2085
Eridanus Verlag
978-3-946348-12-2 (ISBN)
John Marc, Jahrgang 1972, studierte Medizin und Wirtschaft. Im Krankenhaus, einem Brennpunkt des Lebens, fand er viele Antworten, aber auch viele Fragen, die er in seinen Texten verarbeitete. Besonders beeindruckt wurde er dabei von Visionen einer möglichen Zukunft und deren Auswirkungen auf uns Menschen. John Marc dystopischer Science Fiction Roman »2085: Der Fall der Götter« erschien im Eridanus Verlag.
Schnell, Sid. Hol die Hirnstimulatoren.« Ich griff hinter mich und nahm zwei runde Plättchen vom Tisch. Nachdem ich sie eilig an den Schläfen des jungen Mannes fixiert hatte, startete die Stimulation des Stammhirns: nur noch unkontrollierte Zuckungen des Körpers, keine Eigenaktivität. »Wir brauchen einen zentralen Zugang!«, schrie Francine. »Kann nicht jemand nach dem Blut sehen? Wir müssen unbedingt sein Volumen auffüllen!« Hektik breitete sich im Raum aus. Zu jung war dieser Patient, als dass man ruhig bleiben konnte. Francine versuchte, in der Leistenbeuge ein Blutgefäß zu tasten. Eine medizinische Einheit assistierte ihr dabei. Dank des Monitors an der Seite war die Vene gut zu lokalisieren, jedoch glitt die Nadel bei jedem Versuch, sie zu punktieren, ab. »Irgendetwas stimmt nicht mit seinen Blutgefäßen. Schalte den Mikroscanner ein!« Ein Hologramm erschien mitten im Raum. Man konnte die Gefäßwand eindeutig erkennen, die Intima, Media, Adventitia. Doch die Strukturen waren zu regelmäßig. »Es sind Implantate!«, erkannte ich sofort. Der junge Mann war im Institut für Kryotechnik für wenige Sekunden in eine der Kältekammern geraten. Für einen menschlichen Körper war das ohne weiteres zu tolerieren, nicht jedoch für künstliche Gefäßwände. Ihre kybernetische Komponente hatte sich durch den Kälteschock kristallisiert. So perfekt die kybernetischen Implantate im normalen Leben auch ihren Dienst verrichteten, so gefährlich waren sie in Extremsituationen; sie mutierten zu wahren Killern, wie ich es schon oft erlebt hatte. Auf das Gesicht des jungen Mannes legte sich bereits unaufhaltsam der Blick des Todes: fahl, bleich, fast gelblich wurde es. Das Ende nahte. »Dreh die Stimulation höher!«, schrie mir Francine zu. »Ich bin schon am Limit!« »Dann geh drüber!« Letzte unkontrollierte Zuckungen zeigten das Chaos in seinem Gehirn. Nur noch vereinzelte Entladungen seiner Hirnrinde kamen ungeordnet wie Gewitterblitze und ohne erkennbares System an den verschiedenen Orten seines Körpers zum Vorschein. Unaufhaltsam grub sich der Tod immer weiter in ihn hinein. An jenem Tag begann das Unfassbare. Als der junge Mann starb, lag auch unsere Welt bereits im Sterben. Nun stehe ich hier vor den Trümmern unserer Zivilisation und halte normales Wasser aus dem Replikator in den Händen. Nur dieses ein Glas und ich werde alles um mich herum vergessen. Ich werde sein wie die anderen, ohne Hoffnung, ohne jeden Sinn im Leben. Und ich bin nun bereit, den letzten Schritt zu gehen. Wir schreiben das Jahr 2085, Februar. Ich bin Arzt im Gesundheitspark MyFair. Krankenhäuser gibt es nicht mehr. Ein paar Jahre sah es tatsächlich so aus, als ob wir keine Krankenhäuser mehr bräuchten. Doch die Zeiten haben sich geändert. Vieles hat sich geändert. Es war einer dieser endlosen Tage im MyFair. Ich hatte damit zu kämpfen, die Müdigkeit und den Kater der letzten Nacht zu überwinden. Meine Gedanken über das gestrige Gespräch mit meinem Kollegen Marvin Clay kreisten zäh in meinem Kopf und der Tod des jungen Mannes zerrte noch an meinen Nerven. Schon einige Male hatte ich Patienten verloren. Doch diesmal war es besonders hart für mich. Er war ein gesunder junger Mann in meinem Alter, unschuldig an dem, was passierte. Nur selten verloren wir hier am MyFair so junge Patienten. Aber trotz unserer hoch entwickelten Technik kam es immer wieder zu irrsinnigen Unfällen. Und irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie sogar noch brutaler und erschreckender wurden. Auch wenn die moderne Technik zu unserem Schutz gedacht war – wenn sie versagte, traf uns die ganze Wucht ihrer Macht. Und wir hatten dem mit unseren schwachen menschlichen Körpern nur wenig entgegenzusetzen. – Gegen meine Gewohnheit fuhr ich am Abend mit einem Drivecar im »Fast Inn« vorbei, einem der vielen Nachfolger der einstigen McDonald’s-Kette, die nun ausschließlich synthetisches Rindfleisch anbieten. McDonald’s gibt es seit 2050 nicht mehr, seit dem Jahr des Rinderwahnsinns. Ich kenne diese Zeit nur aus den Erzählungen meiner Eltern. Junge intelligente Menschen fingen plötzlich an, wie Kleinkinder zu reden und liefen apathisch auf den Straßen herum. Die Universitäten verwaisten. Niemand dachte damals an Rinderwahn, seit Jahren gab es keine Hinweise mehr darauf. Doch die Krankenhäuser füllten sich mit todkranken Jugendlichen, bis ein findiger junger Laborant mit einer Abneigung gegen Rindfleisch dem Übel auf die Spur kam. Zum Glück fand man ein gentechnisches Therapieverfahren, das im Körper Antikörper gegen die todbringenden Prionen erzeugte. Es war Rettung in letzter Minute, denn viele Experten sahen schon das Ende der Welt kommen. Noch heute müssen wir die Opfer behandeln. In speziellen Genesungszentren – der Begriff Pflegeheim wurde aus dem Vokabular der Medizin verbannt – verbringen sie den Rest ihres einst so hoffnungsvollen Lebens. Der durch die Prionen angerichtete Schaden konnte auch mit unserer modernen Medizin nicht behoben werden, und so vegetieren sie dort, während wir dem hilflos gegenüberstehen. Seit jenen Tagen gibt es kein Rindfleisch mehr, kein natürliches zumindest. Ich mag das synthetische Fleisch nicht, auch wenn Experten die Nahrhaftigkeit und die Ungefährlichkeit wie Werbeagenten tagtäglich propagierten. Bei jedem Bissen kann ich mich eines gewissen Nachgeschmacks von Plastik nicht erwehren. Die Vorstellung der Produktion in einer dieser neuartigen Fabriken mit künstlich gezüchteten Proteinen in riesigen Bottichen lässt mir den Geschmack noch fader und abscheulicher erscheinen. Doch die Müdigkeit siegte heute Abend. In dem Zustand, in dem ich mich befand, war mir die Art der Nahrung, mit der ich meinen Magen füllen und mich der nachfolgenden Trägheit hingeben konnte, ziemlich egal. In Gedanken döste ich vor mich hin. Mein Drivecar fuhr selbstständig mit 300 km/h über den Highway. Die neu gebauten Gebäudekomplexe rasten an mir vorbei. Nur schemenhaft konnte ich die Menschen in den Innenhöfen erkennen. Ich schloss die Augen und streckte die Füße aus. In den selbstfahrenden Autos der heutigen Zeit ist viel Platz im Innenraum. Auch ist der Elektromotor kaum zu hören. Mit dem Einsatz von Supra, einem speziellen technischen Verfahren auf Basis von Supraleitern, ist ein solches Auto energetisch völlig autark. Es benötigt keinen Treibstoff mehr. Solarzellen und Hochleistungsspeicher liefern über Jahrzehnte genug Energie. Die Kommunikation erfolgt komplett via Spracheingabe, gesteuert wird es über einen Zentralrechner. Kaum noch jemand besitzt ein eigenes Auto. Warum auch? Man müsste sich darum kümmern. Das Drivecar wird bestellt, und da unzählige von ihnen unterwegs sind, steht er in wenigen Sekunden am Bestimmungsort bereit. Der Drivecar raste in die Tiefgarage unseres Apartmentkomplexes. Ein Sensor an der Einfahrt erkannte mich sofort und öffnete die Stahltür. Automatisch wurde der Wagen durch einen Leitstrahl in seine Parkstellung geführt. Die Tür des Autos öffnete sich und ich stieg zügig in einen Fahrstuhl, der mich bis zur dritten Etage brachte. Neben der Tür meines Apartments legte ich die Hand auf den angebrachten Scanner. Ein Lichtstrahl tastete die Innenfläche ab. Ich spürte seine angenehme Wärme, die meine Hand von oben und wieder nach unten durchströmte. Doch auch wenn es mir jetzt gefiel, wusste ich doch, dass dies normalerweise nicht nötig war. Denn wie so oft in den letzten Tagen blieb auch diesmal die Tür zu meinem Appartement verschlossen. Wie die letzten Male schlug ich mit der Faust gegen den Scanner. Gestern noch hatte mir meine recht unkonventionelle Methode den erwünschten Erfolg gebracht. »Sharon! Mach auf!«, rief ich genervt. Aus dem Inneren des Apartments drang eine sanfte, computersimulierte Stimme. »Bitte legen Sie Ihre Handfläche auf den Scanner und warten Sie auf das Bestätigungssignal.« Ich tat es, doch konnte ich nun nichts Angenehmes mehr daran finden. Keine Reaktion. »Sharon, ich bin’s. Mach endlich die Tür auf!« Wieder passierte nichts. Frustriert, einen Beutel voll mit synthetischem Rindfleisch in der Hand, lief ich zu dem Holoplay ein paar Meter den Gang hinunter. Das Holoplay hatte mit der Einführung holografischer Projektionen das herkömmliche Display abgelöst. Generatoren erzeugten Hologramme, die in der Wahrnehmung keinen Unterschied mehr zur Realität aufwiesen. Man konnte dies nur noch durch direkte Berührung feststellen, oder wie hier durch das äußere Erscheinungsbild. Als ich vor das Holoplay trat, fragte mich eine typische Servicesimulation mit perfektem Outfit und ewig lächelndem Gesicht nach meinem Problem. Wie die Tage zuvor, jedoch noch genervter als sonst, schilderte ich meine Situation. »Dr. Foster, es tut uns leid. Eine Service-Einheit hätte den Schaden längst beheben sollen. Bitte legen Sie Ihre Hand auf den Scanner vor Ihnen und ich werde die Tür zu Ihrem Apartment sofort öffnen.« Wieder legte ich meine Hand auf den Scanner und sah diesmal kaltes Licht gründlich die Innenfläche abtasten. Ich war sauer. Was machten die Service-Einheiten eigentlich den ganzen Tag? Wenn ich so meine Patienten behandeln würde, wäre die Welt bald um die Hälfte ihrer Bewohner ärmer. »Vielen herzlichen Dank!«, antwortete ich missgelaunt meinem lächelnden Gegenüber und biss in meinen synthetischen Hamburger. Wieder vor meinem Appartement angelangt, fand ich die Tür nun geöffnet. Müde trat ich ein. »Guten Abend, Dr. Foster. Ich hoffe, Sie hatten einen schönen Tag.« »Er wäre noch schöner gewesen, wenn du mich gleich reingelassen hättest, Sharon«, antwortete ich gereizt.
| Erscheinungsdatum | 08.12.2016 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Edition Dystopia |
| Mitarbeit |
Cover Design: Michaela Stadelmann |
| Verlagsort | Bremen |
| Sprache | deutsch |
| Maße | 120 x 190 mm |
| Gewicht | 315 g |
| Einbandart | Paperback |
| Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
| Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction | |
| Schlagworte | Dystopie • Dystopie; Romane/Erzählungen • Dystopie; Roman/Erzählung • Dystopische & utopische Literatur • Dystopische Romane • Dystopische & utopische Literatur • Endzeit • Endzeit; Romane/Erzählungen • Genetik • Gentechnik • Gott • Götter • Hospital • Jesus • Medizin • Science Fiction • Science-Fiction: Apokalypse/Postapokalypse • Science-Fiction: Nahe Zukunft • Science Fiktion • Therapie • Vereinigte Staaten von Amerika, USA • Wahnsinn • Zukunft |
| ISBN-10 | 3-946348-12-2 / 3946348122 |
| ISBN-13 | 978-3-946348-12-2 / 9783946348122 |
| Zustand | Neuware |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
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