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Der Raub der Stammesmutter (eBook)

Roman. Mit einer Übersichtskarte. Die Grönland-Saga I

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016
223 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-30915-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Raub der Stammesmutter - Jørn Riel
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Um das Jahr 1000 n. Chr. machen sich die Inuit aus Kanada auf in ein unbekanntes Land: Grönland, das »Land der großen Erwartungen«. Von Generation zu Generation wird die Geschichte der abenteuerlichen Entdeckung des neuen Landes weitergegeben. Im ersten Buch der Grönland-Saga wird erzählt, wie die Stammesmutter Tewee-soo von den Inuit geraubt und wie ihr Mann Heq ein großer und mächtiger Schamane wird.

Jørn Riel (1931-2023) kam im Alter von achtzehn Jahren als Mitglied einer Expedition in den Osten Grönlands und blieb dort. Von 1962 bis 1965 unternahm er Reisen nach Westindien, Nordafrika und Südostasien. Zu Fuß durchquerte er Sumatra in elf Monaten. Später arbeitete er im Dienst der UNO im Vorderen Orient, in Syrien und Jordanien. Nachdem er in Thailand, Indonesien und Papua-Neuguinea seinen Wohnsitz hatte, pendelte er zwischen +40 Grad Malaysia und -40 Grad Skandinavien.

Jørn Riel (1931–2023) kam im Alter von achtzehn Jahren als Mitglied einer Expedition in den Osten Grönlands und blieb dort. Von 1962 bis 1965 unternahm er Reisen nach Westindien, Nordafrika und Südostasien. Zu Fuß durchquerte er Sumatra in elf Monaten. Später arbeitete er im Dienst der UNO im Vorderen Orient, in Syrien und Jordanien. Nachdem er in Thailand, Indonesien und Papua-Neuguinea seinen Wohnsitz hatte, pendelte er zwischen +40 Grad Malaysia und -40 Grad Skandinavien.

1


Die langen, kristallklaren Tage des späten Herbstes waren voller wohltuender Ruhe. Die aufregenden Rentierjagden waren vorbei, die Depots angelegt. Die Winterhäuser waren errichtet und warteten auf ihre Bewohner, und die Menschen gingen umher, als erwarteten sie etwas Besonderes.

Nach den vielen hellen Tagen senkte sich die Dunkelheit der Nacht wieder auf das Leben und schenkte herrliche Ruhe. Der Herbst, so schien es Shanuq, war wie ein dralles, junges Mädchen, das sich lächelnd darbot, voller Ruhe und Süße.

Aber dazwischen gab es Tage grauer Unwirklichkeit, und sie konnten ein wenig unheimlich sein: Das war, wenn der Winter sich mit dem Sommer um die Herrschaft stritt, ein Kampf, der wie Nebel vom Meer aufstieg, ein rieselndes Grau, dessen heiseres Flüstern von einer fremden Vorzeit erzählte. Dann war es einem sehenden Menschen möglich, das Land auszumachen, welches das Meer schon vor langer Zeit verschlungen hatte – das Land, das zur Zeit der Vorfahren ganz von Eis bedeckt war, außer einem breiten Saum von Felsen. Über diese Landbrücke, die die alte Welt mit einer neuen verbunden hatte, waren die frühen Menschen auf der Suche nach Jagdwild gezogen. Das war damals, als die ganz Alten jung waren und voll großer Reiselust.

Shanuq wusste das, denn sie war Sklavin beim Kutchin-Volk gewesen, das bestimmte Aufzeichnungen auf Birkenrinde aufbewahrte. Seltsame Striche, ganz ähnlich denen, die ihr Herr Shapokee ihr vor seinem Tod gezeigt hatte. Da waren Zeichen, die für Menschen und Tiere standen, und andere, die die Länder auf beiden Seiten eines höheren Bergkammes vorstellten. Diese Aufzeichnungen, so hatte Shapokee erzählt, stammten aus der Zeit, als Tiere und Menschen einvernehmlich zusammenlebten. Sie konnten jeweils die Gestalt der anderen annehmen und in ihrer Sprache reden. Die Itqiliit, die Hundemenschen, denen Shapokee angehört hatte, nannten diese Aufzeichnungen »Walam Olum«, Worte von großer Kraft. Vielleicht war Walam Olum in den ersten magischen Worten, Erinaliuutut, Worten so voller Kraft, dass sie den Tod derer verursachen konnten, die von ihnen getroffen wurden. Diese magischen Worte beschworen in jenen Zeiten auch Licht und Dunkel herauf. Denn zuerst hatte Dunkelheit geherrscht, weil der Fuchs das Wort Taaq, taaq kannte und Dunkelheit wünschte für seine nächtlichen Jagden. So dunkel war es damals, dass die Jäger einen Finger ins Wasser bluten lassen mussten, damit er ihnen leuchtete, wenn sie das Haus verließen. Aber dann geschah es, dass der Hase in den Besitz des ebenso starken Ubloq, ubloq kam. Und als er dieses Wort aussprach, um sein Futter finden zu können, entstand das Licht, und Tag und Nacht wurden voneinander getrennt. All dies war geschehen, das wusste Shanuq. Die Vorfahren hatten davon berichtet, und darum war es die Wahrheit.

Wenn Shanuq am Strand entlangging, um essbaren Tang und Treibholz fürs Feuer zu sammeln, starrte sie hin und wieder hinaus in den Nebel, um einen Blick auf das verschwundene Land zu erhaschen. Und während sie so hinausstarrte mit einer unerklärlichen Sehnsucht, erinnerte sie sich an ihren Vater. Dann erfüllte sie Freude und eine große Sorglosigkeit. Sie spürte seine Nähe, vielleicht, weil sie die Seele seines Namens in ihrem ersten Kind wiedergeboren hatte.

Je älter sie wurde, desto häufiger gingen ihre Gedanken zurück zu allem, was gewesen war. Und obgleich sie wusste, dass diese Erinnerungen nutzlos und auch störend waren – wie Gedanken, die man sich um die Zukunft macht –, fühlte sie sich gedrängt, zurückzublicken und sich zu erinnern. Erinnerungen waren oft angenehm, sie kamen ungerufen, ohne die geringste Anstrengung waren sie da.

Um diese Angewohnheit aber gleichsam zu entschuldigen, gab sie ihren Gedanken Worte und berichtete ihren Kindern von den vergangenen Zeiten: einerseits, was sie von ihrem Vater gehört hatte, andererseits, was sie selbst erlebt hatte. Sie erzählte von »Walam Olum«, der größten aller Einwanderersagen, die noch unter den Menschen lebendig war. Und sie erzählte von entfernten Verwandten, die dorthin gezogen waren, wo das Jahr in Tag und Nacht geteilt war, Verwandte, die man seitdem nicht befragt hatte. So befreite Shanuq ihren Kopf von den sich aufdrängenden Gedanken, und so sicherte sie die Geschichte der Familie. Ihre Kinder nahmen ihre Worte in sich auf, um sie später selbst weitergeben zu können.

Jetzt war Shanuq alt und ohne rechtes Verständnis für die neuen Zeiten. Das Leben war wechselvoll und so reich an Jahren und Ereignissen gewesen, dass sie ganz durcheinander war, wenn die Erinnerungen sie überfielen. Bisweilen war es für sie eine gewaltige Anstrengung, wenn sich mehrere Erinnerungen gleichzeitig aufdrängten, als könnte sie nur mit einem Gedanken allein fertig werden. Ein Gedanke, den sie vorsichtig hervorholte, als würde sie die Rückensehnen eines Rentieres trennen und zu Nähfäden verarbeiten.

Obgleich so viele Jahre hinter ihr lagen, war die Erinnerung an den Vater nie verblasst. Sie hatte ihn immer als einen alten Mann in Erinnerung, vielleicht deshalb, weil sie selbst noch so jung war, als er starb. Und vielleicht darum auch war ihr das Alter stets in einer Aura von Sorglosigkeit erschienen, im Gegensatz zu anderen Frauen in der Siedlung, die in großer Unruhe alt wurden. Denn sorglos war ihr Vater gewesen. Heq, der berühmte Geisterbeschwörer, der es verstanden hatte, mit dem alles bestimmenden Nuam-Shua umzugehen, dem Herrn der Macht, dieser magischen Kraft, die allem innewohnt. Jetzt bezeichneten die Menschen diese Kraft mit einem geliehenen Wort, mit Silarssuaq, einem Wort, das Shanuq nicht mochte, weil es neu war. Ein solches Wort war für Nuam-Shua ein Hohn. Worte sollte man nicht ändern, war ihre Meinung. Vieles andere konnte man ändern, aber Worte nicht. Denn das Wort war den Menschen von den Geistern gegeben, und darum enthielten Worte Magie und Zauber. Heq hatte die Sprache der Menschen gesprochen, wie sie von allem Anfang an gesprochen wurde. Er war wortreich und ein großer Erzähler, er besaß Furcht einflößende und magische Worte. Er war vertraut mit Pikna, »dem dort oben«, der den Menschen Verderben bringen konnte, wenn es angebracht war.

Shanuq wurde es warm und froh ums Herz, wenn sie an ihre ersten Jahre dachte. Sie musste nur selten Hunger leiden, denn es gab keinen erfolgreicheren und tüchtigeren Jäger als ihren Vater. Er konnte in der Tundra einen Fuchs müde hetzen und besaß immer noch genug Luft, um laut zu lachen, wenn er ihn mit einem einzigen Fausthieb tötete. Und bei mehr als einer Gelegenheit hatte er Braunbären mit seiner Keule erlegt. Er kannte seine Kräfte und Fähigkeiten, selbst die Hundemenschen in den Wäldern fürchteten und hassten ihn und trachteten ihm nach dem Leben.

Heqs Tod veränderte alles. Es geschah in dem Sommer, als Shanuq ihre erste Blutung bekam, gerade an dem Tag, als sie von ihrer Mutter zum Strand begleitet wurde und fünfmal um das Feuer herumgelaufen war, das man nur für sie angezündet hatte.

Es war das Jahr, an das man sich wegen der großen Rentierherden aus dem Norden noch lange erinnerte. Nie zuvor hatte man so viele Tiere gesehen. Sie hatten einen weißgrauen Strom gebildet, der sich von der Tundra zu den Wäldern hin mit einer Wildheit ergoss, die alles mit sich riss. Gerade in diesem Jahr, als sie noch unrein nach der Blutung war, starb ihr Vater.

Die Indianer hatte nach dem großen Rentierschlachten ein wilder Blutrausch erfasst. Sie konnten mit dem Töten nicht aufhören, es lag in der Natur der Itqiliit. Sie sammelten sich in großen Scharen: Kutchin, Kawchodinne und Thingchadinne. Sie zogen nordwärts, um den Inuit ihre Fleisch- und Felldepots zu rauben. Unaufhaltsam wie Rentiere zogen sie über das Land und ließen die Siedlungen der Menschen verwüstet hinter sich.

Auch die Siedlung ihres Vaters bei Nunivak wurde angegriffen. Und obwohl die Menschen hier gut vorbereitet waren und sich tapfer verteidigten, konnten sie einer solch großen Macht nicht standhalten.

Als der Kampf schließlich vorüber war, lagen hohe Wälle von getöteten Feinden um das Haus ihres Vaters. Ganz oben auf dem Wall lagen ihre beiden älteren Brüder und Heq, Messer aus Biberzähnen steckten zwischen den aus Walrosszähnen gefertigten Rückplatten ihrer Ringpanzer. Shanuq war beim Versuch zu fliehen über die blutigen Körper gekrochen, und es gelang ihr, einen erwachsenen Kutchin-Krieger mit der Lanze ihres Vaters zu töten, bevor sie gefangen genommen wurde. Für diese Tat zollten ihr die Hundemenschen große Anerkennung, sie behandelten sie gut, weil sie Mut bewiesen hatte, wie es sich für eine Tochter des berühmten Heq geziemte. Als sie mit den anderen Frauen und einigen Kindern von Nunivak hinunter zu den Wäldern geführt wurde, hatte sie viele Wunden im Gesicht und am Körper.

Sie waren viele Nächte gereist, als sie das Land des Nellagotinne-Stammes erreichten. Es lag weit hinter Tundra und Meer, ein gebirgiges Land, von Seen und Flüssen durchschnitten. So waldreich, dass man lange Zeit nicht gut sehen konnte, weil die Augen daran gewöhnt waren, in die Weite zu schauen. Es war ein trockener, braunverbrannter Wald, und er wirkte genauso unendlich wie die Ebene, in der sie aufgewachsen war.

Alle Kinder starben unterwegs, entweder wurden sie von den Kriegern einfach zum Zeitvertreib getötet, oder sie hatten Verletzungen davongetragen, die nicht heilen wollten. Auch einige der Frauen kamen so ums Leben.

Bei der Ankunft im Lager wurde Shanuq zu Shapokee, dem...

Erscheint lt. Verlag 20.8.2016
Übersetzer Wolfgang Th. Recknagel
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel Heq
Themenwelt Literatur Historische Romane
Schlagworte Arktis • Dänemark • Grönland • Inuit • Kanada • Schamanismus
ISBN-10 3-293-30915-1 / 3293309151
ISBN-13 978-3-293-30915-9 / 9783293309159
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