Der amerikanische Astrophysiker Lucas Martino arbeitet irgendwo in Europa an einem militärischen Geheimprojekt der Alliierten Nationen. Sein Labor liegt in der Nähe jener Grenze, die den Westen vom Osten trennt. Als eines seiner Experimente schiefgeht und es zu einer Explosion kommt, sind die Rettungskräfte des Ostens als erste zur Stelle. Martino wird monatelang ärztlich behandelt - im anderen Teil der Welt. Als man ihn schließlich aus dem Krankenhaus entlässt und in den Westen zurückbringt, ist er nicht mehr wiederzuerkennen: Dort, wo einst sein Kopf war, befindet sich eine metallische Kugel, und sein linker Arm ist ein mechanisches Wunderwerk. Die amerikanische Spionageabwehr reagiert misstrauisch. Kann es einen unanfechtbaren Beweis dafür geben, dass Martino wirklich Martino ist?
Algis Budrys wurde 1931 im ostpreußischen Königsberg geboren und war nach seinem Studium in Miami und New York als Lektor und Verleger tätig. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Kurzgeschichten und Sachbücher. Seine Romane wurden für den Hugo und den Nebula Award nominiert, der Roman Zwischen zwei Welten war Vorlage für den Kinofilm Der Mann aus Metall. Algis Budrys starb 2008 in Evanston, Illinois.
Erstes Kapitel
1
Es war kurz vor Mitternacht. Der Wind kam vom Fluss herauf, stöhnte unter der eisenbeschlagenen Brücke, und die Wetterhähne auf den dunklen alten Gebäuden richteten die Köpfe nordwärts aus.
Der befehlshabende Sergeant der Militärpolizei hatte seine Empfangstruppe auf beiden Seiten der Kopfsteinstraße postiert. Die Straße wurde von einem verwitterten Zementtor mit einem schwarzweiß gestreiften hölzernen Gatter blockiert. Die Blaulichter der großen MP-Jeeps und des wartenden Sedans der Regierung der Alliierten Nationen spiegelten sich in den hochgeschobenen, bruchsicheren Schutzvisieren der lackierten Helme der Soldaten. Über ihren Köpfen war ein Schild, das in dem Licht fluoreszierte:
Sie verlassen den alliierten Bereich
Sie betreten den sowjetisch-sozialistischen Bereich
Shawn Rogers, der Sicherheitschef dieses Sektors der zentraleuropäischen Grenze, saß in dem geparkten Sedan und wartete zusammen mit einem Mann vom Außenministerium der RAN. Er wartete geduldig, und seine hellgrünen Augen starrten angestrengt in die Dunkelheit.
Der Beauftragte des Außenministeriums warf einen Blick auf seine flache goldene Armbanduhr. »Sie werden jede Minute mit ihm hier sein.« Er trommelte mit den Fingerspitzen auf seinen Aktenkoffer. »Wenn sie sich an ihren Zeitplan halten.«
»Sie werden pünktlich sein«, sagte Rogers. »So sind sie nun mal. Sie haben ihn vier Monate festgehalten, doch nun werden sie pünktlich kommen, um ihren guten Willen unter Beweis zu stellen.« Er schaute durch die Windschutzscheibe, über die Schulter des schweigenden Fahrers hinweg zum Tor. Die sowjetischen Grenzposten auf der anderen Seite – Slawen und untersetzte Asiaten in unförmig ausgestopften Mänteln – beachteten die Alliierte Truppe nicht. Sie drängten sich um ein Feuer in einem Ölfass vor ihrer Grenzpostenbude zusammen und streckten der Wärme die Hände entgegen. Sie trugen die Maschinenpistolen mit verhüllten Läufen über den Schultern; schwer und unhandlich hingen sie herab. Sie unterhielten sich und scherzten; keiner machte sich die Mühe, die Grenzlinie zu beobachten.
»Sehen Sie sie sich nur an«, sagte der Mann aus dem Außenministerium verdrossen. »Ihnen ist es egal, was wir anstellen. Es kümmert sie nicht, wenn wir mit einer bewaffneten Truppe angefahren kommen.«
Der Mann aus dem Außenministerium war aus Genf gekommen, fünfhundert Kilometer entfernt. Rogers war seit sieben Jahren hier in diesem Sektor. Er zuckte die Achseln. »Mit der Zeit gewöhnt man sich daran. Diese Grenze besteht schon seit vierzig Jahren. Wir werden nicht mit dem Schießen anfangen, genauso wenig wie sie, und das wissen sie auch. Hier findet der Krieg nicht mehr statt.«
Als er wieder die eng beieinanderstehenden Sowjets betrachtete, fiel ihm ein Lied ein, das er vor Jahren einmal gehört hatte: »Gib dem Genossen mit dem Maschinengewehr das Recht zu sprechen.« Er fragte sich, ob sie dort auf ihrer Seite der Grenze das Lied auch kannten. Es gab auf der anderen Seite der Grenze viel, das er gerne gewusst hätte. Doch es bestand wenig Hoffnung darauf.
Der Krieg fand in allen Aktenschränken der Welt statt. Die Waffe war Information: Dinge, die man wusste; Dinge, die man über sie herausfand; Dinge, die sie über einen wussten. Man schickte Leute über die Grenze, oder man hatte sie schon vor vielen Jahren eingeschleust – und man sondierte. Nicht viele kamen durch. Ein paar vielleicht. So fügte man die kleinen Fetzen zusammen, die man herausgefunden hatte, in der Hoffnung, dass sie nicht allzu verstümmelt waren, und wenn man clever war, wusste man schließlich, was die Sowjets als nächstes tun würden.
Und sie spionierten ebenfalls. Auch von ihren Leuten kamen nicht viele durch – zumindest konnte man sich dessen ziemlich sicher sein – aber schließlich fanden sie doch heraus, was man selbst als nächstes tun würde. Und so unternahm keine Seite etwas. Man sondierte in beide Richtungen, und es wurde umso schwieriger, je tiefer man zu dringen versuchte. Auf geringe Entfernung gab es auf beiden Seiten der Grenze etwas Licht, weiter landeinwärts nur dunklen Nebel. Und so musste man darauf hoffen, dass das Gleichgewicht eines Tages zu den eigenen Gunsten umkippen würde.
Der Mann aus dem Außenministerium redete sich seine Ungeduld von der Seele. »Warum, zum Teufel, haben wir Martino überhaupt ein Labor gegeben, das so nah an der Grenze lag?«
»Keine Ahnung.« Rogers schüttelte den Kopf. »Ich befasse mich nicht mit Strategieplanungen.«
»Und warum konnten wir nach der Explosion nicht selbst ein Rettungsteam losschicken?«
»Haben wir. Das ihre war zuerst da. Sie haben schnell reagiert und ihn mitgenommen.« Und er fragte sich, ob das einfach nur Glück gewesen war.
»Warum konnten wir ihn der anderen Seite dann nicht wieder abnehmen?«
»Ich befasse mich nicht mit Taktiken dieser Ebene. Ich könnte mir jedoch vorstellen, dass es nicht leicht gewesen wäre, einen so schwer verletzten Mann aus einem Krankenhaus zu entführen.« Und er war amerikanischer Staatsbürger. Angenommen, er wäre gestorben? Die sowjetische Propaganda hätte die Amerikaner dann aufs Korn genommen, und bei der nächsten Haushaltsvorlage im Kongress der RAN hätten sie ihren Anteil am Budget dann nicht so leicht bekommen. Rogers räusperte sich. So wurde der Krieg jetzt geführt.
»Die ganze Situation ist doch lächerlich! Ein so wichtiger Mann wie Martino in ihren Händen, und wir sind hilflos. Das ist doch absurd!«
»Aber solche Zwischenfälle verhelfen Ihnen doch zu Ihrem Job, nicht wahr?«
Der Repräsentant des Außenministeriums wechselte das Thema. »Wie er es wohl aufnehmen wird? Wenn ich richtig verstanden habe, wurde er von der Explosion ziemlich übel zugerichtet.«
»Nun, er befindet sich jetzt auf dem Weg der Besserung.«
»Ich habe gehört, dass er einen Arm verloren hat. Aber ich kann mir vorstellen, dass sie sich darum gekümmert haben. Wissen Sie, mit Prothesen und so sind sie ziemlich gut. Mann, schon damals in den vierziger Jahren haben sie Hundeköpfe mit mechanischen Herzen und so was am Leben erhalten.«
»Hm.« Ein Mann verschwindet über die Grenze, dachte Rogers, und man schickt Leute aus, die nach ihm suchen sollen. Nach und nach rieseln die Berichte herein. Er ist tot, heißt es. Er hat einen Arm verloren, aber er lebt. Er liegt im Sterben. Wir wissen nicht, wo er ist. Er wurde nach Nowaja Moskwa geschafft. Ja, er ist hier, in dieser Stadt, in einem Krankenhaus. Zumindest haben sie irgendwen hier in einem Krankenhaus. Aber in welchem?
Das weiß niemand. Es wird auch niemand herausfinden. Was man herausgefunden hat, gibt man ans Außenministerium weiter, und die Verhandlungen beginnen. Unsere Seite schließt eine grenznahe Autobahn. Die andere Seite schießt beinahe ein Flugzeug ab. Unsere Seite beschlagnahmt ein paar Fischkutter. Und endlich gibt die andere Seite nach. Weniger, weil wir sie dazu gezwungen haben, sondern aus ganz eigenen Gründen.
Und die ganze Zeit über hat einer von uns in einem ihrer Krankenhäuser gelegen – verletzt und mit gebrochenen Gliedern – und darauf gewartet, dass wir etwas unternehmen.
»Den Gerüchten zufolge soll er der Fertigstellung eines gewissen K-88 ziemlich nahe gewesen sein«, fuhr der Mann vom Außenministerium fort. »Wir hatten Anweisung, keinen allzu großen Druck zu machen, weil man befürchtete, sie würden merken, wie wichtig er ist. Vorausgesetzt, dass sie das nicht schon längst wussten. Aber wir mussten ihn natürlich zurückbekommen, und so konnten wir auch nicht zu nachlässig vorgehen. Eine heikle Angelegenheit.«
»Kann ich mir vorstellen.«
»Glauben Sie, dass sie das K-88 aus ihm herausbekommen haben?«
»Auf der anderen Seite gibt es einen Mann namens Azarin. Er ist sehr gut.« Wie könnte ich das wohl wissen, bevor ich mit Martino gesprochen habe? Aber Azarin ist verdammt gut.
Er hätte gern mehr über Azarin gewusst. Er hätte gern mehr über die Sowjets gewusst. Alles, was er über den vor zehn Jahren stattgefundenen russisch-chinesischen »Zwischenfall« gehört hatte, deutete zum Beispiel darauf hin, dass es zu einem Krieg gekommen war, den die Russen verloren hatten. Aber wenn dem so war – warum war Neumoskau die Hauptstadt und nicht Neupeking? Warum bestand das Heer zur Hälfte aus Chinesen, die Regierung aber aus Weißen? Man hätte es herausfinden können, hätte es noch westliche Botschaften und Handelsniederlassungen hinter dem Eisernen Vorhang gegeben. Aber es gab keine mehr. Auf der anderen Seite gab es nur noch Undurchsichtigkeit.
Draußen vor dem Tor leuchteten zwei Scheinwerfer auf, wandten sich seitwärts und blieben stehen. Die Fondtür einer Tatra-Limousine schnappte auf, und gleichzeitig ging ein sowjetischer Wachposten zum Tor und fuhr das Gatter hoch. Der alliierte MP-Sergeant bellte seinen Männern ein »Stillgestanden!« zu.
Rogers und der Repräsentant des Außenministeriums stiegen aus dem Wagen.
Ein Mann trat aus dem Tatra und kam zum Tor. An der Grenzlinie zögerte er, schritt dann jedoch schnell zwischen den beiden Reihen der Militärpolizisten hindurch.
»Großer Gott!«, flüsterte der Mann vom Außenministerium.
Die Scheinwerferstrahlen funkelten in einem Bündel bläulicher Reflexe auf dem Mann am Tor. Er war hauptsächlich aus Metall.
2
Er trug einen formlosen, graugelben Zivilistenanzug, klobige Schuhe und ein blaugestreiftes Hemd. Die Ärmel waren zu kurz, und die Hände ragten weit hervor. Die eine bestand aus...
| Erscheint lt. Verlag | 11.7.2016 |
|---|---|
| Übersetzer | Uwe Anton |
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Who? |
| Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
| Schlagworte | Algis Budrys • Cyborg • diezukunft.de • eBooks • E-Only • Kalter Krieg |
| ISBN-13 | 9783641188436 / 9783641188436 |
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