Die Delfininsel (eBook)
189 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-12685-8 (ISBN)
In der Zukunft beherrschen riesige Hoverschiffe nicht nur die Meere, sondern auch die Highways der Welt. Auf Luftkissen befördern sie rasend schnell Passagiere und Fracht. Eines Nachts hält eines davon direkt neben Johnnys Haus an, offenbar mit einem Motorschaden. Der neugierige Junge lässt sich die Gelegenheit nicht entgehen, sich einen dieser Giganten aus der Nähe anzusehen – und wird prompt zum blinden Passagier. Als das Hoverschiff auf hoher See erneut Schiffbruch erleidet, flieht die Mannschaft in den Rettungsbooten und lässt Johnny zurück. Doch er hat Glück: Eine Schule Delfine rettet ihn und bringt ihn zu einem unglaublichen Ort: der Delfininsel …
Arthur C. Clarke zählt neben Isaac Asimov und Robert A. Heinlein zu den größten SF-Autoren des 20. Jahrhunderts. Geboren 1917 in Minehead, Somerset, entdeckte er die Science-Fiction durch die Bücher von H. G. Wells und Olaf Stapledon. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem er als technischer Offizier der Royal Air Force diente, studierte er Physik und Mathematik am King’s College in London. Gleichzeitig betätigte er sich als Autor: 1946 erschien seine erste Story im SF-Magazin Astounding, sein erster Roman zwei Jahre später. In den folgenden Jahrzehnten veröffentlichte er nicht nur weitere preisgekrönte Erzählungen und Romane, sondern auch etliche populärwissenschaftliche Artikel und Bücher, in denen er viele technische Entwicklungen vorwegnahm. Clarke starb im März 2008 in seiner Wahlheimat Sri Lanka.
2
Je näher Johnny kam, desto riesiger erschien ihm das Hoverschiff. Dabei gehörte es keineswegs zu den Giganten, wie die Hunderttausendtonner, die Öl oder Getreide befördernd, manchmal durch das Tal heulten. Wahrscheinlich erreichte es nur fünfzehn- oder zwanzigtausend Tonnen. Am Bug stand der Name »Santa Anna, Brasilia«. Die Schrift war schon ein wenig verblasst. Selbst im Mondlicht hatte Johnny deutlich den Eindruck, dass das ganze Schiff einen neuen Anstrich und eine gründliche Überholung gut gebrauchen konnte. Wenn die Maschinen im gleichen Zustand waren wie der schäbige, geflickte Rumpf, ließ sich der unplanmäßige Aufenthalt leicht erklären.
Während Johnny das gestrandete Monstrum umkreiste, konnte er nirgends auch nur das geringste Lebenszeichen entdecken. Aber das überraschte ihn nicht. Frachter wurden weitgehend automatisch betrieben, und ein Schiff dieser Größe hatte vermutlich weniger als ein Dutzend Männer an Bord. Wenn Johnnys Vermutung richtig war, hockten sie jetzt wahrscheinlich alle im Maschinenraum und versuchten, einen Fehler zu entdecken.
Jetzt, da sie nicht mehr von ihren Düsen angehoben wurde, ruhte die »Santa Anna« auf den großen, flachen Kissen, die ihre Schwimmfähigkeit im Meer sicherten. Sie liefen unter dem ganzen Rumpf entlang und türmten sich über Johnny auf wie riesige, überhängende Wände. An mehreren Stellen war es möglich, sie zu ersteigen; es waren Stufen und Griffe in dem Rumpf eingearbeitet. Sie führten zu Einstiegsluken, die sechs bis sieben Meter über dem Boden lagen.
Johnny betrachtete diese Öffnungen sehr nachdenklich. Selbstverständlich waren sie verriegelt. Zumindest war das recht wahrscheinlich.
Aber was würde geschehen, wenn es ihm doch gelänge, an Bord zu kommen? Mit ein bisschen Glück konnte er sich alles gründlich ansehen, ehe die Besatzung ihn erwischte und wieder an die frische Winterluft setzte. Es war die Chance seines Lebens, und er würde es sich nie verzeihen, wenn er sie nicht nutzte.
Er zögerte nicht länger, sondern ging daran, die nächstgelegene Leiter hinaufzusteigen. Ungefähr vier Meter überm Boden dachte er noch einmal nach und zögerte ein Weilchen.
Zu spät. Die Entscheidung war bereits gefallen. Ohne jede Vorwarnung begann die große Wand, an der er lehnte, leise zu vibrieren. Ein brüllendes Aufheulen wie von tausend Stürmen zerriss die friedliche Nachtstille. Johnny blickte abwärts und sah, dass Erde, Steine, Grasbüschel unter dem Rumpf hervorgewirbelt wurden, während die »Santa Anna« sich langsam und mühselig hob. Er musste versuchen, an Bord zu gelangen, ehe das Hoverschiff in Fahrt kam. Was werden sollte, falls die Luke verschlossen war, wagte er sich nicht auszumalen.
Er hatte Glück. Ein in die Tür eingelassener Griff gestattete ihm, die Tür nach innen zu öffnen. Er sah einen schwach erhellten Gang vor sich. Sekunden später war Johnny im Innern der »Santa Anna« in Sicherheit und atmete erleichtert auf. Als er die Tür schloss, wurde das Düsengeheul zu gedämpftem Donner – und im selben Augenblick spürte Johnny, dass sich das Schiff in Bewegung setzte. Er war unterwegs zu einem unbekannten Ziel.
In den ersten Minuten hatte er Angst. Dann wurde ihm klar, dass kein Grund zur Sorge bestand. Er brauchte nur den Weg zur Kommandobrücke zu suchen, dort zu erklären, was sich zugetragen hatte, und man würde ihn beim nächsten Halt wieder von Bord lassen. Die Polizei würde ihn dann innerhalb weniger Stunden nach Hause schaffen.
Nach Hause! Aber er hatte kein Zuhause, keinen Ort, wo er wirklich hingehörte. Vor zwölf Jahren, als Johnny erst vier Jahre alt gewesen war, hatten seine Eltern bei einem Luftunfall den Tod gefunden. Seitdem hatte er bei einer Schwester seiner Mutter gelebt. Tante Martha hatte ihre eigene Familie und war über den Zuwachs nicht sehr erbaut gewesen. Solange der füllige, stets vergnügte Onkel James noch gelebt hatte, war es trotzdem gar nicht so schlecht gewesen, doch seit dem Tod hatte Johnny von Tag zu Tag deutlicher gespürt, dass er in diesem Haus ein Fremder war.
Warum sollte er also dorthin zurück, solange er nicht dazu gezwungen wurde? Hier bot sich eine Chance, wie sie nie wiederkommen würde, und je länger Johnny darüber nachdachte, desto mehr schien es ihm, dass sich das Schicksal seiner angenommen hatte. Die Gelegenheit lockte, und Johnny wollte sich von ihr führen lassen, wohin der Weg auch gehen mochte.
Zunächst kam es darauf an, ein geeignetes Versteck zu finden. Das konnte in einem so großen Fahrzeug nicht allzu schwierig sein, doch unglücklicherweise hatte Johnny keinerlei Vorstellung, wie diese »Santa Anna« gebaut war. Wenn er nicht aufpasste, konnte er unversehens auf ein Mitglied der Besatzung stoßen. Vielleicht war es am besten, erst einmal nach dem Frachtraum zu suchen, denn während der Fahrt würde dort wahrscheinlich kaum jemand hinkommen.
Mit einem Gefühl wie ein Einbrecher begann Johnny seine Forschungsreise, und bald schon hatte er sich gründlich verlaufen. Es kam ihm vor, als sei er meilenweit durch kärglich beleuchtete Gänge gewandert. Er war Wendeltreppen hinauf- und Leitern hinuntergestiegen, war an Luken und Türen vorübergekommen, die geheimnisvolle Aufschriften trugen. Einmal wagte er, eine dieser Türen zu öffnen, weil die Aufschrift »Maschinenzentrale« allzu verlockend gewesen war. Ganz vorsichtig hatte er die schwere Metalltür aufgedrückt und in einen großen Raum gesehen, der fast gänzlich von Turbinen und Kompressoren ausgefüllt war. Große, mehr als mannsdicke Luftrohre führten von der Decke zum Fußboden, und der Lärm von hundert Wirbelstürmen schrillte in Johnnys Ohren. Die Wand an der gegenüberliegenden Seite war mit Instrumenten übersät, und drei Männer beobachteten die Instrumente mit so gespannter Aufmerksamkeit, dass Johnny sich bei seinem Spionieren völlig sicher fühlte. Außerdem waren diese Männer fast zwanzig Meter von ihm entfernt. Sie würden wohl kaum eine Tür bemerken, die um ein paar Zentimeter geöffnet worden war.
Allem Anschein nach hielten die Männer eine Konferenz ab. Sie verständigten sich vor allem durch Zeichen, denn es war unmöglich, in diesem Lärm Worte zu verstehen. Johnny merkte bald, dass es sich eher um einen Streit als um eine Beratung handelte, denn die Bewegungen waren heftig und unwillig. Endlich warf einer der Männer die Arme in die Höhe, als wollte er sagen: »Ich wasche meine Hände in Unschuld!«
Dann verließ er den Maschinenraum. Offenbar war die »Santa Anna« kein besonders glückliches Schiff, dachte Johnny.
Einige Minuten später fand er sein Versteck. Es war ein kleiner Vorratsraum, ungefähr fünf Meter im Quadrat und vollgestopft mit Fracht und Gepäckstücken. Als Johnny feststellte, dass alle an eine australische Adresse gerichtet waren, wusste er, dass er sich hier sicher fühlen konnte, bis er weit, weit von daheim entfernt sein würde. Kein Mensch hatte Grund, hierherzukommen, ehe das Schiff den Pazifischen Ozean überquert und die andere Hälfte der Welt erreicht hatte.
Johnny kramte sich einen kleinen Raum zwischen Paketen und Kisten frei, setzte sich mit einem zufriedenen Seufzer und lehnte den Rücken an eine große Kiste mit der Aufschrift »Bundaberg Chemische Werke«. Allmählich überkam ihn die Müdigkeit, und er schlief auf dem harten Metallfußboden ein.
Als er erwachte, bewegte das Schiff sich nicht mehr. Kein Geräusch und keinerlei Vibrieren des Metallrumpfes war festzustellen. Ein Blick auf die Armbanduhr sagte Johnny, dass er seit fünf Stunden an Bord war. In dieser Zeit konnte die »Santa Anna« – falls sie keine unvorhergesehenen Pausen eingelegt hatte – leicht über tausend Kilometer zurückgelegt haben. Wahrscheinlich hatte sie jetzt einen der großen Binnenhäfen an der pazifischen Küste erreicht und würde aufs Meer hinausfahren, sobald sie neue Fracht an Bord genommen hatte.
Erwischte man ihn jetzt, so dachte Johnny, wäre sein Abenteuer sehr schnell zu Ende. Er musste bleiben, wo er war, bis das Schiff sich wieder bewegte und weit draußen auf dem Meer war. Ganz bestimmt kehrte es dann nicht um, nur um einen sechzehnjährigen blinden Passagier an Land zu bringen.
Aber er hatte Hunger und Durst. Früher oder später musste er sich etwas zu trinken und zu essen beschaffen. Die »Santa Anna« konnte möglicherweise tagelang hier liegen, und in diesem Falle musste Johnny sein Versteck unter allen Umständen verlassen …
Er beschloss, nicht ans Essen zu denken, doch das erwies sich als schwierig, denn es war gerade seine Frühstückszeit. Große Abenteurer und Entdecker, so sagte sich Johnny, hatten weit größere Mängel und Entbehrungen auf sich genommen.
Zum Glück blieb die »Santa Anna« nur eine Stunde in dem unbekannten Hafen. Dann spürte Johnny zu seiner Erleichterung, dass der Boden unter ihm zu beben begann. Gedämpft drang das schrille Geheul der Düsen zu ihm. Deutlich war auch die Aufwärtsbewegung zu spüren, als sich das Schiff hob, dann ein leichter Ruck, als es sich in Bewegung setzte. In zwei Stunden – so dachte Johnny – würde das Schiff weit draußen auf dem Meer sein, wenn seine Überlegungen stimmten und das Hoverschiff tatsächlich den letzten Landaufenthalt hinter sich hatte.
Er wartete zwei Stunden, so geduldig es ging – dann glaubte er, dass er sich nun ruhig der Besatzung stellen könne. Ein wenig nervös brach er auf, um die Männer und – hoffentlich – etwas zu essen zu finden.
Doch es war nicht so einfach, wie er angenommen hatte, sich zu ergeben. War die »Santa Anna« von außen schon groß erschienen, so wirkte sie von innen geradezu riesig. Johnny wurde immer hungriger und hatte noch keinerlei Lebenszeichen entdeckt.
Immerhin fand...
| Erscheint lt. Verlag | 31.5.2016 |
|---|---|
| Übersetzer | Hans-Georg Noack |
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Dolphin Island |
| Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
| Schlagworte | Delfine • diezukunft.de • eBooks • E-Only • Meeresbiologie |
| ISBN-10 | 3-641-12685-1 / 3641126851 |
| ISBN-13 | 978-3-641-12685-8 / 9783641126858 |
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