript von 1962 identisch ist. Auch die Würmer … ist in der Publikation nicht enthalten.

2

  

Auf dem Parteitag werden einerseits Kursänderungen in der Wirtschaft in Richtung erhöhter Flexibilität und Eigenverantwortung beschlossen, um der ökonomischen Misere zu begegnen. Andererseits attackiert man missliebige Entwicklungen im Kulturbereich, »Modernismus«, »Formalismus«, Züge »bürgerlicher Dekadenz«. Neben einzelnen Schriftstellern, darunter außer den Genannten etwa Peter Hacks, werden auch die Akademie der Künste und deren Literaturzeitschrift Sinn und Form unter ihrem Chefredakteur Peter Huchel getadelt (vgl. u. ‌a. Matthias Braun, Kulturinsel und Machtinstrument. Die Akademie der Künste, die Partei und die Staatssicherheit, Göttingen 2007, v. ‌a. ‌S. 173-181, sowie Zwischen Diskussion und Disziplin, S. 212-235).

3

  

Auf dem Parteitag wird Wolf zur Kandidatin des ZK der SED gewählt, die sie nominell bis 1967 bleibt. Quermann beruft sich in seinem Antwortbrief vom 6. ‌2. ‌1963 (in: CWA 1791) auf die Freiheit der Satire und bekräftigt seine Kritik an Hermlin und Kunert.

33 An Sarah und Rainer Kirsch, Halle (Saale)

Kleinmachnow, d. 23. ‌1. ‌63

Liebe Kirschen!

Euer Brief ist traurig und kann einen traurig machen.1 Ich könnte Euch auch was über Stimmungen erzählen. Aber wißt Ihr, man muß glaub ich drüberwegkommen, muß sich nochmal alles genau ansehen, was man geschrieben hat, muß sich selbst überprüfen, ob man es ohne Hintergedanken geschrieben hat und es immer und überall verteidigen könnte. Wenn man überzeugt ist: das kann man, dann soll man es auch tun. – Dein Artikel, Sarah, in der »Freiheit« ist anständig, noch besser wäre er, wenn er im Ganzen gedruckt worden wäre. Ich aber halte Dein Gedicht nach wie vor für ordentlich.2 Ich kam nicht auf die Idee, es anders zu deuten, als Du selbst es in dem Artikel tust. Leider ist aus Gründen, die mir selbst noch nicht völlig klar sind, eine Situation eingetreten, in der die Mißdeutungen von Gedichten tatsächlich zu einem politischen Faktor werden und sich auf einmal, ohne daß der Dichter vorher daran gedacht hat, gegen das richten, wofür er schreibt. Wir können das bedauern, aber wir müssen damit rechnen und dafür sorgen, daß wir völlig eindeutig sind, daß es gar keinen Zweifel geben kann, wofür eine Sache steht, daß wir auch in der Thematik genau überlegen, was man veröffentlichen soll. Ich weiß, daß bei dieser Gelegenheit wieder ein ganzes Schock für kürzere oder längere Zeit in Opportunismus abrutschen kann, aber Ihr versteht mich sicher richtig, daß ich Euch nicht das rate, sondern nichts weiter als: Größte Klarheit. Unter Umständen kann einem selbst der Zwang dazu nützen, wenn das auch aussieht, als hieße es, aus der Not eine Tugend machen. Zwei große Gefahren gibt es: Daß man sich selbst gegenüber mißtrauisch wird und anfängt, Sachen zuzugeben, an die man im Traume nicht gedacht hat (ich würde Euch bis zum Letzten gegen den Vorwurf des Genossen Machacek verteidigen, Ihr würdet »alles das, was unser Volk im entbehrungsreichen Kampf für den Sieg des Sozialismus leistet, verunglimpfen und in den Schmutz ziehen«);3 und die zweite: Daß man im Feuer der Kritik, die oft unsachlich ist und mit falschen Methoden geführt wird, die Selbstkritik verliert. Das ist die schlimmste Folge falscher Kritik, denn ohne Selbstkritik können wir alle, die wir ja erst anfangen zu schreiben, keinen Schritt weiterkommen.

Wir müssen wohl damit rechnen, daß, vor allem in nächster Zeit, die richtige kulturpolitische Linie der Partei nicht überall richtig ausgelegt wird. Herr Quermann, dem ich einen geharnischten Brief geschrieben habe, hat ja das Signal zum fröhlichen Holzhacken geblasen. Wer sich dagegen wehrt, tut das nicht nur für sich selbst, sondern er schützt die Partei vor Leuten, die sie, unter dem Deckmantel, ihr zu dienen,...

Erscheint lt. Verlag 14.11.2016
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • BRD • DDR • Engagement • Familie • Freundschaft • Kultur • Literatur • Politik • Schreiben • Schriftstellerdasein
ISBN-10 3-518-74796-7 / 3518747967
ISBN-13 978-3-518-74796-4 / 9783518747964
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