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Jessicas Traum (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
1950 | 1. Auflage
240 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-42985-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Jessicas Traum -  Dörthe Binkert
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»Manche Träume muss man aufgeben, bevor sie einen umbringen.« Zwei Frauen, zwei Freundinnen, zwei Lebensentwürfe. Ann lebt ein 'normales' Leben mit den üblichen Höhen und Tiefen. Aber es ist das Schicksal ihrer Freundin Jessica, von dem sie nicht loskommt. Für Jessica scheint Realität zu werden, wovon viele träumen: die große Liebe und der mit Nick geteilte Wunsch, in einem alten Cottage in einem unberührten Tal in Wales zu leben. Doch Ann, die Jess um so manches beneidet, wird Zeugin einer dramatischen Entwicklung, die sie Stück für Stück aufschreibt - in der Hoffnung, die Lebensträume der Menschen besser zu verstehen und Jess zu retten.

Dörthe Binkert, geboren in Hagen/Westfalen, wuchs in Frankfurt am Main auf und studierte dort Germanistik, Kunstgeschichte und Politik. Nach ihrer Promotion hat sie viele Jahre für große deutsche Publikumsverlage gearbeitet. Seit 2007 ist sie freie Autorin und lebt in Zürich. 

Dörthe Binkert, geboren in Hagen/Westfalen, wuchs in Frankfurt am Main auf und studierte dort Germanistik, Kunstgeschichte und Politik. Nach ihrer Promotion hat sie viele Jahre für große deutsche Publikumsverlage gearbeitet. Seit 2007 ist sie freie Autorin und lebt in Zürich. 

Wrexham, 13. Februar

 

 

Der Himmel ist düster und schwer von Regen. Es ist Februar und mild. Ich bin in Wales, in Wrexham – gestern habe ich mich im Hotel Belmont in der Belmont Road einquartiert. Von hier aus ist es nicht weit zum Maelor Hospital, wo sie meine Freundin Jess hingebracht haben. Ich bin die Victoria Road bis zum Bellevue Park raufgegangen, dann den Park entlang, bis links die Watery Road direkt zu den Gebäuden des Krankenhauses abzweigt. Weil ich mich in Wrexham nicht gut auskenne, habe ich mir im Hotel einen Stadtplan geben lassen. Man kann den Weg gut zu Fuß machen. Immer wieder ist die Sonne durch die Wolken gebrochen, als ich zum Krankenhaus ging. Die Sonne wandert noch in flachem Bogen. Die Schatten sind tief, das Licht blendet, wenn es auf die Karosserien der Autos fällt.

Was man alles wahrnimmt, während man mit dem Kopf doch ganz woanders ist. Oder worauf man sich konzentriert, um das Schreckliche nicht denken zu müssen.

 

Ich weiß nicht, ob Jessica mich erkannt hat. Weder gestern noch heute hat sie die Augen geöffnet.

»Ich bin’s, Ann!«, hab ich gesagt und ihre Hand genommen. »Hörst du mich? Erkennst du meine Stimme? Ann!«

Aber sie hat nicht reagiert, kein Zucken, nicht der leiseste Gegendruck von ihrer Hand. Nur das monotone Piepsen der Maschinen, das leise Zischen des Beatmungsgeräts. Ihr langes blondes Haar lag ordentlich gefächert auf dem Kissen, eine Krankenschwester muss es gekämmt haben, als sie Jess das Gesicht wusch.

Ihre schön gewölbte Stirn, der dichte Kranz der Wimpern. Was geschieht hinter dieser Stirn, den geschlossenen Augen? Dieser tiefe, unheimliche Schlaf. Ich kann das alles noch nicht glauben.

Am Donnerstag, vorgestern, rief mich Nick in Zürich an. »Vielleicht willst du kommen«, sagte er. »Jess ist im Krankenhaus, in Wrexham. Sie hat versucht, sich umzubringen. Es sieht nicht gut aus.«

»Ich komme«, sagte ich. »Wie heißt das Krankenhaus? Wo bist du untergebracht? Hast du Amy bei dir?«

Er antwortete wie in Trance.

»Okay«, sagte ich. »Ich fliege nach Manchester oder Liverpool und miete einen Wagen. Wenn es irgend geht, morgen. Gib mir die Telefonnummer deiner Freunde in Wrexham, damit ich dich erreichen kann.«

 

Am nächsten Morgen ging ich in Zürich schon mit gepackter Reisetasche ins Kunstwissenschaftliche Institut, wo ich arbeite, und meldete mich für zwei, drei Tage ab. Das war kein Problem, es lag nichts Dringendes an. Kurz vor Mittag nahm ich den Flug nach Manchester, zwei Stunden später landeten wir. Ich mietete ein Auto und fuhr nach Wrexham. Die Route über Chester ist die schnellste – in gut einer Stunde war ich da.

Nick war im Krankenhaus, als ich bei seinen Freunden anrief, aber die Frau, die sich meldete, holte Amy ans Telefon.

»Hi, Annie«, sagte Amy. Das war alles. Sie war völlig verstört.

»Hi, Amy! Wir sehen uns bald, ja?«, rief ich ins Telefon, aus dem nur Schweigen zurückkam. »Ich geh jetzt zu Jess ins Krankenhaus und zu Daddy. Und dann sehen wir uns. Spätestens morgen.«

Wahrscheinlich nickte Amy auf der anderen Seite.

Amy ist mein Patenkind. Ich kannte sie schon, als man von Jessicas Schwangerschaft noch gar nichts sah. Ich konnte zuschauen, wie sie wuchs, wie Jessies Bauch sich erst sanft und dann immer heftiger wölbte, bis ihre Figur aussah, als wäre sie einem Vexierspiegel entsprungen.

Gott sei Dank hat Nick Bekannte in Wrexham, bei denen er mit Amy wohnen kann. So muss er sie nicht mitnehmen, wenn er ins Krankenhaus geht. Sie ist mit ihren fünf Jahren doch noch viel zu klein, um zu verstehen, was geschehen ist.

 

Im Krankenhaus fragte ich mich zur Intensivstation durch.

»Ich bin so was wie ihre Schwester«, sagte ich, »ihre deutsche Familie. Bitte, ich muss sie sehen.« Da ließen sie mich durch.

Nick war bei ihr. Wir umarmten uns wortlos und saßen dann an Jessicas Bett, jeder auf einer Seite.

»Wann ist es passiert?«, fragte ich.

»In der Nacht auf Mittwoch.«

Ich sah auf Jessicas verbundene Handgelenke. »Sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten …«

»Und Schlaftabletten genommen.«

Ich sah, dass Nick kaum etwas herausbrachte. Die einen reden im Schock ununterbrochen, die anderen sagen gar nichts.

»Ich kann dich ablösen«, sagte ich, »damit du ein paar Stunden schlafen kannst. Zwei, drei Tage kann ich bleiben und mich auch um Amy kümmern, wenn du willst.«

Er nickte vage.

»Ich kann dich auch mit dem Auto nach Graig Ddu fahren, wenn du zwischendurch mal nach dem Haus sehen musst. Oder hast du inzwischen einen Wagen?«

Nick schüttelte den Kopf.

»Wie seid ihr bloß vom Berg runter zur Landstraße und weiter gekommen? Wie hast du überhaupt Hilfe geholt? Oder habt ihr inzwischen ein Telefon?«

Nick antwortete nicht auf meine Fragen, er sagte nur: »Ja, ich sollte morgen zum Haus rauf. Ich muss dringend nach den Tieren sehen. Aber John fährt mich, kein Problem.«

Ich bot an, dass Amy solange zu mir ins Hotel kommen könne; ich fand es besser, sie nicht gleich mit nach Graig Ddu zu nehmen. Aber Nick wollte, dass sie bei ihm blieb, und ich beharrte nicht auf meinem Vorschlag. Wahrscheinlich wollte auch Amy sich jetzt um keinen Preis von Nick trennen.

»War Amy schon hier im Krankenhaus?«

»Nein«, sagte Nick müde. »Die Intensivstation ist nichts für Kinder. Aber kaum komme ich zu John und Ellen zurück, fragt sie‚ ob Jess wieder spricht. Und wenn ich sage, nein, sagt sie jedes Mal: ›Ist sie jetzt tot?‹«

Nein, das ist sie nicht.

»Man muss abwarten«, haben die Ärzte zu Nick gesagt, »wir tun, was wir können. Ihre Frau ist jung, das Herz ist gesund. Aber ob sie es schafft, das können wir nicht sagen.«

Gestern Abend habe ich noch kurz Amy gesehen, Nick kam mit ihr im Hotel vorbei. Heute wollten sie zum Haus.

»Die Hühner müssen doch was zu fressen bekommen«, sagte Amy ernst.

»Und der Hund?«, fragte Nick und nahm sie in den Arm.

»Jack auch«, bekräftigte sie, »aber Jack ist bei uns, und die Hühner sind ganz allein.«

 

Und ich sitze hier in meinem Hotelzimmer und kann nichts anderes tun, als alles über Jess und Nick und mich aufzuschreiben, woran ich mich erinnere. Ich habe schon im Krankenhaus damit angefangen, die stille, reglose Jess in ihren weißen Kissen neben mir. Als ob mir so klarer würde, warum sie sterben wollte. Als ob ich sie am Leben erhalten könnte, indem ich von ihr spreche. Damit sie, gefangen in einer Zwischenwelt mit zwei Ausgängen, die Tür zurück ins Leben nimmt.

 

 

Ich war dabei, als Nick und Jess sich zum ersten Mal begegneten, damals, im Februar vor sechs Jahren, in London. Jess und ich hatten uns ein paar Monate vorher kennengelernt. Wir studierten beide Anglistik am University College in London und schrieben eine Seminararbeit zusammen. Bis dahin hatten wir noch kein Wort miteinander gesprochen, uns nur immer zugelächelt. Jess kam meist zu spät zur Vorlesung oder ins Seminar und quetschte sich dann irgendwo auf ein freies Plätzchen. Ich bin jemand, der immer zu früh da ist. Aber als der Dozent Gruppenreferate verteilte, zwei bis drei Leute für ein Thema, saßen wir zufällig nebeneinander, zum ersten Mal. Wir sahen uns an, und die Sache war klar.

Es ging um Shakespeare, um die Personenkonstellation in einer seiner Komödien. Ich glaube, es war Wie es euch gefällt, aber an mehr erinnere ich mich nicht. Wir nahmen die Arbeit nicht besonders ernst. Natürlich wollten wir englische Literatur studieren, vor allem aber wollten wir in London sein.

Man fragt sich, wie so was geht, aber Jessica und ich hatten uns gefunden, als wenn ein Magnet uns zueinander hingezogen hätte. Sie war Deutsche wie ich, wir beide machten unser »Englandjahr« – und wir wurden sofort dicke Freundinnen. Auch bei Freundschaften gibt es so was wie »Liebe auf den ersten Blick«, eine geheime Anziehung, die man nicht erklären kann. Jess war mir sofort aufgefallen, und ich freute mich riesig, als sie mein Lächeln erwiderte.

 

Anders als ich war Jessica noch ziemlich am Anfang des Studiums. Sie hatte zuerst Biologie studiert, dann aber sehr bald umgesattelt.

»Ich beneide die Leute, die ganz genau wissen, was sie wollen«, sagte sie und zog ihren typischen Schmollmund dazu.

Sie hatte etwas Verspieltes, Weiches, Anschmiegsames, auch etwas Ungefähres, das noch auf Prägung wartete. Das gefiel mir, vielleicht weil ich selbst ziemlich zielstrebig bin, zumindest entschiedener, ein eher kantiger Typ. Ich war damals vierundzwanzig, fast vier Jahre älter als Jess, und lebte nicht wie die meisten Studenten in einem Studentenheim, sondern in einer Wohngemeinschaft. Jessica kam zum Arbeiten meist zu mir. Sie wohnte zur Untermiete bei einer Witwe, die Owen hieß und es nicht gern sah, wenn Jess Besuch hatte.

»In dem Punkt kann ich sie verstehen«, meinte Jess großmütig, als ich mich darüber wunderte. »Das Haus ist klein, sie vermietet das Zimmer nur, weil sie Geld braucht. Sie fühlt sich bedrängt, wenn dauernd Fremde da ein und aus gehen.«

Jess hat immer Verständnis für andere. Manchmal zu viel, finde ich.

 

An dem Tag, an dem wir Nick zum ersten Mal sahen, hatten wir bei mir zu Hause gearbeitet. Als wir genug hatten, gingen wir auf ein Bier in den Pub gleich um die Ecke.

Jessica fiel überall auf. Das Blond ihrer Haare leuchtete im Dunst des dunkel getäfelten Pubs und floss ihr über die Schultern, als wollte sie es wie Rapunzel aus...

Erscheint lt. Verlag 1.1.1950
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anja Jonuleit • Carmen Korn • Depression • Einsamkeit • Elena Ferrante • Familie • Frankfurt • Frauenfreundschaft • Frauenroman • Freundinnen • Freundschaft • Freundschaftsroman • Italien • Lebenstraum • Lebensträume • London • Schicksalsroman • Selbstmordversuch • Suizid • Wales • Zürich
ISBN-10 3-423-42985-2 / 3423429852
ISBN-13 978-3-423-42985-6 / 9783423429856
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