Der Wanderer im Karst (eBook)
240 Seiten
Wieser Verlag
978-3-99047-059-6 (ISBN)
Silvija Hinzmann, geb. 1956 in ?akovec, Kroatien, lebt in Stuttgart, arbeitet als Übersetzerin und Dolmetscherin. Veröffentlichte einen Roman, zahlreiche Kurzkrimis, ist Herausgeberin mehrerer Kurzkrimi-Anthologien und übersetzt Erzählungen, Gedichte, Essays, Kurzgeschichten, literarische Reiseführer und Romane kroatischer und serbischer Autoren bei verschiedenen Verlagen. Zuletzt bei Wieser: Der Duft des Oleanders (2015)
Silvija Hinzmann, geb. 1956 in Čakovec, Kroatien, lebt in Stuttgart, arbeitet als Übersetzerin und Dolmetscherin. Veröffentlichte einen Roman, zahlreiche Kurzkrimis, ist Herausgeberin mehrerer Kurzkrimi-Anthologien und übersetzt Erzählungen, Gedichte, Essays, Kurzgeschichten, literarische Reiseführer und Romane kroatischer und serbischer Autoren bei verschiedenen Verlagen. Zuletzt bei Wieser: Der Duft des Oleanders (2015)
Dezember 2015
Freitag
Eigentlich hatte Prohaska schon vor Wochen vorgehabt, eine Fototour in Zentralistrien zu unternehmen, aber dann war er mehr oder weniger unfreiwillig in die Ermittlung eines Mordfalls in Rovinj hineingeraten. Danach hatte er seinem Freund Ivo Horvat geholfen, die alte Einrichtung des Fotoladens in der Carrera abzubauen, damit die Renovierungsarbeiten beginnen konnten.
Heute Vormittag endlich hatte er sich auf den Weg gemacht, war über Žminj nach Pazin gefahren, wo er eine gute Stunde damit verbrachte, unzählige Aufnahmen von dem mittelalterlichen Kastell und der tiefen Schlucht zu machen, von der schon Dante und Jules Verne so fasziniert waren. Das Wetter passte auch, da immer wieder schwere blaugraue Wolken die Sonne verdeckten. Licht und Schatten wechselten sich ab und verliehen der Landschaft ein dramatisch düsteres Aussehen. Anschließend kaufte er sich ein Sandwich, trank einen Espresso und fuhr weiter Richtung Norden. Prohaska hatte wie immer ein Navi dabei, doch das Herumkommandieren der emotionslosen Frauenstimme ging ihm auf die Nerven, sodass er es in den seltensten Fällen auch benutzte.
Vielleicht hätte er es heute einschalten sollen.
Man hätte meinen können, er sei in der gottverlassensten Gegend der Welt gelandet, dabei lag die Küste nur eine knappe Stunde entfernt gleich hinter dem mächtigen Bergrücken der Učka, von wo man bei klarem Wetter einen wunderbar weiten Blick auf die Kvarner Bucht und die Inseln Cres und Krk hatte.
Vor etwa einer Viertelstunde war er vom Istrischen Ypsilon, der Schnellstraße, abgebogen und dann auf einer schmalen, kurvenreichen Straße weitergefahren. Sie mündete in einen holprigen Feldweg, der von knorrigen Eichen gesäumt in unzähligen Kurven entlang der Bergflanke hinauf führte. Hin und wieder passierte er verlassene Häuser und verschlafene Weiler, ohne einen einzigen Menschen zu sehen. Auf den schräg abfallenden Wiesen zu seiner Linken ragten hie und da weißgraue Felsbrocken aus der Erde.
Er hielt manchmal an, machte ein paar Fotos, und fuhr langsam weiter. Als er um eine enge Kurve bog, konnte er gerade noch auf die Bremse steigen. Ein paar Meter vor ihm trotteten unzählige Schafe über die Straße. Sie strömten aus einem hangarähnlichen Betongebäude, das sich etwa zweihundert Meter entfernt rechts von der Straße auf einer großen Lichtung befand. Ein schwarzer Hund rannte umher und dirigierte die Tiere in die gewünschte Richtung.
Prohaska schaltete den Motor aus, nahm die Kamera vom Beifahrersitz und stieg aus.
Durch den Sucher sah er den Hirten aus dem Hangar herauskommen. Der Mann pfiff ein paar Mal nach dem Hund und folgte der Herde. Prohaska zoomte ihn näher heran. Er war um die vierzig, vielleicht auch jünger. Sein Gesicht war schmal und braun gebrannt. Er trug eine gefütterte Militärjacke in Tarnfarben, Jeans und Wanderschuhe. Auf der Schildmütze prangte ein Ferrari-Logo. Über der Schulter hing ein Rucksack, um den Hals baumelte ein Feldstecher. Als er die Straße erreicht hatte, winkte er und kam auf Prohaska zu.
Er reichte Prohaska die Hand. »Tut mir leid, dass du warten musstest. Ich bin Elvir.«
»Hallo, kein Problem«, erwiderte Prohaska und zeigte auf die Herde. »Ganz schön viele Tiere.«
Elvir grinste. »Hundertachtzig. Machen viel Arbeit, aber das ist okay.«
So wie der Mann die Worte betont, dachte Prohaska, stammt er aus dem Süden, vermutlich aus Makedonien oder Kosovo.
»Sehr schön hier und so ruhig«, sagte Prohaska.
»Ja, ja, außer man begegnet einem Wolf, dann ist es mit der Ruhe aus.«
Prohaska fingerte die Zigarettenpackung und ein Feuerzeug aus der Jackentasche und bot Elvir eine Zigarette an. Er nahm eine, Prohaska gab ihm Feuer und steckte sich selbst eine an.
»Einem Wolf? Bist du ganz sicher?«, fragte er, nachdem er einen Zug genommen hatte.
»Natürlich bin ich sicher. Erst heute Morgen war einer da, ist dann da drüben im Wald verschwunden.« Elvir zeigte mit seinem langen Stock zum Berghang. »Und er war nicht der erste Wolf, den ich in meinem Leben gesehen habe. Da wo ich herkomme, gibt es viele.«
»Woher kommst du denn?«
»Kosovo. Und du?«
»Rovinj.«
»Schöne Stadt. Ein Verwandter von mir hat dort eine Eisdiele gleich an der Riva, du kennst die bestimmt. Ich habe ihn einmal besucht, aber das ist schon eine Weile her. Und du machst dort Urlaub?«
»Nein, nein, ich lebe da in der Nähe.«
»Ach so, aber ein echter Istrianer du bist du auch nicht, oder?«
»Nein.«
Elvir zeigte auf Prohaskas Kamera. »Bist du ein Reporter oder so was?«
»Fotograf.«
»Klingt interessant. Kann man davon leben?«
Prohaska lächelte.
»Na ja, nicht wirklich, ich habe in Deutschland gearbeitet.«
»Dann bist du auch ein Gastarbeiter. Wo warst du da genau?«
Prohaska schien es klüger zu sein, seinen früheren Beruf nicht zu erwähnen. Es musste nicht jeder wissen, dass er bei der Kriminalpolizei gearbeitet hatte.
»In Stuttgart. Dann hatte ich einen Arbeitsunfall und bin nach Istrien gezogen.«
»Ah, du warst bei Daimler, das sieht man.«
Elvir deutete mit dem Kinn auf Prohaskas weißes, achtzehn Jahre altes Mercedes Cabrio. »Ein Onkel von mir hat auch bei Daimler gearbeitet.«
»Nein, ich war im öffentlichen Dienst.«
»Das tut mir leid.«
Prohaska grinste. »Es muss dir nicht leidtun.«
Elvir lachte. »Nein, ich habe deinen Arbeitsunfall gemeint.«
»Ach so, danke.«
»Tja, das Leben in der Fremde ist verdammt hart«, sagte Elvir nachdenklich, und drehte sich nach seiner Herde um. »Ich war auch mal im Ausland. Zuerst in Norditalien, habe dort bei Verwandten gewohnt und in einer Lederfabrik gearbeitet. Halbes Jahr später bin ich nach Deutschland gegangen. Ein Freund hat mir einen Job auf dem Bau besorgt, aber das Wenige, das ich da verdient habe, musste ich fürs Essen und das Bett in einer Baracke bezahlen, die der Chef an uns vermietete. Eines Morgens gab es eine Razzia, und es stellte sich heraus, dass der Chef uns gar nicht angemeldet hat. Na ja, ich bin dann freiwillig zurück nach Hause.«
Prohaska nickte. Er kannte hunderte solcher Geschichten noch aus seiner Dienstzeit.
»Das einzig Gute daran war, dass ich ein wenig Italienisch und Deutsch gelernt habe. Na ja, bei der Arbeit musste man nicht viel reden.« Elvir ließ seine Kippe auf den Boden fallen, drückte sie mit dem Schuh aus und grinste. »Zum Beispiel: Rauchen nix gut. Oder: guten Tag, danke, bitte, wie geht’s, wie steht’s, bitte ein Bier, wo geht’s hier zum Bahnhof, schene Frau, willst du mit mir gehen’, solche Sachen halt.«
Prohaska lächelte. »Und wie lange bist du hier?«
»Knapp drei Jahre. Ich bin in einem kleinen Bergdorf aufgewachsen, hüte Schafe seit meinem vierzehnten Lebensjahr und möchte nichts anderes machen. Und so bin ich wieder Gastarbeiter. Klingt für mich immer noch irgendwie seltsam. Früher, in Jugoslawien, konnten wir uns frei bewegen. Dann kam der blöde Krieg. Aber was soll man machen? Das Leben muss weiter gehen. Die Menschen sind, wie sie sind. Ich will damit nicht sagen, dass es früher besser war. Aber schau dir die Welt heute an. Kriege, Vertreibungen, Korruption, Gier und Neid, jeder gegen jeden. Und es wird immer schlimmer, wenn du mich fragst.«
Und wieder einmal bestätigte sich Prohaskas Beobachtung. Die meisten Gespräche, die er mit Leuten hier führte, und seien sie auch noch so kurz und unverbindlich wie dieses jetzt, landeten nach kürzester Zeit bei der Politik.
Elvir drehte sich nach der Herde um. »Wenigstens ist es hier ruhig. Ich verdiene ganz gut, fahre alle zwei Monate für ein paar Tage nach Hause zu meiner Familie. Ich hab zwei kleine Kinder. Sie werden später bestimmt auch ins Ausland gehen, bei uns unten gibt es keine Arbeit. Armut und Elend wo du hinschaust. Meine Alten und die Schwiegereltern sind auch noch da, aber sie haben keine Rente. Deshalb müssen mein Bruder Ismail und ich die ganze Familie ernähren. Ismail und ich sind zusammen hergekommen. Wir wechseln uns alle paar Wochen ab, mal hütet er die Schafe, dann wieder ich. Jetzt arbeitet er in der Käserei unseres Chefs.«
Prohaska nickte nur, wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, also nahm er den Faden von vorhin wieder auf.
»Ich hätte nicht gedacht, dass es hier Wölfe gibt.«
»Doch, doch, aber es sind nicht viele, ein oder zwei Rudel. Letzten Herbst haben sie uns ein Mutterschaf und zwei Lämmer gerissen, obwohl die Herde über Nacht auf einer eingezäunten Weide stand.«
»Und wann hast du heute den Wolf gesehen?«, fragte Prohaska und hoffte, dass er nicht zu besorgt klang.
»So gegen halb...
| Erscheint lt. Verlag | 21.10.2016 |
|---|---|
| Reihe/Serie | wtb Wieser Taschenbuch |
| Verlagsort | Klagenfurt |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
| Schlagworte | Istrien • Krimi • Kvarner |
| ISBN-10 | 3-99047-059-0 / 3990470590 |
| ISBN-13 | 978-3-99047-059-6 / 9783990470596 |
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