Raymond Feist wurde 1945 in Los Angeles geboren und lebt in San Diego im Süden Kaliforniens. Viele Jahre lang hat er Rollenspiele und Computerspiele entwickelt. Aus dieser Tätigkeit entstand auch die fantastische Welt seiner Romane: Midkemia. Die in den 80er-Jahren begonnene Saga ist ein Klassiker des Fantasy-Genres, und Feist gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Fantasy in der Tradition Tolkiens.
Eins
Tragödie
Die Morgensonne schien.
Tautropfen brachten das Gras am Ufer zum Funkeln, und der Wind trug die Rufe der nistenden Shatra-Vögel heran. Lady Mara von den Acoma genoss die kühle Luft, die schon bald der mittäglichen Hitze weichen würde. Sie saß in ihrer Sänfte; neben ihr saß ihr Ehemann, und auf ihrem Schoß schlummerte ihr jüngerer Sohn, der zwei Jahre alte Justin. Sie schloss die Augen und seufzte voller Zufriedenheit.
Ihre Finger glitten in die Hand ihres Mannes. Hokanu lächelte. Er sah ohne jeden Zweifel sehr gut aus und war ein fähiger Krieger; auch die leichteren Zeiten hatten seine athletische Erscheinung nicht verweichlicht. Seine Hand schloss sich besitzergreifend um ihre, doch Sanftheit milderte die Kraft.
Die vergangenen drei Jahre waren gute Jahre gewesen. Zum ersten Mal seit ihrer Kindheit fühlte sie sich sicher, geschützt vor den tödlichen, niemals endenden politischen Intrigen des Spiels des Rates. Der Feind, der ihren Vater und ihren Bruder getötet hatte, konnte sie nicht länger bedrohen. Er war nur noch Staub und Erinnerung, genau wie seine Familie, die mit ihm gefallen war; das Land und das herrlich gelegene Herrenhaus seiner Ahnen hatte Mara vom Kaiser erhalten.
Einem alten Aberglauben nach überfiel Unglück das Land einer gefallenen Familie; an einem wunderbaren Morgen wie diesem war jedoch von Unheil weit und breit nichts zu spüren. Als sich die Sänfte langsam am Ufer entlang bewegte, genoss das Paar den friedlichen Augenblick und betrachtete das Heim, das es zusammen aufgebaut hatte.
Das Tal, das einst den Lords der Minwanabi gehört hatte, lag zwischen steilen, steinigen Hügeln und war dank dieser natürlichen Gegebenheiten nicht nur leicht zu verteidigen, sondern auch so schön, als hätten es die Götter selbst berührt. Der friedlichstille Himmel spiegelte sich im See, dessen Oberfläche sich kräuselte, als die schnellen Ruderer eines Botenskiffs Berichte für die Makler in die Heilige Stadt brachten. Dort würden von singenden Sklaven vorwärtsgestakte Kornbarken die Ernte dieses Jahres zur Aufbewahrung in ein Lager bringen, bis der Fluss im Frühjahr wieder mehr Wasser führen und damit den Weitertransport flussabwärts gestatten würde.
In der trockenen Herbstbrise wogte das goldene Gras hin und her, und die Morgensonne ließ die Wände des Herrenhauses wie Alabaster erstrahlen. Lujan und Xandia, die beiden Kommandeure, hielten eine Übung mit einer gemischten Truppe aus Kriegern der Shinzawai und der Acoma ab. Da Hokanu eines Tages den Titel seines Vaters erben würde, hatte seine Heirat mit Mara ihre beiden Häuser nicht miteinander verschmelzen lassen. Krieger im Grün der Acoma marschierten Seite an Seite neben solchen im Blau der Shinzawai, die Reihen hier und da unterbrochen von schwarzen Flecken, Divisionen der insektenähnlichen Choja. Zusammen mit den Ländereien der Minwanabi hatte Lady Mara eine Allianz mit zwei weiteren Schwärmen erhalten, und damit auch die Kampfstärke von drei Kompanien von Kriegern, die von ihren Königinnen nur für den Kampf ausgebrütet worden waren.
Ein Feind, der dumm genug wäre, einen Angriff zu riskieren, würde rasch vernichtet werden. Die Truppen ihrer loyalen Vasallen und Verbündeten hinzugerechnet, geboten Mara und Hokanu über eine Armee, die im Kaiserreich unübertroffen war. Nur die Truppen des Kaisers – die Kaiserlichen Weißen –, verstärkt um die Kontingente anderer Häuser unter seiner Oberherrschaft, konnten ihnen diesen Rang streitig machen. Doch als würden gut ausgebildete Truppen und eine nahezu uneinnehmbare Festung nicht schon allein den Frieden garantieren, hatte Mara für ihre Dienste gegenüber Tsuranuanni den Titel Gute Dienerin des Kaiserreiches erhalten, der mit einer ehrenhalber ausgesprochenen Adoption in die Familie des Kaisers verbunden war. Die Kaiserlichen Weißen würden zu ihrer Verteidigung aufmarschieren, denn nach dem Ehrenkodex der Tsurani war eine Beleidigung oder Bedrohung der Guten Dienerin gleichbedeutend mit einem Angriff auf die Familie des Lichts des Himmels selbst.
»Du siehst heute Morgen erfreulich selbstzufrieden aus, meine Liebe«, meinte Hokanu dicht an ihrem Ohr.
Mara beugte den Kopf an seiner Schulter etwas nach hinten und öffnete die Lippen zum Kuss. Wenn sie auch tief in ihrem Innern die wilde Leidenschaft vermisste, die sie mit dem rothaarigen Barbaren, Justins Vater, erlebt hatte, so hatte sie sich mit diesem Verlust abgefunden. Hokanu besaß einen verwandten Geist; er teilte ihre politische Kühnheit und ihre Neigung zu Neuerungen. Er hatte eine rasche Auffassungsgabe, war freundlich und ihr treu ergeben, und er besaß eine Toleranz gegenüber ihrem halsstarrigen Wesen, die nur wenige Männer in ihrer Kultur aufzubringen vermochten. Bei ihm war Mara gleichberechtigt. Die Heirat hatte eine tiefe und dauerhafte Zufriedenheit hervorgerufen, und obwohl sie ihre Interessen im Großen Spiel des Rates nicht vernachlässigte, spielte sie jetzt nicht mehr aus Furcht. Hokanus Kuss erwärmte den Augenblick wie Wein, bis ein hoher Ton die Stille zerriss.
Mara richtete sich aus Hokanus Umarmung auf; ihr Lächeln spiegelte sich in den dunklen Augen ihres Mannes. »Ayaki«, sagten sie gleichzeitig. Im nächsten Augenblick donnerten Hufschläge den Pfad am See entlang.
Hokanu legte seinen Arm fester um die Schultern seiner Frau, als die beiden sich etwas aus der Sänfte lehnten, um einen Blick auf die Eskapaden von Maras ältestem Sohn und Erben zu werfen.
Ein pechschwarzes Pferd brach durch die Lücke in den Bäumen, Mähne und Schweif flogen im Wind. Grüne Troddeln schmückten die Zügel, und ein perlenbesetzter Brustgurt hinderte den Sattel daran, nach hinten wegzurutschen. In den mit Lackarbeiten versehenen Steigbügeln stand ein Junge, der gerade erst zwölf geworden war und ebenso schwarze Haare hatte wie sein Reittier. Er wendete den Wallach mit den Zügeln und preschte auf Maras Sänfte zu, das Gesicht gerötet vom Rausch der Geschwindigkeit. Sein paillettenbesetzter Umhang flatterte wie ein Banner hinter ihm her.
»Er wird ein ziemlich kühner Reiter«, meinte Hokanu bewundernd. »Und das Geburtstagsgeschenk scheint ihm zu gefallen.«
Mara betrachtete Ayaki mit glühendem Gesicht, als er das Tier auf den Pfad lenkte. Der Junge war ihre ganze Freude, der Mensch, den sie am meisten liebte.
Der schwarze Wallach warf protestierend den Kopf zurück. Er war temperamentvoll und brannte darauf, seine Geschwindigkeit unter Beweis zu stellen. Mara, die sich mit den riesigen Tieren aus der barbarischen Welt immer noch nicht ganz angefreundet hatte, hielt besorgt den Atem an. Ayaki hatte das wilde Wesen seines Vaters geerbt, und in den Jahren seit er knapp dem Messer eines Attentäters entkommen war, ergriff ihn manchmal eine tiefe Unruhe. Beizeiten schien er den Tod geradezu zu verhöhnen, als könnte er sich dadurch, dass er der Gefahr trotzte, des Lebens in seinen Adern versichern.
Doch heute war kein solcher Augenblick, und der Wallach war sowohl wegen seines Gehorsams wie auch seiner Schnelligkeit ausgewählt worden. Er schnaubte und stieß eine Staubwolke vor sich auf, während er sich dem Zügel fügte und neben Maras Sänftenträgern hertrottete, die gegen ihr spontanes Bedürfnis ankämpften, sich von dem großen Tier zu entfernen.
Die Lady schaute auf, als der Junge und das Pferd in ihr Blickfeld gerieten. Ayaki würde breite Schultern bekommen, ganz der Erbe beider Großväter. Er hatte die typische schlanke Figur der Acoma geerbt, genauso wie den störrischen Mut seines Vaters. Obwohl Hokanu nicht sein leiblicher Vater war, verband die beiden Freundschaft und Respekt. Ayaki war ein Junge, auf den alle Eltern stolz sein konnten, und er offenbarte bereits jetzt jenen Verstand, den er benötigen würde, sobald er das Erwachsenenalter erreicht haben und als rechtmäßiger Lord der Acoma in das Spiel des Rates eintreten würde.
»Du junger Angeber«, neckte ihn Hokanu. »Unsere Träger besitzen möglicherweise als einzige im ganzen Kaiserreich das Privileg, Sandalen zu tragen, doch wenn du meinst, wir rasen jetzt mit dir zu den Weiden, muss ich dir eine entschiedene Absage erteilen.«
Ayaki lachte. Seine dunklen Augen hefteten sich auf seine Mutter; in ihnen spiegelte sich seine Begeisterung über den Augenblick. »Eigentlich wollte ich Lax’l fragen, ob ich unsere Geschwindigkeit mit einem seiner Krieger messen kann. Es wäre interessant zu wissen, ob seine Krieger eine Einheit der barbarischen Kavallerie überholen können.«
»Wenn wir einen Krieg hätten – was im Augenblick, den Göttern sei Dank, nicht der Fall ist«, sagte Hokanu mit einer Spur mehr Ernst in seiner Stimme. »Vergiss nicht deine Manieren und beleidige nicht Kommandeur Lax’ls Würde, wenn du fragst.«
Ayaki grinste breit. Er war mit den Cho-ja in seiner Umgebung aufgewachsen, und ihre seltsame Art flößte ihm ganz und gar keine Furcht ein. »Lax’l hat mir immer noch nicht vergeben, dass ich ihm eine Jomach-Frucht mit einem Stein gab.«
»Er hat dir vergeben«, unterbrach ihn Mara. »Doch seither ist er etwas vorsichtiger gegenüber deinen Tricks, was...
| Erscheint lt. Verlag | 20.6.2016 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Die Kelewan-Saga |
| Die Kelewan-Saga | DIE KELEWAN-SAGA |
| Übersetzer | Susanne Gerold |
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Mistress of the Empire |
| Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
| Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction | |
| Schlagworte | das lied von eis und feuer • eBooks • epische Schlachten • Fantasy • Gut und Böse • High Fantasy • Krondor • Midkemia • Schlangenkrieg • Serien |
| ISBN-10 | 3-641-19094-0 / 3641190940 |
| ISBN-13 | 978-3-641-19094-1 / 9783641190941 |
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