Mercer hat ein Namenloses Verbrechen begangen. Er wird auf den Gefängnisplaneten Shayol gebracht, von dem aus die Schreie und Klagen der Bestraften zu Ehren des Imperators übertragen werden. Niemand weiß, was auf Shayol vorgeht, ehe er nicht selbst dorthin kommt. Als der Chefarzt des Gefängnisses, Dr. Vomact, Mercer anbietet, sein Gedächtnis und seine Augen zu entfernen, um ihm das Leben auf Shayol leichter zu machen, ahnt er, dass seine Strafe die unglaublichen Gerüchte noch übertreffen wird ...
Die Erzählung 'Ein Planet namens Shayol' erscheint als exklusives eBook Only bei Heyne und ist zusammen mit weiteren Stories von Cordwainer Smith auch in dem Sammelband 'Was aus den Menschen wurde' enthalten. Sie umfasst ca. 52 Buchseiten.
Cordwainer Smith war das Pseudonym von Paul Linebarger. 1913 in Milwaukee, Wisconsin geboren, verbrachte Linebarger seine Kindheit in den unterschiedlichsten Ländern. Sein Vater war pensionierter Richter und politisch aktiv; unter anderem pflegte er Beziehungen zu dem chinesischen Politiker Sun Yat-sen, der Pauls Taufpate war. Linebarger studierte Politikwissenschaft und wurde später Professor für Internationale Politik. Er arbeitete für den militärischen Geheimdienst der USA als Asien-Experte und gehörte dem Beraterstab von Präsident John F. Kennedy an. Er verfasste ein Handbuch über psychologische Kriegsführung, das bis heute als Standardwerk gilt. Daneben schrieb er unter verschiedenen Pseudonymen Kurzgeschichten und Romane; für seine SF-Erzählungen wählte er Cordwainer Smith. 'Cordwainer' ist eine veraltete Bezeichnung für Schuster, Smith bedeutet Schmied. Wie ein Handwerker baute Linebarger nach und nach sein Universum von der 'Instrumentalität der Menschheit' auf, mit dem er in den Fünfziger- und Sechzigerjahren bekannt wurde. Er gilt als einer der intelligentesten und ungewöhnlichsten Science-Fiction-Autoren. Paul Linebarger starb im August 1966 und ist auf dem Nationalfriedhof in Arlington beerdigt.
I
Es war ein ungeheurer Unterschied zwischen der Behandlung, die Mercer auf dem Passagierschiff erfuhr, und der auf der Fähre.
Auf dem Passagierschiff rissen die Wächter Witze über ihn, wenn sie ihm das Essen brachten. »Schreien Sie nur recht schön und laut«, riet ein rattengesichtiger Steward, »damit wir auch wissen, dass Sie es sind, wenn am Geburtstag des Imperators die Klagen der Sträflinge übertragen werden.« Ein anderer, dicker Steward fuhr sich mit seiner feuchten Zungenspitze über seine dicken, purpurfarbenen Lippen und sagte: »Klarer Fall, Mann. Wenn Sie ständig Schmerzen hätten, dann wäre von Ihnen und der ganzen anderen Bande bald nicht mehr viel übrig. Irgendetwas wirklich Bedeutendes muss passieren, außer dem … wasweißich. Vielleicht verwandeln Sie sich in eine Frau. Oder in zwei Menschen. Hören Sie zu, Freundchen, wenn es wirklich etwas Verrücktes ist, dann lassen Sie es mich wissen …« Mercer sagte nichts. Mercer hatte genug eigene Sorgen, um sich auch noch über die Tagträume irgendwelcher widerlicher Menschen Gedanken zu machen.
Auf der Fähre war alles ganz anders. Der biopharmazeutische Stab war flink, unpersönlich, und ehe Mercer wusste, wie ihm geschah, hatte man ihm die Fesseln abgenommen. Sie nahmen ihm auch seine Sträflingskleidung weg und ließen sie auf dem Passagierschiff. Als er auf die Fähre übersetzte, nackt wie er war, musterten sie ihn wie eine seltene Pflanze oder wie einen Körper auf dem Operationstisch. Fast lag etwas wie distanzierte Freundlichkeit in der klinischen Flinkheit ihrer Berührungen. Sie behandelten ihn nicht als Kriminellen, sondern als Objekt. Die Männer und Frauen in ihren Arztkitteln sahen ihn an, als ob er bereits tot wäre.
Er wollte etwas sagen. Einer der Männer, älter und mit mehr Autorität ausgestattet als die anderen, sagte fest und entschieden: »Lassen Sie das mit dem Sprechen sein. Ich werde in kurzer Zeit mit Ihnen reden. Was wir jetzt tun, sind die Präliminarien, um Ihren physischen Zustand zu bestimmen. Bitte, drehen Sie sich um.«
Mercer drehte sich um. Ein Pfleger rieb seinen Rücken mit einem sehr starken antiseptischen Mittel ein.
»Das wird brennen«, erklärte einer der Techniker, »aber es ist nichts Gravierendes oder Schmerzhaftes. Wir untersuchen nur die Festigkeit Ihrer verschiedenen Hautschichten.«
Mercer, verärgert über die unpersönliche Behandlung, sagte, als es über dem sechsten Lendenwirbel zu brennen begann: »Wissen Sie nicht, wer ich bin?«
»Natürlich wissen wir, wer Sie sind«, erklang die Stimme einer Frau. »Wir haben alles in der Akte drüben in der Ecke. Der Chefarzt wird später mit Ihnen über Ihre Verbrechen sprechen, falls Sie darüber sprechen wollen. Seien Sie jetzt still. Wir führen einen Hauttest durch, und Sie werden sich sehr viel besser dabei fühlen, wenn Sie die Untersuchung nicht auch noch verzögern.« Der Ehrlichkeit halber fügte sie noch hinzu: »Und wir werden dann auch bessere Ergebnisse bekommen.«
Ohne Zeit zu verlieren, machten sie sich an die Arbeit.
Er betrachtete sie von der Seite. Nichts an ihnen verriet, dass sie menschliche Teufel im Vorzimmer der Hölle waren. Nichts deutete darauf hin, dass dies der Satellit von Shayol war, des letzten und endgültigen Ortes der Züchtigung und der Schande. Sie wirkten wie die Ärzte aus der Zeit, bevor er das Namenlose Verbrechen begangen hatte.
Sie führten eine Routineuntersuchung nach der anderen durch. Schließlich deutete eine Frau mit einer chirurgischen Gesichtsmaske auf einen weißen Tisch. »Legen Sie sich bitte darauf.«
Niemand hatte mehr »Bitte« zu Mercer gesagt, seit ihn die Wächter vor dem Palast gefangengenommen hatten. Er wollte der Aufforderung schon nachkommen, da entdeckte er, dass am Kopfende des Tisches gepolsterte Handschellen angebracht waren. Er zögerte.
»Bitte«, sagte die Frau. Einige der anderen Ärzte drehten sich um und sahen sie beide an.
Das zweite »Bitte« erschütterte Mercer. Er musste sprechen. Das hier waren Menschen, und er war wieder eine Person. Er spürte, wie sich seine Stimme hob, sich beinahe überschlug, als er sie fragte: »Bitte, Ma'am, beginnt jetzt die Bestrafung?«
»Hier gibt es keine Bestrafung«, erwiderte die Frau. »Das hier ist der Satellit. Legen Sie sich auf den Tisch. Wir werden Ihnen jetzt Ihre erste Hautfestigung verabreichen, und dann können Sie sich mit dem Chefarzt unterhalten. Und ihm alles über Ihr Verbrechen erzählen …«
»Sie wissen von meinem Verbrechen?«, fragte er, fast erfreut, als hätte sie einen guten Nachbarn erwähnt.
»Natürlich nicht«, sagte sie, »aber alle Menschen, die hier durchkommen, müssen ein Verbrechen begangen haben. Man hält sie auf jeden Fall für Kriminelle, sonst wären sie nicht hier. Die meisten wollen über ihre persönlichen Verbrechen reden. Aber halten Sie mich nicht auf. Ich bin Hauttechnikerin, und unten auf Shayol werden Sie die beste Behandlung benötigen, die wir Ihnen zukommen lassen können. Jetzt legen Sie sich auf den Tisch. Und wenn Sie dann bereit sind, mit dem Chef zu sprechen, werden Sie außer über Ihr Verbrechen auch noch über andere Dinge reden können.«
Er gab nach.
Eine andere Person mit Gesichtsmaske, vermutlich ein Mädchen, ergriff mit kühlen, sanften Fingern seine Hände und befestigte sie in den gepolsterten Handschellen auf eine Art, die er noch nie erlebt hatte. Bis jetzt hatte er immer geglaubt, jede Verhörmaschine im ganzen Imperium zu kennen, aber dies hier war etwas völlig anderes.
Die Pflegerin trat zurück. »Alles bereit, Madam und Doktor.«
»Was ziehen Sie vor?«, fragte die Hauttechnikern. »Sehr starke Schmerzen oder einige Stunden Bewusstlosigkeit?«
»Warum sollte es mich nach Schmerzen verlangen?«
»Einige Objekte bitten darum, wenn sie hier eintreffen. Ich glaube, es liegt daran, was die Menschen mit ihnen gemacht haben, bevor sie zu uns kamen. Ich nehme an, Sie haben noch keine dieser Traumstrafen erhalten?«
»Nein, die habe ich wohl bislang versäumt.« Mercer dachte: Ich wusste gar nicht, dass ich überhaupt irgendetwas versäumt habe.
Er erinnerte sich an die letzte Gerichtsverhandlung, während der er durch Drähte und Stecker mit dem Zeugenstand verbunden war. Der Gerichtssaal war hoch und dunkel gewesen. Helles blaues Licht fiel auf die Richter, deren Kopfbedeckungen fantastische Parodien auf die Bischofsmützen längst vergangener Zeiten darstellten. Die Richter unterhielten sich, aber er konnte sie nicht hören. Dann verschwand die Schutzdämmung, und er vernahm eine Stimme, die sagte: »Sehen Sie sich dieses weiße, teuflische Gesicht an. Ein solcher Mensch ist aller Verbrechen schuldig. Ich bin für die Schmerzstation.« – »Nicht den Planeten Shayol?«, fragte eine zweite Stimme. – »Die Dromozoen-Welt«, ertönte eine dritte Stimme. – »Das wäre das Richtige für ihn«, stimmte die erste Stimme zu. Einer der Gerichtstechniker musste bemerkt haben, dass der Gefangene unerlaubterweise zuhörte. Die Verbindung wurde getrennt.
Mercer glaubte zu dieser Zeit noch, er habe schon alles erlebt, was sich die Grausamkeit und die Intelligenz der Menschheit ausdenken konnte. Aber diese Frau meinte, er habe die Traumstrafen noch nicht erlebt. Konnte es denn im Universum Menschen geben, die noch schlechter waren als er selbst? Unten auf Shayol mussten sich eine Menge Leute befinden.
Und er war dabei, einer von ihnen zu werden. Würden sie vor ihm prahlen, was sie getan hatten, bevor man sie an diesen Ort gebracht hatte?
»Es ist nur ein gewöhnliches Narkosemittel«, sagte die Technikerin. »Geraten Sie nicht in Panik, wenn Sie erwachen. Ihre Haut wird auf chemische und biologische Weise verdickt und verstärkt werden.«
»Wird es wehtun?«
»Natürlich«, nickte sie. »Aber schlagen Sie sich nur gleich aus dem Kopf, wir würden Sie damit bestrafen. Der Schmerz wird lediglich ein gewöhnlicher medizinischer Schmerz sein. Jeder empfindet ihn, der sich einer chirurgischen Operation unterzieht. Die Bestrafung, wenn Sie es so nennen wollen, findet erst unten auf Shayol statt. Unsere einzige Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass Sie nach der Landung überlebensfähig sind. Auf gewisse Art retten wir Ihnen vorbeugend das Leben. Sie können dafür dankbar sein, wenn Sie möchten. Währenddessen können Sie sich viel Ärger ersparen, wenn Sie sich klarmachen, dass Ihre Nervenenden auf die Veränderung Ihrer Haut reagieren werden. Sie sollten sich lieber darauf einstellen, dass es Ihnen sehr schlecht gehen wird, wenn Sie aus der Bewusstlosigkeit erwachen. Aber dem können wir auch abhelfen.« Sie legte einen Hebel um, und Mercer wurde bewusstlos.
Als er wieder zu sich kam, lag er in einem normalen Krankenzimmer, merkte aber nichts von seiner Umgebung. Er schien in Feuer gebadet zu sein. Er hob die Hand, um nachzusehen, ob sie in Flammen stand. Sie sah so aus wie immer, war nur ein wenig gerötet und geschwollen. Er versuchte sich in dem Bett umzudrehen. Aus dem Feuer wurde sengende Glut, und er hielt in der Bewegung inne. Unkontrolliert begann er zu stöhnen.
Eine Stimme ertönte. »Sie werden jetzt eine Dosis Schmerzstiller bekommen.« Es war eine Krankenschwester. »Halten Sie Ihren Kopf ruhig, und ich gebe Ihnen ein halbes Ampere Glückseligkeit.«
Sie zog ihm eine weiche Kappe über den Kopf. Sie wirkte wie Metall, fühlte sich aber wie Seide an.
Er musste seine Fingernägel in die Handballen graben, um zu verhindern, dass er sich im Bett krümmte.
»Schreien Sie nur, wenn Sie möchten«, sagte die Krankenschwester. »Viele tun es. Es wird nur noch eine oder zwei Minuten dauern, bis die Kappe den richtigen Lappen in Ihrem Gehirn...
| Erscheint lt. Verlag | 28.4.2016 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Die Instrumentalität der Menschheit | Die Instrumentalität der Menschheit |
| Übersetzer | Thomas Ziegler |
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | A Planet Named Shayol |
| Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
| Schlagworte | Cordwainer Smith • diezukunft.de • eBooks • E-Only • Erzählung • Instrumentalität der Menschheit • Meisterwerke der Science Fiction • Serien • Was aus den Menschen wurde |
| ISBN-10 | 3-641-19254-4 / 3641192544 |
| ISBN-13 | 978-3-641-19254-9 / 9783641192549 |
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