Montag, 21. März. Erste Halbzeit
Der Irish Pub hatte sich inzwischen deutlich geleert. Das Quartett saß nun um einen Tisch in einer gemütlichen Ecke. Stallitzer blieb bei Mineralwasser, alle anderen hatten sich wieder Guinness bestellt. „Wieviel habt ihr bekommen, damit ihr den Pokal klaut?“
„Welchen Pokal?“, konterte Halberstädter.
Stallitzer sah ihm an, dass es ein letzter, verzweifelter Versuch war, seine Hände in Unschuld zu waschen. Er seufzte. „Ihr wollt jetzt wirklich den unbequemen Weg gehen? Den, auf dem wir euch eure Geschichte Satz für Satz oder sogar Buchstabe für Buchstabe aus der Nase ziehen? Ich würde das gerne anders lösen, auch wenn ihr es mir im Moment nicht wirklich leichtmacht, eure Geschichte nicht aus euch rauszuprügeln.“
Stallitzer bemerkte sofort, wie sich Halberstädters Augen wieder weiteten. Nach immerhin rund 200 gemeinsam verbrachten Minuten konnte er in Halberstädters Gesicht lesen, wie seine Exfrau Regina im Blick ihres ehemals gemeinsamen Hundes Trixi. Wenn die Hündin beleidigt gewesen war, wenn ihr die Blase drückte, wenn sie hungrig war oder auch nur der Nachbarhund den Radius von 50 Metern Abstand zum eigenen Haus unterschritt – Regina hatte immer sofort Bescheid gewusst.
Stallitzer griff erneut zum Portemonnaie, zog einen 200-Euro-Schein heraus, schob ihn wieder zurück, entnahm zwei Hunderter, fächerte sie auf, legte sie unter den Halter für die Getränkekarte. „So, und jetzt Klartext. Und vergesst irgendwelche Lügenmärchen, wir haben heute auch schon mit Ben Brambach gesprochen. Nur so als kleine Randinformation.“
Halberstädter und Püschel kommunizierten noch kurz wortlos mit Blicken. Sollen wir? Haben wir eine Alternative? Die beiden Hunnies sind leicht verdientes Geld! Hatte er nicht vorhin noch einen Fünfhunderter in der Hand? Wenn wir ihn darauf jetzt ansprechen, haben wir es dann ganz vergeigt? Fängst du an oder fange ich an?
Diesmal begann Püschel: „Einen Tausender. Plus 250 für Spesen.“
Als wären Püschels Worte der Startschuss gewesen, sprudelte es nun aus Halberstädter heraus, wie eine Fontäne aus einem Hydranten: „Das war alles so einfach, klang nach wirklich schnell verdientem Geld. Ein Telefonanruf, ein Treffpunkt, ein Vorschuss auf die Kohle, ein Nachschlüssel für das Museum in einem Briefumschlag, zusammen mit dem vierstelligen Code, mit dem man die Alarmanlage ausschalten konnte. Alles ganz easy.
Wir sind also zu dem Museum gefahren, nachts um zwei an die Tür gegangen – und der Schlüssel passte nicht. Er ließ sich nicht mal ganz reinstecken.
Wir hatten eine Telefonnummer, die wir anrufen konnten. Haben wir gemacht. Ich hab noch gefragt, ob wir in das Museum einbrechen sollen. Aber der Typ am anderen Ende der Leitung hat uns gesagt: keine Gewalt. Also dachten wir, das wäre jetzt gelaufen, hatten den Rest der Kohle schon in den Wind geschrieben, als wir die Melodie von diesem komischen Lilienlied hörten. Mitten in der Nacht dröhnte auf uns zu ,Die Sonne scheint‘. Wir dachten, vielleicht feiern da irgendwelche Fans. Und so landeten wir vor der Lilienschänke.
Zum Glück haben wir zuerst ins Fenster geguckt. War ja drinnen hell erleuchtet. Im Innern zwei Dinge, die uns auffielen. Ein Mann mit Bierglas in der Hand, der zu dem Lied tanzte. Und auf einem der Tische – der Pokal.
Das Tempo, in dem der Kerl das Bier in sich reinschüttete, zeigte uns, dass doch noch nicht alles verloren war. Wir mussten einfach nur warten, bis sich dieser seltsame Nachtwächter in den Schlaf gesoffen haben würde. Wir haben uns dann einfach im Außenbereich vor der Kneipe auf eine der Bänke gesetzt. An der Tanke nebenan noch zwei Bier geholt und gewartet.“
Püschel wandte sich an Wagner: „Echt, Scheiß-Mucke habt ihr für euren Verein!“
Stallitzer zuckte zusammen. Nicht schon wieder! Doch Wagner grinste Püschel nur an: „Aber den Ohrwurm habt ihr dann nicht mehr aus dem Kopf gekriegt, gell?“ Es war wohl dem Alkohol geschuldet, dass er etwas zu laut losgrölte: „Die Sonne scheint…“
In der Kneipe tranken nur noch rund 15 Gäste. Aber ein Kleiderschrank in Jeansjacke drehte sich sofort in Richtung Wagner und gellte: „Sind Darmstädter anwesend?“
Wagner schwieg augenblicklich, blinzelte dann Püschel zu.
„Der Pokal?“, versuchte Stallitzer, das ursprüngliche Thema wieder aufzunehmen.
Püschels Blick heftete sich auf den 100-Euro-Schein. „Das zog sich über Stunden. Durch den Kerl schien das Bier einfach nur durchzulaufen. Und dann kam dieser Brambach. Er muss durch den Hintereingang reingekommen sein. Wir haben ihn erst gesehen, als er im Schankraum war. Sahen, wie er diesem Typen eine mit dem Baseballschläger überzog, dann die Wirtschaft durchsucht hat und wieder verschwand, aber mit dem Pokal. Wir hatten keine Ahnung, wohin die Hintertür führt. Und als wir das dann herausgefunden hatten, knatterte schon sein Mofa an uns vorbei. Und mit ihm der Pokal.
Bis wir wieder bei den Motorrädern waren, war er weg. Wir riefen also unseren Kontakt an, gaben das Mofa-Kennzeichen durch. Zwei Stunden später hatten wir den Namen und die Adresse. Dann haben wir Brambach angerufen – “
„– und einen Treffpunkt am Steinbruch verabredet. Den Teil können wir überspringen, den kennen wir schon. Wo ist der Pokal jetzt?“
„Es gab einen Treffpunkt. Wir sollten den Pokal nach Wilnsdorf fahren. Das ist bei Siegen. Da ist eine Autobahnkirche, direkt an der Raststätte.“
Mit einem Mal war Stallitzer klar, wieso die Bielefelder früher in Darmstadt losgefahren waren und den Charger dann auf der Autobahn überholt hatten. Sie hatten den Pokal unterwegs an einem Übergabepunkt abgeliefert.
„Wir sind da hingefahren. Unser Kontaktmann hat am Telefon gesagt, dass sie gegenüber dem Altar eine Holzkiste hingestellt haben, in die wir den Pokal reinlegen sollen. Dann die Klappe zumachen und mit einem Vorhängeschloss abschließen. Den Schlüssel für das Vorhängeschloss sollten wir dann mit einem Kaugummi unter den Sitzhocker ganz hinten rechts kleben.“
„Und das habt ihr so gemacht?“
„Ja. Erstmal haben wir uns ein paar Burger reingezogen, also an der Raststätte, aber dann sind wir den Anweisungen exakt gefolgt. Außerdem haben wir unseren Kontaktmann angerufen, dass der fette Kratzer, der auf dem Pokal war, nicht von uns stammte. Voll über den ganzen oberen Teil. Wahrscheinlich hat Brambach den Pokal einfach in den Anhänger geworfen, als er vor uns geflohen ist. Was für ein Idiot.“
Stallitzer erhob sich. „Gut. Dann fahren wir jetzt zu der Kirche.“
Püschel hob die Hand, artig, wie ein Erstklässler, der das gerade in der Schule gelernt hat. „Sorry, wenn ich das anspreche – aber ich glaube nicht, dass unsere Auftraggeber das so lustig finden, wenn ihr den Pokal jetzt einfach mitnehmt.“
Halberstädter hatte inzwischen einen der beiden 100-Euro-Scheine gegriffen und eingesteckt. Stallitzer war das nicht entgangen, aber es war in Ordnung. Jetzt wussten sie, wo sich der Pokal befand. Wenn sie ein bisschen Glück hatten.
„Wir machen Folgendes: Wir setzen uns ins Auto und fahren zu der Kirche. Wenn der Pokal noch da ist, nehmen wir ihn mit, und jeder von euch bekommt 1.500 Euro. Also wohl ein bisschen mehr, als euch die anderen gezahlt hätten.“
Zwischen Halberstädter und Püschel entfachte sich wieder ein Blick-Feuerwerk. Dann sagte Halberstädter: „Wenn wir dahinfahren, und der Pokal ist da, und ihr nehmt den mit, dann sind wir verbrannt. Dann kriegen wir aus dieser Quelle nie wieder irgendeinen Auftrag.“
Stallitzer stand auf, nahm aus der Geldbörse einen 20-Euro-Schein und legte ihn auf den Tisch. Inzwischen hatte auch Püschel begriffen, dass er den Hunderter einstecken durfte, was er blitzschnell tat. Den Zwanziger ließ er liegen. Dass damit die Rechnung beglichen werden sollte, war auch ihm klar.
„Ich und Wagner fahren jetzt zu der Kirche. Ihr könnt mitkommen und die Kohle einfahren, wenn wir den Pokal finden. Ihr könnt aber auch hierbleiben und nichts bekommen.“ Paul Wagner erhob sich ebenfalls.
Zwei Minuten später saßen alle vier im Charger.
Stallitzer brauchte für die 200 Kilometer nur ein bisschen mehr als eine Stunde. Er fühlte sich wie ein Taxifahrer. Auf dem Rücksitz schnarchten Wagner und Püschel in plötzlich trauter Einigkeit, auf dem Beifahrersitz schlief Halberstädter völlig geräuschlos.
Die Kirche war von der Autobahn aus bereits zu sehen. Angestrahlt ragte die Silhouette in den Himmel. Sie war schon ein paar Kilometer vorher auf einem Hinweisschild angekündigt worden. Auf den ersten Blick wirkte die Geometrie der Kirche genauso wie das weiße, stilisierte Kirchenlogo auf dem Hinweisschild. Allerdings veränderten sich die Proportionen, als sie der Kirche näher kamen, da sich Stallitzers Perspektive änderte.
Stallitzer fuhr von der Autobahn ab. Die Zufahrt zum Autohof und damit auch der Weg zur Kirche führte über einen längeren Zubringer. Stallitzer musste noch zwei Kreisel durchqueren.
Der Parkplatz für die Lastwagen war vollbelegt. Auch der Parkplatz für die PKWs war gut gefüllt. Stallitzer stellte den Wagen ab und machte den Motor aus. Für Halberstädter genügte das schon, um aufzuwachen. Den Gästen auf dem Rücksitz mussten erst die Türen geöffnet werden. Stallitzer rüttelte Wagner wach, Halberstädter seinen Kompagnon.
Das Quartett ging auf die Kirche zu, wobei Wagner mehrfach gähnte. Aus dieser Blickrichtung wirkte die Kirche nicht mehr wie ein überdimensionales...