Professor Zamorra 1097 (eBook)
64 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-7325-3186-8 (ISBN)
Seine Hufe gruben sich in den weichen Erdboden und schleuderten Gras und Dreckklumpen in die klare Nachtluft.
Hufe? Warum Hufe? Er verstand es nicht. Doch die Gewissheit, dass hier etwas nicht stimmte, dass er keine Hufe, sondern menschliche Füße haben sollte, wurde von der Todesangst überlagert, die ihn antrieb. Sein großer Körper rannte automatisch. Er war sehr viel schneller als sonst, und doch fürchtete er, nicht schnell genug zu sein. Das laute Bellen der Meute hallte in seinen empfindlichen Ohren wider und schürte neue Panik. Er konnte sie riechen, ihren gierigen heißen Atem erahnen.
Sie würden ihn zerfleischen! Erneut grub er die Hufe in den Boden und rannte ...
Mwnt Church, Ceredigion
Wales
Für walisische Verhältnisse war es ein wunderschöner Tag. Die Sonne schien vom nur leicht bewölkten Himmel und sorgte für angenehme Temperaturen. Wie an jeder Küste herrschte auch hier recht starker Wind, doch das schien keinen der Ausflügler zu stören. Zahlreiche Badegäste tummelten sich auf dem kleinen Stück Sandstrand am Fuß der Klippe und im Wasser der Bucht. Der Strand galt als Geheimtipp, doch mittlerweile schien dieser idyllische Ort nicht mehr ganz so geheim zu sein. In ein paar Jahren würde es hier wahrscheinlich so überlaufen sein, dass von Erholung keine Rede mehr sein konnte.
Branwen Jones wandte den Blick von dem bunten Treiben am Strand ab und konzentrierte sich wieder auf den eigentlichen Grund für ihre Anwesenheit an diesem Ort. Die einfache weiße Kirche mit dem dunkelgrauen Schieferdach wirkte als einziges Bauwerk in dieser Landschaft ein wenig verloren. Lediglich eine verfallene niedrige Mauer, ein kleines Nebengebäude und ein paar alte Grabsteine leisteten ihr Gesellschaft. Die Kirche stammte aus dem vierzehnten Jahrhundert und hatte im Mittelalter ursprünglich Seeleuten als Andachtsstätte gedient, für die die Hauptkirche der Gemeinde zu weit entfernt gewesen war. Mittlerweile stand sie unter Denkmalschutz und stellte hauptsächliche eine Touristenattraktion dar.
Am heutigen Tag erfüllte das alte Bauwerk allerdings noch einen weiteren Zweck. Es stand ein paar Kunststudenten aus Aberystwyth Modell, die extra angereist waren, um die Kirche in natürlichen Lichtverhältnissen auf Papier zu bannen.
Branwen saß ein Stück abseits auf einer Anhöhe, von der aus sie einen perfekten Blick auf die Kirche hatte. Ihr Zeichenblock lag auf ihren Knien und wies bereits einige grobe Skizzen auf. Ganz in der Nähe der Kirche konnte sie ein paar ihrer Kommilitonen erkennen. Offenbar hatten sie sich dafür entschieden, zuerst die Detailzeichnungen und Innenansichten anzufertigen, die ebenfalls Teil der Aufgabe waren. Branwen betrachtete lieber erst das Gesamtbild und arbeitete sich dann nach und nach zu den Einzelheiten vor. Für sie war es so ähnlich, als würde sie einen Menschen kennenlernen. Zuerst verschaffte sie sich einen ersten Eindruck, dann lernte sie die Person immer besser kennen.
Die Kirche verfügte tatsächlich über eine gewisse Persönlichkeit, fand sie, daher war der Vergleich gar nicht so abwegig. Dieses Gebäude stand schon so lange hier und hatte vieles überdauert. Es hatte dem rauen Wetter hier an der Küste getrotzt und den Menschen jahrhundertelang Zuflucht geboten. So unscheinbar diese Kirche auch wirken mochte, Branwen gefiel sie besser als jede andere.
Eine Wolke schob sich vor die Sonne und veränderte das Licht. Das strahlende Weiß der Kirche wurde zu einem kühlen Grau. Nachdenklich setzte Branwen den Bleistift wieder an. Sie experimentierte mit verschiedenen Schattierungen herum, bis sie eine Möglichkeit gefunden hatte, die neuen Lichtverhältnisse so darzustellen, dass sie mit dem Ergebnis zufrieden war.
Dann sah sie ihren Dozenten aus der Kirche kommen. Er blieb stehen und sprach mit ihrer Freundin Jenny, die einen der alten Grabsteine zu zeichnen schien. Branwen warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass sie in einer halben Stunde bereits zurück nach Aberystwyth fahren würden. Schnell blätterte sie durch ihren Zeichenblock. Die Skizzen waren zahlreich, aber waren sie auch gut? Natürlich ging es bei diesem Ausflug in erster Linie darum, ein Gefühl für das zu zeichnende Objekt in seiner Umgebung zu gewinnen. Aber letztendlich war das hier eine Unterrichtsaufgabe, deren Ergebnisse benotet werden würden.
Branwen kämpfte gegen die aufsteigende Unsicherheit an. Sie zeichnete gern und wusste, dass sie Talent hatte. Kunst lag ihr und interessierte sie. Aber seit Beginn ihres Studiums nagten immer wieder Selbstzweifel an ihr. War sie extrovertiert genug, um eine wirklich gute und ausdrucksstarke Künstlerin zu sein? Sie wollte nicht einfach nur in belangloser Mittelmäßigkeit vor sich hin dümpeln. Sie wollte Dinge erschaffen, die die Menschen bewegten und ihnen in Erinnerung blieben.
In letzter Zeit fragte sie sich immer wieder, ob ihre wahren Talente tatsächlich in der Kunst lagen. Kunst war ihr wichtig, aber vor den neuen Erkenntnissen, die Branwen in vergangenen Monaten gewonnen hatte, schien sie ein wenig an Bedeutung zu verlieren. Die Welt war sehr viel komplizierter, seit sie wusste, was hinter der Fassade steckte. Es fühlte sich an, als wäre sie früher blind gewesen, und dann waren ihr plötzlich die Augen geöffnet worden. Und um sie herum war diese erschreckende, wundervolle Welt voller unmöglicher Dinge, die sie vollkommen überwältigt hatte.
Magie existierte, das wusste Branwen nun schon seit einer ganzen Weile. Sie befand sich überall um sie herum, aber auch in ihr selbst. Sie war ein Souvenir einer unerfreulichen Begegnung mit einer bösartigen Dämonin namens Stygia. Doch dieses Höllenwesen hatte ihr Talent nur geweckt. Dagewesen war es schon immer.
Der Gedanke an sich war längst nicht mehr so einschüchternd wie am Anfang. Doch nun musste sich Branwen mit der Frage auseinandersetzen, was das für sie bedeutete und was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. Ignorieren konnte sie ihre Fähigkeiten nicht. Nicht, wenn sie damit etwas Gutes bewirken und den Menschen helfen konnte. Doch sie konnte auch nicht offen darüber sprechen. Ihr Lehrer und Mentor, der Silbermonddruide Gryf, war einer der wenigen, der ihr in diesem Punkt Halt gab. Er bildete sie aus, damit sie irgendwann in der Lage sein würde, ihre Kräfte zum Wohl der Menschheit einzusetzen. Auch wenn die Menschheit so gut wie nichts davon erfahren würde.
Seufzend zog die die Spitze ihres Bleistifts über das Papier, um der Skizze noch ein paar letzte Details hinzuzufügen. Sie würde sich auf den Weg zur Kirche machen müssen, wenn sie vor der Abreise noch ein paar Innenansichten des Gebäudes skizzieren wollte.
Doch bevor sie aufstehen und ihre Sachen zusammenpacken konnte, wurde ihr schlagartig übel. Sie schnappte nach Luft und schloss die Augen, um das Gefühl zu vertreiben. Als sie die Augen wieder öffnete, war die Welt nicht mehr dieselbe. Das hieß, eigentlich war sie es schon, aber irgendetwas hatte sich verändert. Dichte Wolken verdunkelten nun den Himmel und der Wind war stärker geworden. Heftige Böen zerrten an den Blättern von Branwens Zeichenblock. Sie steckte ihn schnell in ihre Tasche und hielt diese dann schützend fest, um ihre Arbeit nicht zu verlieren.
Und dann war die Kirche plötzlich weg. Wie ein Nachbild flackerte die Landschaft vor Branwens Augen, und das alte Bauwerk verschwand.
Nein, erkannte sie, es verschwand nicht, sondern wurde irgendwie von einem anderen Anblick überlagert. Dort, wo eigentlich nur eine hügelige Graslandschaft sein sollte, erhob sich plötzlich ein dichter Wald. Dunkle Bäume erstreckten sich über die Klippen und rauschten bedrohlich im Wind.
Branwen stand auf und starrte auf das seltsame Trugbild, das keins war. Der Wald war echt, aber er gehörte nicht hierher. Das war ihr sofort klar. Hatten die anderen Personen etwas bemerkt? Mit hektischen Blicken suchte sie die Gegend nach ihren Kommilitonen und ihrem Dozenten ab. Doch bevor sie jemanden entdecken konnte, drang lautes Bellen an ihre Ohren. Es klang wie eine gewaltige Hundemeute, die durch den Wald preschte. Sekunden später ertönte ein lang gezogener dröhnender Ton. Branwen wirbelte erschrocken herum. Was war das? Es klang wie eine Art Signal, fast wie ein altmodisches Jagdhorn.
Die panischen Schreie aus Richtung der Bucht verdrängten sämtliche Überlegungen aus Branwens Kopf. Sofort eilte sie an den Rand der Klippe und schaute auf den Strand hinunter. Was sie dort sah, ließ sie erstarren.
Die Badegäste, die eben noch auf dem Sand gelegen oder im flachen Wasser der Bucht geplanscht hatten, liefen panisch durcheinander. Überall lagen umgekippte Sonnenschirme und Strandspielsachen herum. Der Sand war von den vielen Füßen aufgewühlt, und zahlreiche Leute waren auf dem ungewohnten Untergrund gestürzt und versuchten nun, sich wieder aufzurappeln. Kleine Kinder riefen ängstlich nach ihren Eltern oder standen einfach nur weinend und desorientiert zwischen den fliehenden Erwachsenen.
Obwohl erst Sekunden vergangen waren, hatte Branwen das Gefühl, diesen Anblick schon quälend lange ertragen zu müssen. Instinktiv hielt sie nach einer Ursache für diese Massenpanik Ausschau. Diese Menschen waren nicht ohne Grund auf der Flucht. Aber was war der Auslöser? Wovor liefen sie weg?
Zuerst konnte Branwen nichts entdecken, was irgendwie auf Gefahr hindeutete. Doch dann bemerkte sie einen alten Mann, der angestrengt über den Strand humpelte. Neben ihm flimmerte plötzlich die Luft und drei verschwommene Schemen schienen an ihm vorbeizuhuschen. Der Mann geriet ins Straucheln und stürzte. Die Schemen sausten unterdessen weiter und suchten sich ein neues Opfer.
Branwen konnte nicht erkennen, um was für Wesen es sich handelte. Sie wirkten wie Geister und schienen nicht wirklich Substanz zu haben. Doch das machte sie nicht weniger gefährlich. Wann immer sie jemanden attackierten, flackerten kurz weiße und rote Schlieren auf. Ihre Gestalt wirkte stromlinienförmig und elegant. Mehr konnte Branwen nicht erkennen.
Konnten die Leute dort unten diese Wesen sehen? Sie liefen eindeutig vor etwas davon, aber war ihnen klar, was sie verfolgte? Branwen wollte etwas unternehmen und den Menschen helfen. Aber sie hatte keine Ahnung, wie sie das von hier oben anstellen sollte, und der Weg nach unten zum Strand...
| Erscheint lt. Verlag | 14.6.2016 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Professor Zamorra |
| Verlagsort | Köln |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Horror |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | blutig • Clown • Gruselroman • Horror • Horror Bücher ab 18 • horror thriller • Jason Dark • Lovecraft • Paranomal • Sinclair • Slasher • Splatter • Stephen King • Steven King • Zombies |
| ISBN-10 | 3-7325-3186-4 / 3732531864 |
| ISBN-13 | 978-3-7325-3186-8 / 9783732531868 |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
| Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Digital Rights Management: ohne DRM
Dieses eBook enthält kein DRM oder Kopierschutz. Eine Weitergabe an Dritte ist jedoch rechtlich nicht zulässig, weil Sie beim Kauf nur die Rechte an der persönlichen Nutzung erwerben.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich