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Der Kreis (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
149 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74769-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Kreis -  Andreas Maier
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Das Kind steht in der Bibliothek seiner Mutter und versucht zu begreifen, was es vor sich hat: Bücher. Der Dreizehnjährige geht auf sein erstes Heavy-Metal-Konzert und erkennt ausgerechnet dort, dass man es auch ernst meinen kann mit Kunst und Existenz. Eine Theatertruppe bringt ihm die Rolle seines Lebens bei ...
Andreas Maiers Der Kreis ist eine einzigartige Reflexion darüber, wie man überall ständig auf der Suche nach dem ist, was die Welt und das eigene Ich im Innersten zusammenhält.
»Wer wissen will, was Kindheit und Erwachsenwerden bedeuten, kann es bei Maier erfahren.« Jörg Magenau, Süddeutsche Zeitung



<p>Andreas Maier, 1967 im hessischen Bad Nauheim geboren, studierte Philosophie und Germanistik, anschlie&szlig;end Altphilologie. Er lebt in Frankfurt am Main.</p>

Andreas Maier wurde 1967 im hessischen Bad Nauheim geboren. Er studierte Altphilologie, Germanistik und Philosophie in Frankfurt am Main und ist Doktor der Philosophie im Bereich Germanistik. Er lebte wechselweise in der Wetterau und in Südtirol. Andreas Maier lebt in Hamburg.

Korrespondenzen


Meine Mutter führte Korrespondenzen. Sie erhielt Briefe, die ganz besonders waren. Mit diesen Briefen zog sie sich in das kleine Zimmer zurück. Jeder Brief veränderte die Welt, schien mir.

Oder sie setzte sich in das Zimmer, um von sich aus einen Brief zu schreiben. Vorher wurde das hin und wieder angekündigt. Ich muß noch den Brief an X oder Y schreiben, sagte sie dann. Es war eine Aufgabe, diese betreffenden Briefe zu schreiben, fast wie wenn man ein Buch schreibt.

Die Korrespondenzen führte sie mit Männern, und der Inhalt der Korrespondenzen war sicherlich wissenschaftlicher Art, irgendwie geistiger Art, es ging um Geistiges.

Woher habe ich das Wort »Geistiges«? Sie beschäftigt sich viel mit »Geistigem«, so etwas in der Art konnte z. B. mein Vater über meine Mutter sagen. Hin und wieder sagte meine Mutter wiederum zu meinem Vater, mit ihm könne man eben keine »geistigen Gespräche« führen.

Überhaupt seufzte meine Mutter oft, sie habe so wenig Gelegenheit, ein »geistiges Gespräch« zu führen. Ich hatte keine Ahnung, was sie damit meinte, und wußte nur, es muß etwas mit diesem ganzen Zimmer- und Bibliotheks- bzw. Bücherregalkomplex oben im ersten Stock zu tun haben. Sie tauschte sich in solchen geistigen Gesprächen und Korrespondenzen mit ihren Briefpartnern (es waren ausschließlich ältere Männer) vermutlich über das aus, was Gegenstand des Zimmers war, Bücher, Schriften, Gedanken, »-ismen« und »-logien«.

Was meine Mutter oft zum Seufzen brachte, war also, daß sie in der Familie kein »geistiges« Gespräch führen konnte; was sie allerdings mindestens ebenso häufig zum Seufzen brachte, war, wenn ihr ein solches »geistiges« Gespräch mit jemandem bevorstand oder wenn sie sich ins Zimmer begeben mußte, um endlich den lang hinausgezögerten und wie eine schwere Aufgabe vor ihr liegenden Antwortbrief in irgendeiner ihrer Korrespondenzen zu schreiben. Lieber ging sie in ihrem Morgenrock vorher noch in den Keller und setzte sich an die Mangel, lieber machte sie noch irgend etwas anderes im Haushalt, lieber hielt sie sich erst noch stundenlang vom Schreiben des Briefes ab. Manchmal setzte sie mich in ihren alten Mercedes, den abgelegten ehemaligen Dienstwagen meines Vaters (sie bekam immer den ausgemusterten Vorgängerwagen), dann fuhren wir zur Post, um dort den endlich verfaßten und dann im Bürozimmer abgetippten Brief einzuwerfen. Wir begleiteten ihn sozusagen wie ein Komitee in einem zeremoniellen Akt bis zu seinem endgültigen Einwurf, und wenn der Brief im Postkastenschlitz versank, dann merkte ich meiner Mutter jedesmal die große Erleichterung an. Dann war es ein Seufzen der Entlastung.

Umgekehrt war der Moment, wo ein Brief ihrer Korrespondenz bei uns im Briefkasten lag, nicht nur voll Freude und Erwartung, sondern zugleich begann sich dann eine neue Verantwortungslast bemerkbar zu machen, zunächst kaum spürbar, mit den Tagen und Wochen aber immer drückender, denn der Brief mußte beantwortet werden, und jedesmal wenn diese Aufgabe auf meine Mutter zukam, merkte ich es ihr an.

Inzwischen zog sie mich mitunter ins Vertrauen und erzählte mir von den geistigen Inhalten dieser Korrespondenzen und wovon sie im einzelnen handelten. Eine Zeitlang ging es viel um jenen Theo Düschadeng, von dem es aber, meinem damaligen Glauben nach, kein Buch im kleinen Zimmer gab (ich wußte ja nicht, daß er mit Teilhard de Chardin identisch war). Manchmal schrieb sie Menschen an, die selbst Bücher schrieben. Wenn von Theo Düschadeng die Rede war, sagte sie etwa: Geist ist Materie. Oder sie sagte: Der Kosmos ist Geist. Ich versuchte mir dann immer so etwas wie Materie oder Geist vorzustellen, oder den Kosmos. Wenn ich an Kosmos dachte, fiel mir das De-Chardin-Buch mit dem Sternennebel ein, das öfter auf ihrem Tisch lag, wenn sie korrespondierte. Also eine Ansammlung von Sonnen und Planeten. Daß ein Geist oder der Geist nicht vorzustellen war wie etwa der Gespenster-Geist von Canterbury, das war mir klar. Dieser Geist trug kein weißes Bettuch, hatte keinen kapuzenförmigen Kopf und auch keine Augenschlitze. Der Geist war etwas, das irgendwie da war, aber man konnte ihn nicht greifen. Ohne Geist würde ich nicht denken, meine Mutter nicht sprechen und gäbe es all die Bücher nicht. Eigentlich die Menschen nicht. Das war meine Vorstellung von Geist. Und irgend etwas hatte das also mit Materie zu tun, ja, mit dem ganzen Kosmos. Alles war identisch. Behauptete sie oder hatte sie bei Theo Düschadeng gelesen. Theo Düschadeng war aufgrund dieser Behauptung für sie eine Art von Held. Er hatte Großes geleistet: Geist ist Materie. Nun saß sie oben im Morgenrock in ihrem Zimmer und las und exzerpierte, um, ähnlich einem Alchemisten bei der Umwandlung von Blech in Gold, die Identität von Geist und Kosmos zu beweisen oder sie näher zu verstehen, sie zu durchleuchten oder zu durchdringen. Und darüber führte sie ihre Korrespondenzen.

Ich sagte nichts dazu. Alles, was sie erzählte, bekam übrigens tatsächliche Seinskraft erst dann, wenn sie gar nicht im Haus und ich wieder ganz allein in ihrem Bibliotheksräumchen war, wenn wieder totale Stille herrschte und die Welt da draußen abgerückt war hinter die weißen Sichtschutzgardinen. Dann nahm ich das Sternennebelbuch oder ein anderes Buch, blätterte die seltsamen Papiere meiner Mutter durch und meinte wahrzunehmen, daß die Identität von Geist und Materie oder Kosmos oder was auch sonst hauptsächlich erkennbar war an der Stille, die gerade herrschte, und an der Tatsache, daß es einerseits mich und dieses Zimmer und die Gegenstände darin, andererseits die nach draußen abgerückte Welt gab. Irgend etwas war spürbar, eine Art Durchwehen. Die Stille durchwehte mich. Wenn meine Mutter da war, hörte dieses Durchwehen auf, dann rückten Begriffe wie Morgenrock oder Theo Düschadeng in den Vordergrund, alles zerstob dann.

Manchmal traf sie bestimmte Menschen, meistens solche, mit denen sie Korrespondenzen führte. Es war sie, die den Korrespondenzpartner besuchte, die Korrespondenzpartner selbst traten in unserem Haus nie in Erscheinung. Die Korrespondenzpartner konnten in ganz anderen Teilen Deutschlands wohnen. Insgesamt gab es, solange ich in dem Haus lebte, drei oder vier dieser Korrespondenzpartner.

Die Kriterien für die Auswahl dieser Partner im geistigen Gespräch waren mir nicht nur unbekannt, ich dachte darüber auch nicht nach. Sie waren einfach da. Immer wieder fiel zum Beispiel der Name Usinger. Der Name Usinger war für mich als Kind aus einfachen Gründen merkbar, denn der Fluß vor dem Fenster meines Kinderzimmers hieß Usa, die Usa durchfloß das sogenannte Usatal (unser Kreis hätte für mich auch Usakreis heißen können statt Wetteraukreis), und die Stadt, die nach der Usa benannt war, hieß Usingen, das war nur ein Buchstabe entfernt von Usinger.

Jener Usinger schrieb Bücher. Die Anzahl der Usinger-Bücher in der Bibliothek wuchs mit der zeitlichen Länge des Kontakts meiner Mutter zu jenem Usinger (er hieß bei uns immer »der Herr Usinger«). Offenbar kaufte sie nicht die Bücher, sondern er schenkte sie ihr. Usinger war ganz früh ein Begriff für mich. Usinger hatte auch mit Kosmos und Geist zu tun. Er war älter als meine Mutter, sie sagte immer, er sei ein alter Herr. Meine Mutter war damals für mich zwar auch alt (sie war etwa so alt wie ich heute), aber unter Usinger stellte ich mir einen ganz alten Herren vor, einen mit Hornbrille, dicken Gläsern und Anzugshosen, die so hochgezogen waren, daß sie bis direkt unter die Brustwarzen reichten. Ich malte ihn mir als jemanden aus, der noch viel intensiver als meine Mutter in einem ähnlichen Zimmer wie sie herumsaß, wahrscheinlich aber mit wesentlich mehr Büchern darin, und der noch viel engagierter als sie Papiere vollschrieb, und wenn er nicht in seinem Zimmer gesessen hätte, aber ich mich darin befunden hätte, wäre es noch viel stiller als in dem Zimmer meiner Mutter gewesen, und alles wäre noch viel mehr durchweht gewesen, und der Geist und die Materie und der Kosmos wären im Bücher- oder Studier- oder Arbeitszimmer dieses alten, mir stets ehrwürdig erschienenen Herren noch viel spürbarer gewesen als bei uns im ersten Stock. Das Zimmer Usingers, wenn er so viele Bücher produzierte, die sich sukzessive alle bei uns im Bücherzimmer wiederfanden, mußte noch viel mehr eine Einheit aus Geist, Materie und Kosmos darstellen als das Zimmer meiner Mutter.

Die Bücher Usingers ließen sich allerdings nicht nach symmetrischen Gesichtspunkten zusammenordnen, anders als bei Immanuel Kant. Die Bücher jenes Usingers waren unterschiedlich groß, hatten unterschiedlich dicke Einbände und unterschiedliche Farben. Daß das darauf beruhte, daß alle diese Bücher in unterschiedlichen Verlagen erschienen waren, beachtete ich damals nicht. Ich schlug die Bücher Usingers gern auf, denn sie waren meistens extrem dünn. Teils handelte es sich um Gedichtbände. Auf jeder Seite fanden sich vielleicht acht oder zehn kurze Zeilen, und insgesamt umfaßten die Bücher nur dreißig oder vierzig Seiten. Eines der Bücher nannte sich

Kosmologische Gedichte

Diesen Titel meinte ich sofort einordnen zu können, dort mußte es um ebenjene drei Begriffe gehen, Materie, Geist und Kosmos. Und Kosmologische Gedichte war ein Titel, in dem »-logie« auftauchte. Was konnte besser in die Bibliothek meiner Mutter passen!

Las ich Usinger-Gedichte, las ich immer etwas, das mir sehr wertvoll vorkam. Im Vergleich zu den Papieren meiner Mutter mit ihrer kleinen, wellenförmigen Schrift standen auf einem Buchblatt Usingers nur überschaubar wenig...

Erscheint lt. Verlag 8.8.2016
Reihe/Serie Ortsumgehung
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Das Haus • Das Zimmer • Der Ort • Die Straße • Familie • Heimat • Ortsumgehung • ST 4829 • ST4829 • suhrkamp taschenbuch 4829 • Wetterau
ISBN-10 3-518-74769-X / 351874769X
ISBN-13 978-3-518-74769-8 / 9783518747698
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