John Sinclair 1976 (eBook)
64 Seiten
Bastei Lübbe (Verlag)
9783732529285 (ISBN)
Plötzlich war das Feuer da! Wie aus dem Nichts schossen die Flammen aus dem Kornfeld in die Höhe. Eduard Müller schrie auf, geriet ins Straucheln und fiel hin. Die Hitze, die die Flammen ausstrahlten, war unerträglich. Fast hatte er das Gefühl, als wären die Feuerzungen bereits auf seine Haut übergesprungen.
Unwillkürlich zuckte er zusammen. Er hatte nicht gesehen, wo die Gestalt hergekommen war, aber plötzlich stand sie vor ihm. Ein dunkles, schattenhaftes Wesen mit langen, wehenden Haaren und einem weiten Kleid baute sich nur wenige Meter vor ihm auf.
Die Schattenfrau war gekommen! Und sie war nicht allein ...
Als Leiter eines Ingenieursbüros in Hannover verbrachte Eduard Müller meist fünf Tage die Woche in einem kleinen Apartment im Zentrum der Landeshauptstadt. An den Wochenenden jedoch kehrte er in das Haus seiner Eltern in der kleinen Gemeinde Rodewald zurück. Aber dieser Zustand würde nicht mehr lange so anhalten.
Mit seinen sechsundfünfzig Jahren erkannte er langsam, dass es mehr im Leben gab als nur die berufliche Karriere. Er hatte genug verdient, um bereits jetzt in den Ruhestand zu gehen, und genau das hatte er auch vor.
An den Feldern um Rodewald hatte sich in all den Jahren nichts geändert. Schon als Kind hatte Eduard oft mit seinen Freunden in ihnen gespielt. Diese Zeiten waren längst vorbei, aber wenn er so die Gerüche der Felder in sich aufnahm, dann hatte er das Gefühl, noch einmal eine Zeitreise in seine Kindheit zu unternehmen.
Lächelnd öffnete Eduard die Augen wieder und setzte seinen Weg fort. Seine kurze Lederjacke hatte er über die Schulter gelegt und die Ärmel seines Hemds hochgekrempelt.
Außer ihm war niemand auf dem Feldweg unterwegs, auch kein Bauer. Ein wenig wunderte er sich darüber, wie hoch der Roggen in diesem Jahr gewachsen war. Normalerweise reichte er ihm allenfalls bis zu den Schultern, diesmal jedoch ragte er sogar wenige Zentimeter über seinen Kopf hinweg. Vielleicht handelte es sich einfach nur um diesen fast zwei Meter hoch wachsenden Bio-Roggen, von dem er schon einmal etwas gelesen hatte.
Seit einem Skiunfall vor drei Jahren humpelte Eduard leicht. Schmerzen hatte er keine mehr, aber schnell laufen konnte er nicht mehr. Die Verletzung hielt ihn jedoch nicht von seinen Wanderausflügen ab.
Tief sog er die Luft ein. Doch diesmal war es nicht nur der Geruch nach Getreide, der in seine Nase drang. Noch konnte er den Duft nicht richtig einordnen, unbekannt war er ihm jedoch auch nicht.
Es roch nach Verbranntem!
Wie ein Blitz schoss ihm der Gedanke durch den Kopf. Plötzlich war seine gute Laune verflogen. Nervös blickte er sich um, doch keine Rauchsäule stieg von den Feldern um ihn herum auf. Trotzdem verstärkte sich der Brandgeruch noch einmal. Wenn in den Roggenfeldern wirklich ein Feuer loderte, konnte es für ihn lebensgefährlich werden.
Sofort beschleunigte er seine Schritte. Er merkte jedoch schnell, dass er nicht so gut vorankam, wie er eigentlich wollte. Auch wenn er es versuchte, er konnte nicht feststellen, aus welcher Richtung der Gestank kam.
Als sich direkt vor ihm die Ähren wie von Geisterhand bewegten, bildete sich auf seinem gesamten Körper eine Gänsehaut. Kein Wind wehte, und doch wurden die starken Halme zur Seite gedrückt. Lauerte dort jemand im Feld?
Eduard Müller trat einige Schritte zurück. Plötzlich waren die dicht stehenden Kornhalme für ihn zu einem düsteren Dschungel geworden, in dem finstere Gestalten lauerten und nur auf einen günstigen Moment warteten, um ihn anzugreifen.
Doch nichts geschah. Plötzlich schoss ihm etwas durch den Kopf, an das er schon seit seiner Kindheit nicht mehr gedacht hatte: die Legende von der Roggenmuhme. Angeblich sollte in den Feldern ein weiblicher, dämonischer Geist hausen, der unartige Kinder fing, mit sich nahm und nie wieder freiließ. Zumindest hatte ihm das seine Großmutter erzählt.
Natürlich war das nur eine von vielen Geschichten gewesen, um seine Freunde und ihn zu ängstigen und dazu anzuhalten, brav zu sein. Aber was, wenn doch ein Körnchen Wahrheit in dieser Legende steckte?
Fast hätte Eduard gelacht, als er daran dachte. Er wusste selbst nicht, was ihn auf diese Idee gebracht hatte. Die Roggenmuhme war nur eine Sagengestalt, mehr nicht. Was er hier erlebte, konnte auch einen ganz anderen Hintergrund haben. Zumal in dieser Geistergeschichte niemals Rauch oder Feuer eine Rolle gespielt hatten.
Schwer atmend setzte er seinen Weg fort. Doch jedes Mal, wenn er einen Schritt weiter ging, bewegte sich auch das Getreide mit ihm. Was auch immer da geschah, ihm fiel keine logische Erklärung dafür ein.
Sein Herz pochte immer schneller. Bis zu seinem Haus waren es fast zwei Kilometer. Selbst wenn er dazu in der Lage gewesen wäre, seine Schritte zu beschleunigen, hätte er für den Weg noch viel zu viel Zeit gebraucht.
Plötzlich war das Feuer da! Wie aus dem Nichts schossen die Flammen aus dem Kornfeld in die Höhe. Überrascht schrie Eduard Müller auf, geriet ins Straucheln und fiel zu Boden. Die Hitze, die die Flammen ausstrahlten, war unerträglich. Fast hatte er das Gefühl, als wären die Feuerzungen bereits auf seine Haut übergesprungen.
Nur mit großer Mühe gelang es ihm, wieder auf die Beine zu kommen. Dunkle Rauchwolken quollen ihm entgegen. Nicht nur das eine Feld stand in Flammen, sondern auch das auf der anderen Seite des Weges. Selbst über das Gras vor seinen Füßen züngelte Feuer.
Eduard hustete. Langsam bekam er keine Luft mehr. Trotzdem wollte er weiterlaufen, auch wenn er gar nicht mehr wusste, wohin er noch fliehen konnte. Die Flammen hatten ihn längst eingeschlossen. Durch den rötlich-gelben Feuervorhang schien es keinen Ausweg mehr zu geben.
Unwillkürlich zuckte er zusammen. Er hatte nicht gesehen, wo die Gestalt hergekommen war, aber plötzlich stand sie vor ihm. Ein dunkles, schattenhaftes Wesen mit langen, wehenden Haaren und einem weiten Kleid baute sich nur wenige Meter vor ihm auf.
Die Roggenmuhme war gekommen! Wieder schoss ihm dieser Name durch den Kopf. Er kam einfach nicht von diesem Gedanken weg. Die Fremde sah genauso aus, wie man ihm diese Sagengestalt immer beschrieben hatte.
Doch die Schattenfrau war nicht allein. Etwas wühlte sich durch die brennenden Ähren und trat an ihre Seite. Zuerst dachte Eduard an einen Hund, und das stimmte auch irgendwie. Allerdings handelte es sich bei dem Tier eher um eine monströse Abart mit rasiermesserscharfen Fangzähnen und rötlichen Augen, in denen das Feuer der Hölle zu lodern schien.
»Bitte, ich …«, begann Eduard.
Doch es war bereits zu spät! Wie auf einen geheimen Befehl hin schossen alle Feuerzungen um ihn herum gleichzeitig auf ihn zu. Als er spürte, dass er lichterloh in Flammen stand, schrie er noch einmal all seinen Schmerz heraus. Dann brach er zusammen und blieb regungslos auf dem Feldweg liegen. Langsam schrumpfte seine verbrannte Leiche zusammen, bis das, was von ihm übrig war, kaum noch an einen Menschen erinnerte.
So plötzlich, wie das Feuer gekommen war, verschwand es auch schon wieder. Bereits nach wenigen Minuten war von der Schattenfrau, dem Hund und den Flammen nichts mehr zu sehen. Friedlich und unversehrt bewegten sich die Ährenhalme im Wind. Nur die verbrannte Leiche erinnerte daran, dass an dieser Stelle ein schrecklicher Mord geschehen war.
***
»Kommst du jetzt endlich?«, fragte Nadine und grinste. »Oder hast du etwa Angst?«
»Nein!«, konterte Simon energisch.
»Scheint mir aber so.«
»Ist mir egal, wie dir das scheint. Ich komme mit.«
Es war Simon Haller alles andere als egal, was das Mädchen mit den langen, rotbraunen Haaren von ihm dachte. Aber er musste Nadine Engel seine wahren Gefühle für sie ja nicht unbedingt auf die Nase binden.
Hastig band der Vierzehnjährige seine Schuhe zu und lief Nadine hinterher, die bereits bis zu den Kornfeldern vorgelaufen war. Als er sie beobachtete, wie sie mit wehenden Haaren an der alten Eiche vorbeirannte, pochte sein Herz gleich doppelt so schnell.
Er versuchte vergeblich, die immer mehr in ihm aufkeimende Nervosität zu unterdrücken. Wegen des eigentlichen Grundes ihres Ausflugs machte er sich eigentlich kaum Gedanken.
Alex Hartmann und sein Bruder Nick hatten mal wieder eine gewaltige Entdeckung gemacht, wie sie es Nadine und Simon in einer SMS mitgeteilt hatten. Die beiden suchten stets nach dem großen Abenteuer, was aber meist eher nüchtern endete. Vor zwei Jahren hatten sie einmal behauptet, eine Leiche gefunden zu haben. Allerdings hatte sich diese bei näherer Betrachtung als ausrangierte Schaufensterpuppe herausgestellt.
An ihrer Freundschaft hatte dieses peinliche Erlebnis jedoch nichts geändert. Seit ihrer Kindheit hielten Alex, Nick, Nadine und er wie Pech und Schwefel zusammen.
Seine Jacke hatte Simon Haller auf der Terrasse zurückgelassen. Seine Eltern wohnten am Rande von Rodewald. Von seinem Zimmer hatte er einen wundervollen Ausblick auf die Umgebung.
Manchmal fragte er sich, ob Nadine etwas von seinen Gefühlen für sie ahnte. Nicht, dass er nicht schon längst versucht hatte, sie ihr zu verdeutlichen. Dass ihr Vater der Bürgermeister der Stadt und ihr älterer Bruder der gefürchtetste Schläger der Schule waren, machte ihm da weniger Sorgen. Er war einfach nicht in der Lage, über seinen eigenen Schatten zu springen.
Er versuchte, die Gedanken daran wieder abzuschütteln und sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Diesmal hatten Alex und Nick behauptet, inmitten der Felder ein verbranntes Haus entdeckt zu haben. Dabei wusste Simon eigentlich genau, dass das gar nicht möglich war. Er kannte das Getreidemeer um den Ort herum wie seine Westentasche. Wenn es da irgendwo ein einsames Haus geben würde, wüsste er das.
Dort, wo Alex und Nick die Ruine entdeckt haben wollten, war nichts als ein großes Roggenfeld. Aber er wollte den beiden nicht den Spaß verderben – und vor allem gegenüber Nadine nicht als Feigling dastehen.
Als er seine Freundin endlich eingeholt hatte, klingelte sein Smartphone. Nick Hartmann rief an.
»Was gibt’s?«, fragte Simon, nachdem er das Gespräch angekommen hatte.
Nick lachte. »Das wollte ich...
| Erscheint lt. Verlag | 24.5.2016 |
|---|---|
| Reihe/Serie | John Sinclair | John Sinclair |
| Verlagsort | Köln |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Horror |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | blutig • Clown • Gruselroman • Horror • Horror Bücher ab 18 • horror thriller • Jason Dark • Lovecraft • Paranomal • Sinclair • Slasher • Splatter • Stephen King • Steven King • Zombies |
| ISBN-13 | 9783732529285 / 9783732529285 |
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