Der Sommer, in dem wir das Leben neu erfanden (eBook)
390 Seiten
Insel Verlag
9783458744474 (ISBN)
<p>Fabio Genovesi, 1974 geboren, lebt in Forte dei Marmi. Nach Stationen als Radsporttrainer, Bademeister und Kellner schreibt er heute Romane, Essays und Drehbücher und arbeitet als Redakteur für den Corriere della Sera und Glamour. <em>Der Sommer, in dem wir das Leben neu erfanden</em> ist sein erster Roman im Insel Verlag.</p>
Hallo, ich bin Tages, und du?
Da ist dieser etruskische Bauer, der Löcher in ein Feld gräbt, und das macht er, eben weil er Etrusker ist, vor dreitausend Jahren, ohne Maschinen und den ganzen Kram, und der Arme plagt sich fürchterlich ab.
Dann gräbt er ein Loch aus Versehen tiefer als die anderen, und die Erde da unten bewegt sich plötzlich. Erst guckt eine Hand heraus, dann ein Arm, und am Ende kommt ein ganzes Kind zum Vorschein, ein kleines Kind mit weißen Haaren. Es springt heraus, stellt sich vor den Bauern und sagt: »Hallo, ich bin Tages, und du?«
Er antwortet nicht, atmet nicht und zittert so sehr, dass man nicht sagen kann, ob er zittert oder tanzt. Er macht den Mund auf, aber das Einzige, was er hervorbringt, ist ein Angstschrei, so laut, dass das ganze etruskische Volk ihn hört und angerannt kommt, um zu sehen, was los ist. Und es ist eben dieses Verrückte da los, das die Etrusker wirklich gesehen haben und das mir mein Bruder Luca erzählt hat. Und ich weiß, dass es absurd und unglaublich klingt, und doch glaube ich ganz fest daran.
Nur dass ich nun mal an alles glaube. Ich heiße Luna und bin dreizehn Jahre alt, und bis letztes Jahr habe ich noch an den Weihnachtsmann geglaubt. Am Anfang hat er mir sogar Angst gemacht. Denn diese Geschichte, dass ein fremder Mann nachts heimlich in die Wohnung kommt und einem viele Geschenke bringt, fand ich doch seltsam. Also, wenn dir einer etwas schenkt, dann will er dabei doch gesehen werden, oder? Dann bedankst du dich bei ihm und sagst ihm, wie lieb er ist, und er ist zufrieden. Der Weihnachtsmann dagegen kommt durch den Kamin, während die Leute schlafen, und dann haut er einfach wieder ab, und so verhält sich doch kein großzügiger Mensch, sondern ein Dieb. Also bin ich am nächsten Morgen, wenn alle anderen Kinder auf der Welt schnell nachschauen, was ihnen der Weihnachtsmann gebracht hat, immer die Zimmer abgegangen, um zu kontrollieren, ob er etwas geklaut hat.
Wie einmal, als ich mir von ganzem Herzen ein neues Fahrrad gewünscht hatte, ein blaues, das ich bei Santini im Schaufenster gesehen hatte, aber am Weihnachtsmorgen lag es nicht unter dem Baum. Stattdessen standen da Mama und Luca, sie waren ganz ernst und machten lange Gesichter, und Mama fing an zu erklären: »Tut mir wirklich sehr leid, Luna, aber dieses Jahr ist hart, und wir können uns kein …« Ich unterbrach sie sofort und sagte, dass es nicht ihre Schuld ist, ich hatte sowieso schon gewusst, dass es der Weihnachtsmann früher oder später schaffen würde, die Geschenke zu klauen, und wer weiß, was er jetzt mit meinem Fahrrad am Nordpol anstellte.
Normalerweise hat er mir aber immer irgendein Geschenk gebracht, und am Ende hatte ich ihn doch ein wenig lieb gewonnen. Bis letztes Jahr, als ich in der sechsten Klasse war und die Lehrerin uns am Tag vor den Weihnachtsferien eine Erörterung als Hausaufgabe gegeben hat. Das Thema war: Die großen und kleinen Enttäuschungen des Lebens: Was ich fühlte, als ich herausfand, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt.
Ich habe es in mein Heft geschrieben, habe es gelesen und noch einmal gelesen, dann habe ich mich umgeschaut, um herauszufinden, ob die anderen auch verwirrt waren oder nur ich. Aber nur ich war es.
»Entschuldigung, Frau Lehrerin, ich habe das nicht verstanden.«
»Was hast du nicht verstanden, Luna?«
»Na ja, also, wie meinen Sie das, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt? Das stimmt doch gar nicht, tut mir leid, aber das ist nicht wahr. Oder?«
Die Lehrerin hat nichts gesagt, meine Mitschüler auch nicht. Es war einen Augenblick lang so still, dass man die Flüche der Hausmeisterin am Kaffeeautomaten auf dem Gang gehört hat, dann ist die ganze Klasse in schallendes Lachen ausgebrochen, und sie haben mir schlimme Worte an den Kopf geworfen. Die Lehrerin hat gesagt: »Seid ruhig, oder ich schreibe euch allen ein ›ungenügend‹ ins Klassenbuch«, aber niemand hat auf sie gehört, und sie haben sogar noch angefangen, mich mit Papierkügelchen, Radiergummis und Stiften zu bewerfen, worauf ich aber nicht geachtet habe, denn vor mir sah ich nur den Weihnachtsmann, der sich von mir verabschiedete und für immer fortging. Er verschwand zusammen mit seinen Wichtelfreunden, dem Häuschen am Nordpol und den acht Rentieren seines Schlittens, Comet, Blitzen, Donner und … an die anderen Namen erinnere ich mich nicht mehr, aber wen juckt das schon, sie sind ja eh nicht echt, sondern Unsinn, der extra erfunden wurde, damit ich als Idiotin dastehe. Und das einzig Echte auf der Welt waren diese harten, kantigen Dinger, mit denen mich meine Mitschüler bewarfen.
Aber Tages ist ganz was anderes, Tages hat nichts mit dem Weihnachtsmann zu tun, denn ihn gab es tatsächlich. Sicher, die Geschichte von einem kleinen Kind mit weißen Haaren, das aus der Erde auf die Welt kommt, klingt vielleicht komisch, aber was heißt das schon, alles auf der Welt ist komisch. Ein Herr trifft eine Dame, steckt den Pimmel in sie, und neun Monate später wird aus ihrem Bauch ein Kind geboren: Ist so eine Geschichte etwa weniger komisch? Mir erscheint es ehrlich gesagt normaler, dass einer aus der Erde kommt, das machen Blumen und Pilze ja auch.
Und wenn jemand meint, dass die Sache mit dem Kind, das weiße Haare hat, unmöglich ist, dann würde das bedeuten, dass es mich genauso wenig gibt, wo ich doch genauso auf die Welt gekommen bin. Ich habe weiße Haare, weiße Haut und fast durchsichtige Augen, ich muss mich vor der Sonne in Acht nehmen, weil sie mich verbrennt, und das Wenige, das ich von der Welt erkenne, sieht seltsam aus. Aber deswegen bin ich keine erfundene Geschichte, ich bin ein Albino-Mädchen. Das kommt vor. Es gibt Albino-Vögel, Albino-Fische, Albino-Krokodile, Albino-Affen, Albino-Walfische, Albino-Schildkröten. Sogar Pflanzen können Albinos sein, sogar Blumen, das ist die normalste Sache der Welt. Wenn auch nicht für die Leute. Die beschweren sich immer, dass das Leben so gleichförmig und flach und langweilig ist, aber wenn dann mal jemand vorbeikommt, der ein kleines bisschen anders ist, dann erschrecken sie und regen sich auf. Wie meine Mitschüler, die denken, dass ich die Tochter des Teufels bin, oder ein Vampir, dass ich sie mit einem Fluch belegen kann oder sie mit diesem Zeug anstecke und sie plötzlich alle so bleich werden wie ich. Ich bin mir nicht sicher, was genau sie denken, ich weiß nur, dass es schlimm ist, wenn sie sich über einen lustig machen, weil man anders ist, aber noch schlimmer ist es, wenn sie Angst davor haben, sich über einen lustig zu machen, und sich fernhalten.
Kurz und gut, ich will mit alldem sagen, dass an der Geschichte von Tages nichts Merkwürdiges ist, Tages war einfach ein Albino-Junge, der eines Tages erschienen ist und die Etrusker angesprochen hat.
»Hallo Leute, ich bin gekommen, um euch beizubringen, wie ihr euer Schicksal lesen könnt«, sagt er. Und ich bin mir sicher, dass ihn alle anschauen, sich gegenseitig anschauen, dass sich einer meldet: »Entschuldigung Tages, aber warum hast du weiße Haare?«
Tages ist enttäuscht, er schlägt sich auf den Schenkel. »Verdammte Scheiße, ich komme bis hierher, um euch von eurem Schicksal zu erzählen, und ihr denkt über meine Haare nach?«
»Ja, weil die komisch sind.«
»Die sind überhaupt nicht komisch.«
»Doch. Die sind weiß. Das heißt, wenn du alt wärst, wäre das nicht komisch, aber so schon.«
Tages schüttelt den Kopf und antwortet nicht, aber zum Glück übernimmt das eine Frau in der Menge für ihn: »Wartet mal, Leute, ihr seid ungerecht. Meiner Meinung nach ist Tages nicht komisch. Er ist bloß ein Zwerg. Ein alter Zwerg, der aussieht wie ein Kind. Stimmt's?«
»Nein! Ich bin kein Zwerg, und ich bin nicht alt. Ich bin mit weißen Haaren auf die Welt gekommen, ist das ein Problem?«
»Nein, nein, wo denkst du hin. Aber, na ja, es ist schon sehr komisch.«
Tages senkt den Blick, er schaut auf das Loch im Feld, aus dem er gekommen ist. »Was für ein Volk von Dummköpfen, am liebsten würde ich wieder unter die Erde zurück und euch nichts beibringen. Ich hätte besser zu den Ägyptern oder den Babyloniern gehen sollen. Aber nun bin ich schon mal hier, also reicht es jetzt mit dem Quatsch, seid still, wir haben nicht viel Zeit. Das heißt, ich schon, weil ich unsterblich bin, aber ihr nicht, also hört mir gut zu.«
Tages holt tief Luft, dann beginnt er mit seinen Erklärungen. Und die Etrusker starren erst noch einen Moment weiter auf seine weißen Haare, doch dann sind seine Worte so interessant, dass sie anfangen, ihm wirklich zuzuhören, manche machen sich sogar Notizen. Tages spricht von Blitzen, Erdbeben und anderen seltsamen Dingen, die in der Welt geschehen, und er erklärt ihnen, dass das alles Zeichen sind, die der Himmel schickt. Er spricht vom Flug der Vögel, von Statuen, die Feuer fangen, und von Schafen, die ohne Beine geboren werden, und je mehr er erklärt, desto deutlicher wird, dass er den Durchblick hat. Und vielleicht hat er ja genau deshalb weiße Haare, weil er zwar ein Kind ist, aber weise wie ein alter Mann.
Allerdings einer von den Alten, die noch in Form sind, die mit dem Kopf dabei sind. Nicht wie mein Opa Rolando, der geglaubt hat, ein amerikanischer Soldat namens John zu sein. Mein Bruder Luca und ich haben ihn immer gefragt, warum er, wenn er Amerikaner ist, seine Sprache nicht kann, und er hat dann geantwortet, dass eine Bombe ganz in seiner Nähe explodiert ist und er davon noch unter Schock steht. Aber nicht mal das Wort Schock konnte er richtig amerikanisch aussprechen, er hat immer »Sok« gesagt. Und jeden Abend haben sich mein großer Bruder und ich dieselbe Geschichte angehört,...
| Erscheint lt. Verlag | 13.4.2016 |
|---|---|
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Chi manda le onde |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Schlagworte | 50plus • Best Ager • Buch für den Strand • Buch für den Urlaub • Chi manda le onde deutsch • Freundschaft • Generation Gold • Golden Ager • Italien • Liebe • Ligurisches Meer • Mittelitalien • Premio Strega Giovani 2015 • Rentner • Rentnerdasein • Roadtrip • Ruhestand • Senioren • Sommerbuch • Sommer-Lektüre • Sommerurlaub • Strand-Buch • Strandurlaub • Südeuropa • Toskana • Trauerbewältigung • Urlaub • Urlaubslektüre |
| ISBN-13 | 9783458744474 / 9783458744474 |
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