Zum Hauptinhalt springen
Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de

Nackter Mann, der brennt (eBook)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
223 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74798-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nackter Mann, der brennt -  Friedrich Ani
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
(CHF 9,75)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Wie aus Opfern Täter werden, in welcher Weise dieser unaufhaltsame, alle Grenzen der Grausamkeit sprengende Prozess abläuft - dies erzählt Friedrich Ani, der Meister des Noir, hochspannend, überraschend und einfühlsam.

Im Alter von vierzehn Jahren flieht ein Junge aus dem süddeutschen Dorf Heiligsheim. Vierzig Jahre später kehrt er als Ludwig »Luggi« Dragomir zurück: Alkohol, Drogen und alle gegen sich und die anderen ausgefochtenen Kriege in Berlin konnten die Erinnerungen an den Missbrauch seiner Spielkameraden und seiner selbst durch die Honoratioren von Heiligsheim nicht verdrängen. Die Schuldgefühle, seine Freunde nicht beschützt zu haben, treiben ihn an.

Seit seiner Anwesenheit verschwinden gleich mehrere ältere Herren, einige werden tot aufgefunden - ob durch Unfall oder Mord, das versucht Kommissarin Anna Darko herauszufinden. Dabei gerät auch Ludwig ins Visier, weil er ein Verhältnis mit der Ehefrau eines der Vermissten hat - den er als Gefangenen im eigenen Haus malträtiert. Denn in Ludwig Dragomir hat Wut die Oberhand erlangt, und nun »durfte sie brennen« ...



Friedrich Ani, geboren 1959, lebt in München. Er schreibt Romane, Gedichte, Hörspiele, Theaterstücke und Drehbücher. Sein Werk wurde in zehn Sprachen übersetzt und vielfach prämiert, u. a. sieben Mal mit dem Deutschen Krimipreis, dem Crime Cologne Award, dem Burgdorfer Krimipreis, dem Adolf-Grimme-Preis, dem Bayerischen Fernsehpreis und der Goldenen Romy. Friedrich Ani ist Mitglied des PEN-Berlin.

Friedrich Ani, geboren 1959, lebt in München. Er schreibt Romane, Gedichte, Jugendbücher, Hörspiele, Theaterstücke und Drehbücher. Sein Werk wurde mehrfach übersetzt und vielfach prämiert, u. a. mit dem Deutschen Krimi Preis, dem Adolf-Grimme-Preis und dem Bayerischen Fernsehpreis. Seine Romane um den Vermisstenfahnder Tabor Süden machten ihn zu einem der bekanntesten deutschsprachigen Kriminalschriftsteller. Friedrich Ani ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und des Internationalen PEN-Clubs. Sein Roman Der namenlose Tag (2015), ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimi Preis und dem Stuttgarter Krimipreis, markierte Anis Wechsel zu Suhrkamp. Seit 2015 ist Friedrich Ani auch mit seinen Theaterstücken im Suhrkamp Theater Verlag vertreten.

1


Gelobt sei Jesus Christus, dachte ich, bekreuzigte mich und öffnete die Tür zur Abstellkammer, in der mein Gast geduldig seine Angst ausbrütete. Er starrte mich an, und ich schloss die Tür wieder. Der Tag versprach mir zu gefallen.

Als ich das Haus verließ, läuteten – zu Ehren des verstorbenen Apothekers Eduard Rupp – die Glocken der SanktMichael-Kirche. Das bedeutete, ich hatte mich verspätet. Niemand im Dorf erwartete mich bei der Zeremonie, aber wegen der alten Zeiten und der Sache im Wald fühlte ich mich verpflichtet hinzugehen.

Ich hatte meinen einzigen schwarzen Anzug und ein dunkles Hemd angezogen und eine schmale schwarze Krawatte umgebunden. Ich schaute in den Spiegel und kam mir vor wie ein Rockstar der sechziger Jahre. In einem Anfall kindischen Übermuts lief ich ins Wohnzimmer und holte meine marode Fender. Ich hängte mir die Gitarre um, posierte vor dem Spiegel, schlug mit dem Zeigefinger auf die Saiten, minutenlang, E-Dur, G-Dur, D-Dur, F-Dur – als probte ich einen Song, strumpfsockig, stumpfsinnig, stumm und mit verzerrtem Gesicht. Einer meiner Anfälle von gut geübter Lächerlichkeit.

Tatsächlich hatte Regina mich gefragt, ob ich nicht ein Stück auf der Beerdigung spielen wolle. Ich zierte mich eine Weile, um glaubwürdiger zu erscheinen. Dann verneinte ich und erklärte, der Respekt vor den Toten verbiete dilettantisches Klampfen am offenen Grab. Vermutlich war Regina die Einzige, die mich in der Kirche vermisste.

Den Kopf gesenkt, die Hände vor dem Bauch gefaltet, schloss ich mich der Trauergemeinde beim Verlassen des Gotteshauses an, nachdem ich eine halbe Stunde durch die Gräberreihen geschlendert war, in Erinnerungen schwelgend.

Von all den Gesichtern, dem Gebrüll der Stimmen, den Ausdünstungen der Körper, den peitschenden Händen und zutretenden Füßen, den triefenden Augen und sabbernden Mündern waren nur noch Namen übrig, teilweise verwaschen und verblasst, auf einem grauen, schwarzen, weißen oder braunen Stein, durchweg gepflegt, genau wie die unkrautlosen, gleichförmigen Vergissmeinnicht-Rabatten – ein Paradies der Menschenlosigkeit.

So war mir dieser Friedhof schon als Kind vorgekommen, und ich liebte und verehrte diesen Ort. Deshalb empfand ich es immer als eine Schande, dass der Vatikan mir seinerzeit keine Urkunde anlässlich meines zehntausendsten Besuches verliehen hatte.

»Da bist du endlich.« Die Stimme schrammte an meinem Nacken entlang. »Wieso bist du nicht in der Messe gewesen?«

Ich brauchte mich nicht umzudrehen. Der Geruch ihres Parfüms reichte aus, um mir ihr von verkrampfter Erwartung gezeichnetes Gesicht vorstellen zu können. Ihre Nähe am Tresen vermittelte mir jedes Mal eine Aura von Altersarmut. Wenn Regina mir das Glas hinschob oder ihr eigenes nahm und mir zuprostete, wirkten ihre knochigen Finger wie eingehüllt in gebrauchte Haut, die schon alt war, als Regina geboren wurde. Angeblich war sie vierundfünfzig. Neben der mindestens siebzigjährigen Witwe des alten Rupp ging sie als deren ältere Schwester durch – zumindest in meiner Vorstellung und dem schäbigen Tageslicht.

Während der Priester den aufgebahrten Sarg mit Weihwasser segnete und einer der beiden Ministranten das Weihrauchfass schwenkte – das Geräusch der Kette klang vertraut in meinen Ohren –, warf Regina mir Blicke zu, die sie unter ihrer schwarzen Schirmmütze für unauffällig hielt.

Wir waren in Heiligsheim. Jeder der dreitausend Dorfbewohner war mit Augen größer als Flutlichtscheinwerfer auf die Welt gekommen. Einige hatten sogar – Furunkel ihres verhunzten Erbguts – unsichtbare Nachtsichtgeräte auf der Stirn. Jeder hier sah alles.

So funktionierte die Schicksalsgemeinschaft in der Senke unterhalb des tausendvierhundertzweiundfünfzig Meter hohen Felsenkellers. Das erste Blinzeln eines Neugeborenen landete automatisch in der geheimen Datenbank eines jeden Mitbürgers, auf dass diesem kein Wimpernschlag entging, kein unerlaubtes Zucken eines Lids, keine Träne, kein verschämter Blick.

Regina mühte sich umsonst. Ungeniert beobachtet von Johanna Geiger, die von der anderen Seite des Erdhügels unter ihrem Hutschleier herüberschaute, wandte sie mir halb den Kopf zu und berührte mich mit der Schulter.

Ich stand reglos da, scheinbar versunken in das allgemeine Vaterunser, ließ meine Lippen die Worte formen, als müsste ich mir Gebete von der Seele murmeln.

Reginas Parfüm umwaberte mich.

»Kommst du mit in den Postillion?«, flüsterte sie. Ich zögerte, bevor ich nickte. »Wir setzen uns an einen Tisch.« Weil ich nicht antwortete, fügte sie hinzu: »O. k., du?«

Ihr Mann war seit fast drei Wochen spurlos verschwunden, und sie flirtete auf einer Beerdigung.

Vom Balkon im ersten Stock meines Hauses konnte ich auf den bewaldeten Felsenkeller schauen. In einer inzwischen wiederaufgebauten Berghütte hatte angeblich König Ludwig II. heimlich Lesungen mit dem Schauspieler Josef Kainz veranstaltet, mit einem einzigen Zuhörer: ihm selbst. Dort rezitierte er auch seine ohne Wissen der Familie eigenhändig verfassten und von den Werken Sacher-Masochs inspirierten Verse, vor einem Publikum, das ebenfalls nur aus einer Person bestand: dem jungen österreichisch-ungarischen Mimen.

In den drei Jahren seit meinem Einzug war ich praktisch nie draußen gewesen, um mich einer Art Ausblick hinzugeben. Ich genoss andere Dinge. Die Stille im Haus. Den allmählich schwindenden Tag. Eine bestimmte Sorte von Erinnerungen. Das Bier in der Pumpe und das damit verbundene Anschwellen des Ekels, der – wenn ich den Absprung verpasste und Reginas Hand mich berührte – in den sackleinenen Hass des Büßers überging, der ich in meiner Jugend zu oft gewesen und den zu vernichten ich nach Heiligsheim zurückgekehrt war.

In diesen Momenten – allein daheim oder mit der Wirtin in der Kneipe – empfand ich eine beinah heilende Ruhe in mir. Als wäre alles, was geschah, im Einklang mit dem einen Traum, der mir noch blieb.

Zum ersten Mal seit Jahrzehnten gehörte mein Leben wieder ausschließlich mir – und ich holte mir noch einen Löschzwerg aus dem Kühlschrank oder bestellte bei Regina ein Chriesiwasser.

Allerdings war ich in der Nacht vor der Beerdigung des alten Apothekers tatsächlich für ein paar Minuten auf den Balkon hinausgetreten. Ich hatte mir eingebildet, in der Ferne einen ungewöhnlichen Lichtschein gesehen zu haben.

Wahrscheinlich hatte ich mich getäuscht. Da stand bloß wieder, wie ein aus der Dunkelheit gequollener Schatten, das mindestens einen Meter hohe Tier und glotzte reglos zu mir her. Alle paar Tage tauchte es auf, meist, bevor die Nacht begann. Streckte seinen langen Hals in die Gegend, hob seinen Hintern, damit die Welt den weißen Fleck besser sehen konnte, verharrte mit seinen vergilbten Haxen wie festgetackert im Gras, zerstörte mit einem einzigen bellenden Laut meine Stille und galoppierte dann zurück ins Unterholz. Keine Ahnung, wieso das Vieh nicht längst zu Wildbret mutiert war.

Eine Zeitlang beschäftigte mich meine Beobachtung noch. Dann legte ich mich im Bett mit dem Gesicht zur Wand und horchte.

Kein Mucks aus der Kammer meines Gastes.

Am nächsten Morgen erwachte ich wie von kalten Träumen innerlich geduscht, munter und zu Mitleid entschlossen.

Ich zog mir eine saubere Unterhose und ein erst zwei oder drei Mal getragenes schwarzes T-Shirt an. Im grauen Licht des Morgens begutachtete ich den Anzug, der seit drei Jahren unbenutzt im Schrank hing. Ich entdeckte keinerlei Auffälligkeiten, wählte das dunkelblaue, fast schwarz aussehende Hemd, zog es an und ging, barfuß und in Unterhose, in die Küche, um die Kaffeemaschine anzustellen.

Auf dem Herd stand der Topf mit dem Rest der Gemüsesuppe, die ich vorgestern gekocht hatte. Unsere beiden Teller und die Löffel hatte ich noch nicht weggeräumt.

Während ich den Kaffee trank, betrachtete ich genügsam das schmutzige Geschirr und die zerknüllten, grünen Papierservietten. Viel mehr gab es nicht zu sehen. Nach Möglichkeit vermied ich jede Form von Unordnung. So was regte mich auf, zerstörte die Anmut des freien Raums.

Zugegeben, auf solche Feinheiten achtete ich erst, seit ich das Haus gekauft hatte und praktisch ohne Möbel eingezogen war. Vorher hatte ich wie ein gewöhnlicher Großstadtsingle in einem preiswerten Apartment gehaust, wo es vor allem darum ging, die Toilette, das Waschbecken und die Dusche einigermaßen sauber zu halten. Das war mir in all den Jahren auch gelungen. Ich hatte gelernt, das Leben eines Mannes zu führen, der nicht weiter auffiel – außer im Geschäft. Da hatte ich das Sagen, und die Angestellten wussten, dass ich laut werden konnte, wenn die Abläufe durcheinandergerieten.

Ich wollte nicht mehr laut werden.

Ich wollte in keiner lauten Stadt mehr wohnen. Die Zeit der Besinnung und der Abgeschiedenheit war angebrochen. Fast ein Jahr hatte ich benötigt, um zu begreifen, was zu tun war.

In der Nacht vor meinem fünfzigsten Geburtstag hatte die lautlose Erschütterung begonnen, ein Aufstand der Geräusche aus dem Maschinenraum meiner eisern behaupteten Existenz.

Tag um Tag, Monat um Monat hatte ich dabei zugesehen, wie alles in mir zum Stillstand kam. Wie die Motoren, die ich über die Jahrzehnte gewissenhaft geölt und poliert hatte, allmählich verreckten und einen ausgelaugten, erkalteten Kadaver zurückließen, den die Leute weiter für den Besitzer der Le-Chok-Bar in Charlottenburg hielten, anstatt zu erkennen,...

Erscheint lt. Verlag 8.8.2016
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Andreas Hoh Krimifestival-Preis 2024 • Bayern • Bestseller • bücher bestseller • Crime Cologne Sonderpreis 2017 • Crime Fiction Noir • Deutsche Krimi-Autoren • Deutsche Krimis • Deutscher Krimi Preis • deutsche Thriller • Deutsche Thriller-Autoren • Deutschland • Dunkel • düster • Hard Boiled • Hochspannung • Kriminalroman • Missbrauch • Mitteleuropa • Nervenkitzel • Neuerscheinung Krimi • Noir • Page Turner • psychologische Krimis • Psycho-Spannung • Rache • Spannung • spiegel bestseller • Spiegelbestseller • SPIEGEL-Bestseller • ST 4827 • ST4827 • Stuttgarter Krimipreis 2016 • Süden • Südostdeutschland • suhrkamp taschenbuch 4827
ISBN-10 3-518-74798-3 / 3518747983
ISBN-13 978-3-518-74798-8 / 9783518747988
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Krimi

von Jens Waschke

eBook Download (2023)
Lehmanns Media (Verlag)
CHF 9,75
Zärtlich ist die Rache. Thriller

von Sash Bischoff

eBook Download (2025)
Fischer E-Books (Verlag)
CHF 12,65