Brand
Transit (Verlag)
978-3-88747-338-9 (ISBN)
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Mexiko City, Oktober 1985. In der von Erdbeben heimgesuchten Stadt wird eine nicht identifizierbare Leiche gefunden. Alwin Heller, Sonderermittler des BKA, macht während einer Dienstreise Zwischenstopp in Mexiko und wird von einem Kollegen um Hilfe gebeten. Heller findet heraus, dass der Mann kurz vor seiner Ermordung ein geheimes Forschungsinstitut besucht hat. Der Fall wird vom mexikanischen Polizeichef wie üblich ohne weitere Untersuchung als Drogendelikt zu den Akten gelegt.Ein halbes Jahr später erkennt Heller den Toten in einem Film über den sowjetischen Atomphysiker Andrej Sacharow wieder. Offenbar war der Mann an der Herstellung der Wasserstoffbombe beteiligt. Vier Jahre später, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, erhält Heller Besuch von einer ehemaligen KGB-Agentin, die ihm den Namen des Toten verrät: Fjodor Lebedew, Ingenieur für Reaktortechnik, zuletzt Sicherheitschef im Atomkraftwerk Tschernobyl. In Lebedews Wohnung im atomar verseuchten Sperrbezirk findet Heller einen entscheidenden Hinweis: den Brief eines gewissen Johannes Brand, der in den fünfziger Jahren als verschleppter NS-Wissenschaftler mit Lebedew in Sochumi (am Schwarzen Meer) erfolgreich das sowjetische Atomprojekt vorangetrieben hat. Brand konnte die UdSSR in den sechziger Jahren verlassen, ging zunächst in die USA und schließlich nach Mexiko. 1985 nahmen die beiden wieder Kontakt miteinander auf: Brand hat Lebedew versprochen, ihm bei Sicherheitsproblemen am Reaktor von Tschernobyl behilflich zu sein. Ein angeblicher Ost-Agent setzt Heller auf eine weitere Spur: Der KGB sei damals Auftraggeber des Mordes gewesen, man wollte verhindern, dass Lebedew Kontakt zu westlichen Atomexperten aufnimmt. Zurück in Mexiko kommt Heller aber einer großangelegten Sabotageaktion auf die Spur. Zeugen verschwinden, Heller wird bedroht, er legt den Fall abermals zur Seite - bis ihn die NSA-Affäre wieder hochspült.
Ulrich Effenhauser, 1975 geboren, lebt als Historiker und Autor bei Cham in der Oberpfalz, nahe der tschechischen Grenze. Neben einigen Auszeichnungen für Kurzgeschichten gewann er im Januar 2015 den renommierten Irseer Pegasus (Jury: Ulrike Draesner, Markus Orths). Zuletzt veröffentlichte er den Roman »Alias Toller« (2015), der für den Friedrich-Glauser-Preis 2016 nominiert wurde.
2.8.2013, 11.09 Uhr Sehr geehrter Herr Dr. Ziemer, noch einmal vielen Dank für meine Ernennung zum Nachfolger von Herrn Heller. Das Dezernat »Fallforschung« zu leiten, ist eine große Ehre! Im Zusammenhang mit meinem Antritt habe ich noch eine Bitte an Sie: Herr Heller hat mich vorgestern wie vereinbart eingeführt, danach hat er seine persönlichen Gegenstände mitgenommen und mir sein Büro in ordnungsgemäßem Zustand übergeben. Kurz darauf habe ich festgestellt, dass sich in Herrn Hellers Schreibtisch noch Unterlagen befinden. Als ich Herrn Heller deswegen fragen wollte, war er bereits aufgebrochen, und telefonisch ist er seit vorgestern nicht zu erreichen. Es scheint gerade so, als habe er das Material absichtlich hinterlassen. In der betreffenden Akte mit dem Kennzeichen A1-BKA.DF-A.H.-15/2013-»Brand« befinden sich Notizen, Aussagen und Erläuterungen, die allesamt in den letzten Wochen zusammengefasst worden sind. Ganz offensichtlich sind sie der Grund für Herrn Hellers seltsames Verhalten, auch seine nächtlichen Arbeitsstunden lassen sich dadurch erklären. Ich habe damit begonnen, die 176 Seiten durchzulesen. Herr Heller gibt darin neben zahlreichen Fakten auch sehr viel Persönliches preis. Im Wesentlichen handelt es sich um einen Fall aus den 80er und 90er Jahren, der nirgendwo dokumentiert ist. Wenn sich die Ereignisse, die Herr Heller hier beschreibt, tatsächlich so zugetragen haben, dann haben wir es möglicherweise mit einem Politikum zu tun. Ich möchte Sie deshalb bitten, die Akte ebenfalls zu prüfen und mir Ihre Einschätzung mitzuteilen. Mit freundlichen Grüßen Christoph Jelinka Notiz 71: »Suchomi« Hauptstadt Abchasiens, am Schwarzen Meer. Bedeutender Hafen, subtropisches Klima, Wein, traditioneller Kurort (heiße Quellen, Schwefelbäder seit der Antike). 1945 wurden deutsche Wissenschaftler (Kernphysiker,Techniker) in S. interniert (beschlagnahmte Apparate und Materialien in Sonderzügen angeliefert). Das Forschungszentrum wurde in einem ehemaligen Sanatorium eingerichtet (Bauarbeiten durch Gulag-Gefangene). Ziel: Trennung der Uran-Isotope zur Gewinnung von bombenfähigem Material. Forscher: Gustav Hertz (Physiknobelpreisträger 1925), Manfred von Ardenne, Gernot Zippe, Max Steenbeck, Heinz Barwich, Nikolaus Riehl, Max Volmer, Werner Hartmann (insgesamt etwa 300 Pers.) Oberaufsicht: Stalins Geheimdienstchef Beria. Strenge Überwachung (Papier-Registrierung, Bestrafung von Verstößen, Kontakt mit Einheimischen nur innerhalb der abgeriegelten Zone etc.) Ansonsten: hohe Gehälter, komfortables Leben, mildes Klima (Palmen, Oleander, Strandfeste, Verbrüderungen etc.) Zit.: S. »als zweite Heimat« (Ardenne-Sohn Thomas); als »goldener Käfig« (Riehl) Zippe und Steenbeck: durchschlagender Erfolg bei der Konstruktion einer Gaszentrifuge (Aufstellung wie bei Spielzeugkreisel; Entwicklungsvorsprung gegenüber USA). Apotheker Reichmann: Paste aus Nickel und Nelkenöl (gebacken), ergeben Trennrohre mit perfekter Porosität (Stalin-Preis). 50er Jahre: Rückkehr der meisten Forscher nach Dtl. (DDR, BRD); manche nach USA; nur wenige bleiben. Zit.: »Als am 29. August 1949 im kasachischen Semipalatinsk die erste sowjetische Atombombe gezündet wurde, war dies unter anderem auch ein Erfolg der Wissenschaftler aus Hitlerdeutschland. Die Folgen waren weitreichend.« Mexiko (Im November 1985 war meine Frau Kerstin Heller im vierten Monat schwanger. Ich habe diese Zeit als schwierig in Erinnerung. Zwei Tage vor dem Abflugtermin teilte ich meiner Frau mit, dass ich die anstehende Dienstreise zum jährlich stattfindenden Ermittlertreffen in New York trotz ihrer Bedenken antreten würde. Das war, laut meinen Notizen, am 25. November 1985. Aus späterer Sicht muss ich zugeben, dass die Reise ein Fehler war.) Die Tagung in New York hatte kaum etwas Neues gebracht. Dass der Rückflug am 29. November ausgerechnet über Mexiko-Stadt ging, war mir zunächst nicht bewusst gewesen. Sorgen wegen des Erdbebens, das sich zwei Wochen zuvor hier ereignet hatte, machte ich mir nicht, ich hatte ja nicht vorgehabt, länger zu bleiben. Dass sich der Zwischenstopp am Flughafen Mexiko-Stadt in die Länge zog, machte mir nichts aus. Ich kam mir vor wie unter einer Taucherglocke, draußen herrschte Chaos, während ich Zeitungen las (zufälligerweise ist mir gerade das im Gedächtnis geblieben: In den amerikanischen Blättern stand viel über die Abrüstungsverhandlungen mit Gorbatschow in Genf). Obwohl ich wusste, dass sich meine Frau Gedanken machen würde, rief ich sie nicht an. Ich hatte keine Lust dazu. Ich empfand es als wohltuend, nicht an Ultraschall und die Einrichtung eines Kinderzimmers denken zu müssen. Etwa zwei oder drei Stunden saß ich da und las. Dann wurde ich ausgerufen. Ich war überrascht, vor allem war es mir peinlich, meinen Namen in diesem fremden Tonfall zu hören. Natürlich dachte ich zuerst, es sei etwas mit Kerstin. Doch am Schalter stand mein mexikanischer Kollege Juan Valverde. Gerade ihm, dem Vater von vier Kindern, hätte ich als Letztem begegnen wollen. Damals versuchte ich alles, was mit meiner neuen Lebensphase zu tun hatte, abzuwehren, vor allem die obligatorischen Sprüche anderer Väter. Wegen einer Budgetkürzung hatte Valverde nicht nach New York kommen können, er hatte aber von einem Kollegen erfahren, dass ich über Mexiko zurückfliege. Er meinte, an diesem Tag werde ohnehin kein Flieger mehr starten, ich solle mit ihm aufs Präsidium kommen und könne auch bei ihm übernachten. Unter anderen Umständen hätte ich vermutlich abgelehnt. Aber aus irgendeinem Grund willigte ich ein – insgeheim war ich Valverde sogar dankbar, dass er so unvermutet aufgetaucht war. Der Zustand der Stadt war erschreckend. So viele Häuser waren in sich zusammengefallen, so viele Tote. Straßen waren verschüttet, doch der Verkehr pulsierte, als ob nichts gewesen wäre. Man ging über Leichen, buchstäblich, und am Himmel hing der Smog. Ich habe viele Fotos gemacht: An einer Ecke eine umgestürzte Betonwand auf zusammengequetschten Autos; abgeknickte Strommasten, daneben ein Lieferwagen, der Wäsche ausfährt, im Hintergrund Feuer und Rauch; Menschen mit Mundschutz, die auf Schutthaufen stehen und graben; davor, mit Cola-Flaschen, zwei Helfer, die sich krümmen vor Lachen. Eine Plaza mit Geschäftsleuten und bunten Reklamen; Hochhäuser ohne Fassaden, mit Blick in die Wohnungen; auf dem Bürgersteig ein Stapel Särge und parkende Limousinen. Es war, als ob das Unglück seine Opfer penibel ausgewählt hätte. (Kerstin hätte mir sicher verboten, die Katastrophe zu fotografieren. Sie hätte mich mit einem psychologischen Fachbegriff analysiert. Aber ich konnte nicht anders. Ich glaube, ich hatte das Gefühl, mit meinen Bildern könnte ich den Wahnsinn begreifen. Angerufen habe ich sie kurz vor der Inspizierung der Leiche. Ich sagte ihr, dass ich einen Tag länger in Mexiko bleiben müsste. Ich entschuldigte mich, obwohl es mir nicht Leid tat. Kerstin sagte, es würde ihr nichts ausmachen: »Ich komme schon zurecht«. Aber es klang wie ein Vorwurf. Es war deutlich zu spüren: Während dieses Telefonats war die Distanz zwischen uns nicht nur geographisch. Ich weiß noch genau, dass ich für einen kurzen Moment eine ungute Vorahnung hatte – und dass ich diesen Gedanken sofort unterdrückte.) Die Leiche war an sich nichts Besonderes: mittelgroßer Mann, um die 60, graue, kurze Haare, breite Nase, die schon einmal gebrochen war, grauweißer Vollbart, hohe Wangenknochen, osteuropäischer Typ, leptosom, blass. Die Todesursache: glatter Herzdurchschuss, präzise ausgeführt, offensichtlich ein Profi. Kugel Fehlanzeige, Projektil Fehlanzeige, der Fundort vermutlich nicht identisch mit dem Tatort. Ein Sanitäter hatte den Mann hinter einem Schutthaufen entdeckt (nackt, ohne persönliche Gegenstände, Herkunft unbekannt). Ich wollte von Valverde die Autopsie-Ergebnisse erfahren, aber er musste, bevor ich Einblick erhielt, noch ein Formular abzeichnen lassen (er sagte, die Chefs im Präsidium seien kleinlich geworden, seitdem ein paar von seinen Kollegen mit den Drogenbossen zusammengearbeitet hätten). Da Valverdes Vorgesetzter nicht anwesend war, gingen wir in die Stadt. Nach wenigen Minuten waren wir in einem Park – eine Oase, keinerlei Zeichen von Zerstörung. Den Verkehr hörten wir kaum noch. Wir kamen zur Universitätsbibliothek, einem quaderförmigen Bau, der bunt bemalt war: große Kreise in der Mitte, alles symmetrisch, Sonne, Mond, unten eine Kirche, Kreuz und Schwert, Hände, ein klassischer Tempel mit einem geöffneten Auge über den Säulen, ganz oben ein aufgeschlagenes Buch, die Bibel, Dutzende von Szenen daraus; ineinander verschlungene Ovale, Himmelskörper, Tiere, dahinter aztekische Symbole, Priester, Geister, Totenköpfe, Hände, Vögel, Schlangen, Pfeile, das reinste Märchenland (ich weiß nicht, warum ich so viele Fotos gemacht habe. 1985 ergaben diese Dinge für mich keinerlei Sinn – 1992 kam mir der Bau wie ein riesiges Symbol vor). Auch später war Valverdes Chef nicht im Präsidium, also konnte ich den Autopsie-Bericht noch immer nicht einsehen. Gegen 18 Uhr besuchten wir eine nahegelegene Taberna. Der Fall trat in den Hintergrund, Valverde redete pausenlos über die Familie, über das Land, über die Präsidenten. Ich weiß noch, dass wir sehr viel lachten an diesem Abend. Mein schlechtes Gewissen wegen Kerstin hatte ich erstaunlich gut verdrängt. Am nächsten Morgen weckte mich Valverde, indem er mit Papieren vor meiner Nase herumwedelte. Seine Frau Juanita begrüßte mich wie einen Familienangehörigen, die Kinder auch. Der Vorgesetzte hatte endlich seine Erlaubnis gegeben, am Wohnzimmertisch (neben Plastikpistolen und Leuchtschwertern) übersetzte Valverde den vorläufigen Bericht, den ich hier zusammenfasse: Das Opfer wurde hinter einem Schutthaufen im äußeren Zentrum der Stadt entdeckt. Nur ein Schuss wurde abgegeben: Er durchbohrte die rechte Herzkammer, der Tod trat unmittelbar danach ein. Dem Einschusskanal zufolge stand der Täter frontal vor dem Opfer. Die Kugel trat durch den Rücken wieder aus. Da sie trotz mehrstündigen Suchens nicht aufgefunden werden konnte, war von postmortaler Verbringung der Leiche auszugehen. In der Wunde entdeckte man Überreste von Baumwollfasern, die mit der Kugel in den Körper eingedrungen waren. Laut mikroskopischer Analyse waren die Fasern blau. Das Opfer muss nach der Tat entkleidet worden sein, offenbar hätten die Textilien Beweiskraft gehabt. Den Todeszeitpunkt hatte der mexikanische Arzt sehr ungenau angegeben: Am 27. November hatte man die Leiche gegen 8 Uhr 45 entdeckt, der Mord muss »ein bis vier Stunden vorher« erfolgt sein. Zumindest war der Mann relativ schnell obduziert worden, was einen entscheidenden Hinweis gerettet hatte: Im Magen des Toten hatte man neben Brotresten ein kleines, zusammengeknülltes Stück Papier gefunden, hellgrün, weitgehend unverdaut, das Mordopfer muss es in den letzten Minuten seines Lebens im Brot versteckt und geschluckt haben (der Mann wusste also um die bestehende Gefahr, möglicherweise war es vor der Tat auch zu einer Freiheitsberaubung gekommen). Bei dem Papier handelte es sich um eine Busfahrkarte. Leider hatte die Magensäure die Druckerschwärze aufgelöst, man konnte nichts mehr erkennen. Valverde zögerte zunächst, die Schrift mit Chemikalien sichtbar zu machen, er hatte Angst, das Ticket könnte dabei zerstört werden. Um 11 Uhr 25 tränkten wir im Präsidium das Beweisstück mit Spiritus, legten es unter eine kleine Glashaube, an der wir oben eine Vakuumpumpe befestigt hatten. Valverde schaltete auf mein Zeichen die Pumpe ein. Ich zündete eine Lunte an, die in die Vorrichtung führte. Das Feuer pflanzte sich fort, hinter dem Glas entstand eine Flamme, die sogleich wieder erstickte. Wir entnahmen das versengte Papier: Dort, wo die Fasern noch von Druckerschwärze gesättigt waren, zeigten sich, etwas heller als beim verbrannten Rest, Buchstaben und Zahlen. Unglücklicherweise sind sowohl das Beweisstück als auch mein Foto davon verschwunden. Ich rekonstruiere daher die Aufschrift aus dem Gedächtnis: Ciudad de Mexiko/estación central – Tula/excavacion arqueológica – Tula/excavacion arqueológica – Ciudad de Mexiko/estación central, 23 de noviembre 1985. (Ich bin kein Mensch, der zum Alkohol neigt. Ich hasse es, mich gehen zu lassen. Dass ich während laufender Ermittlungen mal zu viel getrunken hatte, kann ich an zwei Fingern abzählen: 1978 in Prag, nachdem ich mit Charlotte Kolnik in Abels Bunker den Nazi-Film gesehen hatte, und damals in Mexiko. Ich liebe meinen klaren Kopf, ich brauche ihn. Meine Droge ist das Denken. Ich kann wirklich nicht sagen, warum ich mich in der Taberna betrunken habe. Vielleicht aus Angst vor dem Kind, Ödipus oder sonst etwas Psychologisches, Kerstin hätte es präzise analysiert. Heute weiß ich, dass es besser gewesen wäre, Valverde den MacGyver-Trick zu erklären und sofort zum Flughafen zu fahren, Valverde hätte die Strecke auch ohne mich abfahren können. Aber er wusste genau, dass ich Feuer gefangen hatte.) Zuerst fand ich Tula unspektakulär. Doch als wir oben auf der Pyramide ankamen, war ich sprachlos. Riesige Menschensäulen standen da, fünf Meter hoch, die Krieger der Tolteken. Glatt herausgemeißelt aus schwarzem Vulkangestein, in Tracht, bewaffnet, mit unheimlichen Grimassen, weit offene Augen und Münder. An die Einzelheiten erinnere ich mich genau: Im Hintergrund endlich blauer Himmel, Berge, Weiden und Felder, eine Stadt, darunter ein riesiger Platz. Von Valverde erfuhr ich, dass die Tolteken ein Kriegervolk waren, die anderen Stämme wurden von ihnen erobert und unterdrückt. Irgendwann hatten sie aber ihre Stadt verlassen und zerstört. »Zerstörung liegt den Mexikanern im Blut«, sagte Valverde; er machte das Klima dafür verantwortlich und die Götter (ich weiß noch, wie er lachte über seine Bemerkung; Valverde war Atheist, als Polizist kann man nicht an Gott glauben, sagte er immer). Weiter unten lagen die Ballspielplätze. Die Spieler mussten einen Gummiball, der die Sonne symbolisierte, durch einen Steinring befördern, ohne ihn fallen zu lassen, zu Ehren der Götter. Auf diese Weise wurden Kriege entschieden. Die Verlierer wurden geopfert, genau an dem Platz, wo wir standen. Was ich für wichtig halte: Der Tempel war dem Gott der Morgenröte geweiht, Tlahuizcalpantecuhtli, das war Quetzalcoatl in anderer Gestalt. Quetzalcoatl war der gute Hauptgott, der Schöpfergott, er wurde als gefiederte Schlange dargestellt, der Morgenstern wurde als sein Herz verehrt. Der Gott der Morgenröte aber war bösartig, er besaß Pfeile, mit denen er Unheil anrichtete. Einmal soll er versucht haben, mit seinen vergifteten Pfeilen die Sonne abzuschießen, weil sie ihm zuwider war. Doch er verfehlte sie, und ein Pfeil, der Feuer gefangen hatte, flog zu ihm zurück und verbrannte ihn. Als Quetzalcoatl erstand er wieder auf, und das Land erblühte. Aber dann verwandelte sich Quetzalcoatl wieder in den Gott der Morgenröte, und wieder soll er mit brennenden Pfeilen geschossen haben, diesmal auf die Erde. Die Folge war eine Apokalypse, die überlebenden Tolteken wanderten aus. Das soll den Gott derart erzürnt haben, dass er auf der Stadt herumtanzte und sie vernichtete. An den Seiten der Pyramide waren mehrere Reliefs angebracht, ich habe sie fotografiert: ein Vogelmensch, der aussah wie eine Medusa; Jaguare und Kojoten mit übergroßen Zähnen; Adler, die Herzen auffressen; dann wieder die gefiederte Schlange, mit gespaltener Zunge, ein Wesen von zweierlei Gestalt, Leben und Tod. Nach längerem Schweigen sagte Valverde: »Vielleicht ist er hier ermordet worden. Vielleicht wusste er, was auf ihn zukam?« Im Tourismusbüro zeigten wir der Angestellten das Foto des Mordopfers. Sie gab an, den Mann noch nie gesehen zu haben. Valverde bat sie, das Foto ihren Kollegen zu zeigen und sich zu melden, falls ihn jemand erkennen sollte. Das Gleiche sagte er später dem Busfahrer. Ich machte noch ein paar Fotos und Notizen, dann gingen wir zurück zur Haltestelle. (Damals hatte ich den Drang, alles möglichst genau zu dokumentieren, auch das Nebensächliche. Ich dachte: Bevor sie vergessene Vergangenheit wird, muss die Gegenwart lückenlos festgehalten werden. Man würde dadurch eine Zweit-Realität gewinnen, die das Original nahezu hundertprozentig abbildet. Alle notwendigen Informationen wären dem Ermittler im Nachhinein zur Hand. Ich habe damals lange darüber nachgedacht: Es müsste eine Technik sein, in der alle von Menschen getätigten Äußerungen und Handlungen registriert und zu Untersuchungszwecken gespeichert werden könnten. Allein die Abschreckungswirkung einer solchen Einrichtung wäre enorm. Es wäre ein ausgelagertes, gebündeltes menschliches Gewissen, ein riesiger Spiegel aller guten und schlechten Taten. Erst viel später habe ich gelernt, dass es reicht, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Heute, am Ende meiner Karriere, benötige ich, so wie mein Lehrer Theodor Kolnik, die meisten Informationen nicht. Es reicht, auf diejenigen zu achten, mit denen der Fall gelöst werden kann.) Wir fuhren auf der gleichen Strecke wie das Mordopfer zurück nach Mexiko-Stadt. Valverde schlief, ich wollte meine Notizen ordnen, aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Staub hüllte uns ein. Weite Teile der Landschaft waren ausgedörrt. Überall vulkanisches Gestein. Ich weiß noch, wie auf einmal Gewitterwolken aufzogen. An einer Haltestelle stoppte der Bus. Keine Häuser weit und breit, nur wüstenähnliche Ebene, aber die meisten Fahrgäste stiegen aus. Ich bat den Fahrer, einen Moment zu warten und folgte ihnen. Nach etwa zwanzig Metern tauchte hinter einem Hügel eine Industrieanlage auf (Fertigungshallen, Fahrzeuge, Gasflaschen, Leute mit Schutzhelmen und Schutzanzügen). Ich lief zurück, steckte dem schlafenden Valverde eine Nachricht in die Brusttasche seines Hemds und ließ den Bus ohne mich weiterfahren. Ich mischte mich unter die Arbeiter und gelangte, nachdem das Firmentor geöffnet worden war, auf das Gelände. Leider konnte ich nicht herausbekommen, was hier hergestellt wurde, die gelagerten Materialien (Kupferrollen, Kunststoffbahnen, verschieden große Gehäuse aus Metall) gaben keinerlei Aufschluss. Es begann zu donnern und blitzen, der Regen prasselte, die Leute rannten in die Hallen. Neben einem mit Plastikschrott gefüllten Container befand sich das Büro. An das Firmenlogo kann ich mich gut erinnern: ein Schwan mit Flügeln wie Feuerzungen. Ich betrat das Büro, eine Frau saß hinter einem Schreibtisch, eine Mestizin. An ihrem Hals klaffte ein hühnereigroßes Geschwür, ansonsten war sie auffallend hübsch. Sie konnte kein Englisch. Ich zeigte ihr das Bild des Toten, das sie eingehend betrachtete; sie schüttelte den Kopf, sie kannte den Mann nicht. Ich erinnere mich, dass ein Geruch in der Luft lag, den ich zunächst nicht zuordnen konnte, und die seltsame Gelassenheit der Frau (ich glaube, sie hat gelächelt, während sie das Foto in der Hand hielt) befremdete mich. Beim Verlassen des Büros meinte ich, den Geruch zu erkennen, es roch nach Pfeifentabak; seinen Ursprung vermutete ich hinter der Tür, die an der gegenüberliegenden Wand des Zimmers einen Spaltbreit geöffnet war, als ob jemand lauschte. Ich betrat eine Fertigungshalle, wo in einem Gitterkasten Hunderte von Platinen lagerten, wie sie in elektrischen Geräten Verwendung finden. Ich vermutete daher, die Firma sei ein Zulieferbetrieb für die Herstellung von Radios und Kassettenrekordern. Um 17 Uhr 30 war ich zurück im Präsidium und staunte nicht schlecht, dass sich Dutzende von Leuten vor Valverdes Tür drängten, alles Zeugen des Mordfalls. Ein älterer Mann wurde gerade befragt. Nach überraschend kurzer Vernehmungsdauer unterschrieb Valverde ein Formular, das er dem Zeugen aushändigte. Er informierte mich darüber, dass der Mann bei einer Drogenübergabe zugesehen habe; dabei sei er Zeuge geworden, wie einem bärtigen, wichtig aussehenden Mann (»importante«) mit einem Messer in die Brust gestochen worden war; der Täter sei ein Schwarzer gewesen. Ich äußerte Zweifel, aber Valverde bestand darauf, dass die Aussage korrekt sei; er deutete dabei nach oben, wo sich das Büro seines Vorgesetzten (»el jefe«) befand. Dann zog er mich ins Vertrauen und erzählte, wie die mexikanische Polizei in solchen Fällen vorging: Nach jedem Mord versammelte sich das halbe Viertel auf dem Präsidium und tischte den Beamten Verbrechermärchen auf. Der zuständige Polizist unterschrieb ein Formular, die Leute brachten es zur Zahlstelle, wo sie ein paar Pesos bekamen, mit denen sie sich etwas zu essen kaufen konnten. Wenn sie wieder Hunger hatten, kamen sie ein zweites Mal, nicht selten mit einer anderen Geschichte. Von den 29 Zeugen, die bislang in dem Fall ausgesagt hatten, hatten 29 angegeben, es sei um Drogen gegangen. Den Grund dafür formulierte Valverde sinngemäß so: »Wenn es um die Drogenmafia geht, dann werden Gelder schnell ausgezahlt. Also lassen wir uns sagen, was wir hören wollen, und jedem ist gedient.« Eine andere Aussage stammte von einem Mädchen (zehn oder elf Jahre alt, das Kind wusste es nicht so genau): Der Mörder habe dem Opfer zwischen zwei Schutthaufen mit einer kleinen Pistole in den Kopf geschossen. Dann sei er weggerannt und in ein Auto gestiegen, das schnell davongefahren sei. Auf die Frage nach dem Aussehen des Ermordeten gab das Mädchen an, dass er einen Anzug getragen habe (»en un traje«). Die Frage nach dem Verbleib des Anzugs konnte von dem Mädchen nicht beantwortet werden. Als es hinausging, blieb es kurz stehen und sagte wörtlich: »El asesino parecía un gigante sin cabellos.« Hinter dieser Äußerung habe ich damals ein Fragezeichen gemacht, sie schien mir unglaubwürdig. Dass der Mörder »wie ein Riese ohne Haare« ausgesehen haben soll, war bis zu diesem Zeitpunkt von keinem anderen Zeugen angegeben worden. Auch wurde dem Opfer nicht in den Kopf, sondern in die Brust geschossen. Offenbar war der Tatort so geschickt gewählt worden, dass niemand ihn einsehen konnte. Aus damaliger Sicht war es deshalb richtig zu notieren, dass »verlässliche Augenzeugenberichte nicht vorliegen«. Nach den Vernehmungen erhielten wir die Nachricht, dass am Leichenfundort mithilfe von Bulldozern mittlerweile Aufräumarbeiten durchgeführt wurden. Ich war perplex, denn jetzt war das Auffinden der Kugel so gut wie unmöglich. Valverde deutete wieder nach oben und sagte »el jefe«. Er erklärte mir dann den Zusammenhang zwischen dem Erdbeben und dem mexikanischen Baugewerbe. Kurz darauf erhielten wir den Laborbefund. Die Blutuntersuchung hatte überraschenderweise ergeben, dass das Mordopfer an Leukämie erkrankt war (»última fase« = Endstadium). Ich äußerte die etwas gewagte Vermutung, dass der Mann die Todesstadt Tula womöglich wegen seiner tödlichen Krankheit aufgesucht hatte, was Valverde mit einem ungläubigen Kopfschütteln quittierte. Dann sprang er plötzlich auf, zerrte mich zur Tür und schrie: »El sismo, el sismo«. Ein Geräusch, wie ich es noch nie gehört hatte, erfüllte den Raum und wurde immer lauter. Die Wände wackelten, das Foto des Staatspräsidenten fiel herab und zerbrach. Eigenartig, ich hatte keine Angst. Im Gegenteil, ich hätte fast losgelacht. Wie lange das Beben andauerte, kann ich nicht sagen, alles war verzerrt, der Raum und die Zeit. Mit einem plötzlichen Ruck war es schließlich wieder vorbei. Es war das fünfte Nachbeben gewesen. Draußen lagen Leute auf dem Boden, es herrschte gespenstische Stille. Eine Schwangere blutete aus der Nase; ein Mann stand auf und stimmte ein Lied an, es klang wie die Nationalhymne. Ein dicker Beamter mit Krawatte rannte die Treppe herunter, drückte Valverde ein paar Papiere in die Hand und schrie ihn an. Dann lief er nach draußen und fuhr in seinem Wagen (roter Buick) mit hoher Geschwindigkeit davon. In Valverdes Büro war alles durcheinander. Nachdem er den Schreibtisch an seinen ursprünglichen Ort zurückgeschoben hatte, unterschrieb er den Bericht – ich war sehr erstaunt, dass der Fall bereits abgeschlossen sein sollte. Valverde deutete wieder nach oben und meinte, es gebe Wichtigeres zu tun, die Polizei werde anderswo gebraucht. »Der Mann war ohnehin so gut wie tot. Opfer der Drogenmafia, vermutlich selbst kriminell, fast alle Aussagen gehen in diese Richtung.« Er entschuldigte sich noch bei mir, dass er mir meine Zeit gestohlen hatte, »du wirst sicher längst daheim erwartet«, und fuhr mich zum Flughafen.
2.8.2013, 11.09 UhrSehr geehrter Herr Dr. Ziemer,noch einmal vielen Dank für meine Ernennung zum Nachfolger von Herrn Heller. Das Dezernat »Fallforschung« zu leiten, ist eine große Ehre! Im Zusammenhang mit meinem Antritt habe ich noch eine Bitte an Sie: Herr Heller hat mich vorgestern wie vereinbart eingeführt, danach hat er seine persönlichen Gegenstände mitgenommen und mir sein Büro in ordnungsgemäßem Zustand übergeben. Kurz darauf habe ich festgestellt, dass sich in Herrn Hellers Schreibtisch noch Unterlagen befinden. Als ich Herrn Heller deswegen fragen wollte, war er bereits aufgebrochen, und telefonisch ist er seit vorgestern nicht zu erreichen. Es scheint gerade so, als habe er das Material absichtlich hinterlassen. In der betreffenden Akte mit dem Kennzeichen A1-BKA.DF-A.H.-15/2013-»Brand« befinden sich Notizen, Aussagen und Erläuterungen, die allesamt in den letzten Wochen zusammengefasst worden sind. Ganz offensichtlich sind sie der Grund für Herrn Hellers seltsames Verhalten, auch seine nächtlichen Arbeitsstunden lassen sich dadurch erklären. Ich habe damit begonnen, die 176 Seiten durchzulesen. Herr Heller gibt darin neben zahlreichen Fakten auch sehr viel Persönliches preis. Im Wesentlichen handelt es sich um einen Fall aus den 80er und 90er Jahren, der nirgendwo dokumentiert ist. Wenn sich die Ereignisse, die Herr Heller hier beschreibt, tatsächlich so zugetragen haben, dann haben wir es möglicherweise mit einem Politikum zu tun. Ich möchte Sie deshalb bitten, die Akte ebenfalls zu prüfen und mir Ihre Einschätzung mitzuteilen. Mit freundlichen GrüßenChristoph Jelinka Notiz 71: »Suchomi« Hauptstadt Abchasiens, am Schwarzen Meer. Bedeutender Hafen, subtropisches Klima, Wein, traditioneller Kurort (heiße Quellen, Schwefelbäder seit der Antike). 1945 wurden deutsche Wissenschaftler (Kernphysiker,Techniker) in S. interniert (beschlagnahmte Apparate und Materialien in Sonderzügen angeliefert).Das Forschungszentrum wurde in einem ehemaligen Sanatorium eingerichtet (Bauarbeiten durch Gulag-Gefangene).Ziel: Trennung der Uran-Isotope zur Gewinnung von bombenfähigem Material.Forscher: Gustav Hertz (Physiknobelpreisträger 1925), Manfred von Ardenne, Gernot Zippe, Max Steenbeck, Heinz Barwich, Nikolaus Riehl, Max Volmer, Werner Hartmann (insgesamt etwa 300 Pers.)Oberaufsicht: Stalins Geheimdienstchef Beria.Strenge Überwachung (Papier-Registrierung, Bestrafung von Verstößen, Kontakt mit Einheimischen nur innerhalb der abgeriegelten Zone etc.)Ansonsten: hohe Gehälter, komfortables Leben, mildes Klima (Palmen, Oleander, Strandfeste, Verbrüderungen etc.)Zit.: S. »als zweite Heimat« (Ardenne-Sohn Thomas); als »goldener Käfig« (Riehl) Zippe und Steenbeck: durchschlagender Erfolg bei der Konstruktion einer Gaszentrifuge (Aufstellung wie bei Spielzeugkreisel; Entwicklungsvorsprung gegenüber USA).Apotheker Reichmann: Paste aus Nickel und Nelkenöl (gebacken), ergeben Trennrohre mit perfekter Porosität (Stalin-Preis).50er Jahre: Rückkehr der meisten Forscher nach Dtl. (DDR, BRD); manche nach USA; nur wenige bleiben.Zit.: »Als am 29. August 1949 im kasachischen Semipalatinsk die erste sowjetische Atombombe gezündet wurde, war dies unter anderem auch ein Erfolg der Wissenschaftler aus Hitlerdeutschland. Die Folgen waren weitreichend.«Mexiko(Im November 1985 war meine Frau Kerstin Heller im vierten Monat schwanger. Ich habe diese Zeit als schwierig in Erinnerung. Zwei Tage vor dem Abflugtermin teilte ich meiner Frau mit, dass ich die anstehende Dienstreise zum jährlich stattfindenden Ermittlertreffen in New York trotz ihrer Bedenken antreten würde. Das war, laut meinen Notizen, am 25. November 1985. Aus späterer Sicht muss ich zugeben, dass die Reise ein Fehler war.) Die Tagung in New York hatte kaum etwas Neues gebracht. Dass der Rückflug am 29. November ausgerechnet über Mexiko-Stadt ging, war mir zunächst nicht bewusst gewesen. Sorgen wegen des Erdbebens, das sich zwei Wochen zuvor hier ereignet hatte
| Erscheinungsdatum | 25.08.2016 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Alwin Heller |
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Maße | 145 x 220 mm |
| Gewicht | 321 g |
| Einbandart | gebunden |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
| Schlagworte | Andrej Sacharow • Arsamas-16 • Atombomben • Atomphysiker • Nachkrieg • Politthriller • Politthriller/Justizthriller • Sabotage • Sochumi • Sowjetunion • Tschernobyl • Tschernobyl; Krimis/Thriller • Verschleppung • Wasserstoffbombe |
| ISBN-10 | 3-88747-338-8 / 3887473388 |
| ISBN-13 | 978-3-88747-338-9 / 9783887473389 |
| Zustand | Neuware |
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