John Sinclair Sonder-Edition 23 (eBook)
Bastei Lübbe (Verlag)
978-3-7325-2874-5 (ISBN)
Meine Familie stammt aus Schottland. In dem kleinen, alten Dorf Brigadoon lebten meine Ahnen über Hunderte von Jahren. Bis die Stadt im Moor versank. Nur wenige jedoch kannten den alten Fluch.
Die Stadt war dazu verdammt, alle hundert Jahre aus dem Moor zu erscheinen. Diese Zeit war um, Brigadoon tauchte wieder auf.
Auf dem Friedhof der Verfluchten wuchs die Stadt aus den Tiefen des Moors, und für mich begann einer meiner unheimlichsten Fälle ...
Der Killer hatte die Geduld eines Raubtiers. Er wusste genau, dass sein Opfer erscheinen würde, und richtete sich darauf ein. Im weichen, taufeuchten Gras hatte er es sich bequem gemacht und den Lauf des automatischen Gewehrs auf eine Astgabel gelegt, die ihn sicher abstützte.
Es war eine hervorragende Waffe, mit der Koonz schoss. Sie war ausgerüstet mit einem Zielfernrohr, das mit einer Genauigkeit auf den Lauf abgestimmt war, die schon einmalig zu nennen war. Mit dieser Waffe hatte Koonz nur ein einziges Mal vorbeigeschossen.
Sein scharfes Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, als er das Reh ganz in der Nähe sah. Das Tier stand auf einer kleinen Lichtung und äste. Für den Killer ein Beweis, dass er seinen Platz günstig gewählt hatte. Nicht einmal die scheuen Tiere nahmen ihn wahr.
Er lag am Waldhang, versteckt im Unterholz. Schräg konnte er in eine große, weite Mulde blicken, die umgeben von Bergen war. Hier würde das Ferienzentrum, um das es letztendlich ging, ausgezeichnet hineinpassen.
Die Mulde war allerdings ein ideales Gebiet für Naturforscher. Es gab dort seltene Sumpfblumen, Vögel nisteten im dichten Gras, der Boden war feucht und enthielt zahlreiche Würmer und Insekten, sodass die Vögel immer genügend Nahrung fanden. Ein schöner Flecken Erde, ein kleines Stückchen unberührter Natur, um das sich eine Sage rankte.
Aber was interessierten den Killer schon alte Legenden und Sagen, auch wenn sie mit unheimlichen Friedhöfen oder geisterhaften Städten zu tun hatten. Er musste seine Aufgabe erledigen, und das würde er. Koste es, was es wolle.
Leider wusste er nicht genau, wann sein Opfer eintreffen würde. Er hatte nur etwas von der Dämmerung gehört. Dann wollte der Mann kommen und das Wild beobachten. Als Koonz, der Mörder, daran dachte, begann er abermals zu grinsen. Das Wild beobachten! Einfach lächerlich. Der Mann ahnte nicht, dass er selbst das Wild sein würde und von einem Projektil getroffen werden sollte.
Der Killer streichelte sein Gewehr, den einzigen Freund, den er hatte. Er warf danach einen Blick auf seine Uhr und sah wieder hinab in die Mulde. Die Sonne war hinter den Bergen verschwunden. Bald würde die Nacht den Tag ablösen.
Am Beginn der Dämmerung kam der Mann, er fuhr mit seinem Wagen vor die Mulde, ließ das Fahrzeug im Schutz eines hohen Gebüschs stehen und suchte sich erst danach seinen Platz, von wo er den besten Überblick hatte.
So jedenfalls wusste es der Killer.
Er wusste auch, dass diese Gegend vielen Menschen nicht geheuer war. Hier hatte mal Brigadoon gestanden …
Der Killer blickte zum Himmel. Die Wolken hingen tief. Es konnte auch Nebel sein, der von den Hängen kroch. Auch in der Mulde hatten sich erste Schwaden gebildet. Dicke, graue Tücher, die hüfthoch über dem Boden schwebten und die Sicht in die Schüssel hinab behinderten. Das störte den Killer nicht. Er wollte den Mann schon vorher erwischen, bevor er in die Mulde hineinging. Die Kugel sollte ihn treffen, wenn er seinen Wagen verlassen hatte.
Abermals probierte der Killer die Schussbahn aus. Er senkte die Gewehrmündung um einige Millimeter und nickte zufrieden. Auch roch er das Waffenöl, für ihn ein Geruch wie für eine Frau ein kostbares Parfüm.
Dann zuckte er zusammen. Wie aus dem Nichts erfasste ein seltsames Leuchten die Mulde. Nur für einen winzigen Augenblick entstand das rote Licht, das einen Schimmer ins Violette besaß. Woher es genau gekommen war, konnte der Killer nicht sagen, es war einfach da gewesen, und in dieser winzigen Zeitspanne hatte Koonz auch in die Mulde geblickt und dort etwas gesehen, was er als eine Täuschung ansah. Verfallene Häuser und einen uralten Friedhof …
Dann war beides wieder verschwunden. Der Killer wischte sich über die Augen. Er war doch irritiert, wollte es nicht zugeben, obwohl ihm sein Verstand etwas anderes sagte.
Da war etwas gewesen … Friedhof und Häuser … Brigadoon! Hatte man ihm nicht die alte Geschichte erzählt? Von dieser seltsamen Stadt, die alle hundert Jahre erscheinen würde, um einem alten Fluch zu gehorchen?
»Kinderkram«, murmelte Koonz, um sich selbst zu beruhigen. »Verdammter Kinderkram, und ich falle noch darauf rein …«
Er fluchte wütend, wobei er sich wieder anders hinlegte und jetzt eine bequemere Stellung eingenommen hatte. Zeit seines Lebens war er Realist gewesen. Eine saubere Kugel war für ihn alles, da brauchte er so einen Kram nicht.
Und doch hatte er etwas gesehen, auch das Licht war da gewesen. Als er nun in die Mulde blickte, sah alles wieder normal aus. Doch das war eine Täuschung. Und gerade das machte Koonz Angst. Wenn er sich täuschen ließ, deutete dies auf eine Nervenschwäche hin. Alles konnte er sich erlauben, nur so etwas nicht, dann war er bald raus aus dem Geschäft.
Selbstzweifel drangen in ihm hoch, denn so etwas war ihm noch nie vorgekommen, und er hatte wirklich schon einiges hinter sich. Nicht umsonst gehörte er zu den Topleuten seines Fachs. In der ganzen Welt hatte er gemordet, doch nie war ihm so etwas passiert wie hier in Schottland.
Aber der Schrecken war noch nicht beendet. Kaum hatte Koonz wieder Maß genommen, als er die Stimmen hörte. Es waren keine normalen Stimmen, sondern geisterhafte Laute, die an seine Ohren schwangen.
Brigadoon must die – Brigadoon muss sterben!
Der Killer merkte, dass sein Herz schneller schlug. Brigadoon, das war doch die versunkene Stadt, der sagenumwobene Ort, der einem alten Fluch anheimgefallen war.
Brigadoon must die!
Ein Singsang war es, der die Nerven des Killers so strapazierte. Es hörte sich an, als würde ein gesamter Chor singen, dessen Stimmen nicht hell und klar waren, sondern dumpf, drohend und deprimierend. Einfach unheimlich.
Aber er sah niemanden. Koonz hatte bisher seine liegende Stellung beibehalten. Nun schnellte er hoch, drehte sich um, riss das Gewehr an die Hüfte und starrte auf den Waldrand, denn er dachte daran, dass sich die Sänger dort unter Umständen versteckt halten könnten.
Die Bäume, deren Laub sich allmählich färbte, standen dort wie stumme Wächter dicht an dicht. Dazwischen das Unterholz, von dünnen Nebelschleiern umfangen, aber keine Gestalten, die ein Lied sangen.
Und doch hatte Koonz es gehört. Da wollte ihn jemand verrückt machen, dessen war er sicher. Natürlich, anders konnte es nicht sein. Irgendwo hatte sich jemand versteckt, der ein Radio besaß und jetzt die Musik laufen ließ, damit er, Koonz, durchdrehte.
Der Killer zog die Schultern hoch. Er fröstelte plötzlich. Obwohl er es nicht offen zugeben wollte, war ihm doch unheimlich zumute. Was sich hier abspielte, konnte man mit dem Wort unbegreiflich umschreiben. Er, der Realist, hatte dafür keine Erklärung.
Ein paar Schritte ging er auf den Waldrand zu. Seine Füße knickten das hochwachsende Gras, der rechte Zeigefinger lag am Abzug, Koonz war bereit, seine Waffe sofort einzusetzen, sollte es irgendwie erforderlich sein.
Da raschelte es links im Gebüsch. Augenblicklich drehte sich der Killer, suchte nach dem Gegner, und ein fast erleichtertes Lächeln spaltete seine Lippen, als er den »Gegner« erkannte.
Ein Fuchs huschte durch das Unterholz und rannte in Zickzack-Sprüngen vor ihm weg.
Der Killer atmete auf. Füchse singen nicht, sagte er sich und drehte sich wieder um. Leer lag die Mulde vor ihm. Jetzt musste sein Opfer kommen, sonst wurde es zu spät. Das Gewehr war zwar mit Infrarot ausgerüstet, sodass er auch im Dunkeln damit schießen und treffen konnte, aber er tötete lieber im Hellen, da konnte er auf Nummer sicher gehen.
Oder hatte man ihn mit falschen Informationen versorgt?
Brigadoon must die!
Fast hätte Koonz vor Wut aufgeschrien, als er abermals die traurige Melodie hörte. Sie erreichte seine Ohren, pflanzte sich durch sein Gehirn fort und brachte seine Nerven in Unordnung. Seine Hände wurden feucht. Auch sein Herzschlag hatte sich weiterhin verstärkt, ein Zeichen, dass die innere Unruhe bei ihm schlagartig wuchs. Der Killer war nervös.
Koonz verzog das Gesicht. Und plötzlich glaubte er, in der Mulde Gestalten zu sehen. Menschen, die sich bewegten. Geisterhaft, lautlos …
Zum ersten Mal nach Jahren spürte Koonz wieder eine Gänsehaut, die über seinen Rücken rann. Nie hatte er das Gefühl gekannt. Über andere Menschen hatte er immer gelacht, wenn sie davon sprachen, er selbst hatte das nicht gekannt. Bis zu dieser Minute. Ausgerechnet jetzt, wo er vor einem wichtigen Mord stand, der ihm sehr viel Geld bringen sollte, passierte es.
Brigadoon must die!
Da war der Gesang wieder. Und diesmal sogar lauter. Er glaubte, dass die seltsamen Sänger oder Geister sich sogar in seiner Nähe befanden, drehte sich im Kreis und stoppte abrupt. Er hatte etwas gehört. Ein fremdes Geräusch, eines, das überhaupt nicht in die Stille passte. Es war das Geräusch eines Automotors.
Sein Opfer kam. Der Killer atmete tief durch. Urplötzlich veränderte er sich. Jetzt war er wieder das lauernde Raubtier, nur darauf aus, sein Opfer zu töten. Vergessen war der Gesang, das Opfer hatte sich freiwillig in die Falle begeben.
Rasch nahm der Killer wieder seinen Platz ein, und er hörte, dass eine Wagentür hart zugeschlagen wurde. Bald würde er kommen. Er, das war Horace F. Sinclair!
***
Der ehemalige Rechtsanwalt Horace F. Sinclair hatte zahlreiche Hobbys. Er war so beschäftigt wie früher, und an einen langweiligen Lebensabend war bei ihm gar nicht zu denken. Ein engagierter Mann, der...
| Erscheint lt. Verlag | 19.4.2016 |
|---|---|
| Reihe/Serie | John Sinclair Sonder-Edition |
| Verlagsort | Köln |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Horror |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | 2017 • 2018 • Abenteuer • alfred bekker • Bastei • Bestseller • blutig • Clown • Dämon • Dämonenjäger • dan-shocker • Deutsch • eBook • E-Book • eBooks • Extrem • Fortsetzungsroman • Frauen • Geisterjäger • grusel-geschichten • Gruselkabinett • Grusel-Krimi • Gruselroman • Grusel-Roman • Horror • Horror Bücher ab 18 • Horror-Roman • horrorserie • horror thriller • Horror-Thriller • Jason Dark • Julia-meyer • Kindle • Krimi • Kurzgeschichten • larry-brent • Lovecraft • Macabros • Männer • morland • neue-fälle • Paranomal • professor-zamorra • Professor Zamorra • Psycho • Roman-Heft • Serie • Sinclair • Slasher • spannend • Splatter • Stephen King • Stephen-King • Steven King • Terror • Thriller • Tony-Ballard • Top • Zombies |
| ISBN-10 | 3-7325-2874-X / 373252874X |
| ISBN-13 | 978-3-7325-2874-5 / 9783732528745 |
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