Die Walserin (eBook)
292 Seiten
Zytglogge (Verlag)
978-3-7296-2044-5 (ISBN)
Therese Bichsel Geb. 1956, aufgewachsen im Emmental. Studium der Germanistik und Anglistik in Bern. Längere Auslandaufenthalte in Paris und den USA. Lebt in Unterseen und in Bern, zwei erwachsene Söhne.
Therese Bichsel Geb. 1956, aufgewachsen im Emmental. Studium der Germanistik und Anglistik in Bern. Längere Auslandaufenthalte in Paris und den USA. Lebt in Unterseen und in Bern, zwei erwachsene Söhne.
I BARBARA
Lötschen, Hornung 1300
Ein dumpfer Knall. Brausen, Krachen. Ihr Traum zersplittert. Sie ist hellwach, versucht das Halbdunkel zu durchdringen. Conrad. Seine Augen sind geweitet, er hat sich auf dem Stroh aufgerichtet, horcht wie sie auf das Tosen, das immer lauter wird. Ein Hund heult auf in der Nachbarschaft. Er greift nach ihrer Hand und drückt sie so fest, dass es schmerzt.
Sturmluft fährt durch die Stube, ein ungeheurer Druck trifft das kleine Haus, dann ein Stoss. Das Haus ächzt in seinen Grundfesten. Conrads Fingernägel bohren sich in ihre Hand. Sie schreit auf vor Angst und Schmerz. Das Haus aber, dessen Stämme erst im vergangenen Jahr zusammengefügt und verstrebt wurden, birst nicht, jedenfalls nicht in diesem Augenblick.
Conrad ist aufgesprungen, er zieht sie hoch. Atemlos stehen sie an den Gucklöchern, die Lederhaut zur Seite geschoben. Die Schneemassen stürzen auf beiden Seiten am Haus vorbei. Sie glaubt Balken auszumachen, die vorbeigeschleudert werden. Und da – ist das nicht ein Arm, der aus der Flut herausragt und wieder verschwindet? Die Lawine treibt Bäume mit sich in einem letzten Schwall, ergiesst sich in die Tiefe, ins Bett der Lonza. Schneestaub erfüllt die Luft, dann ist es vorbei. Stille senkt sich übers Haus, über das Tal. Die übliche Stille der Nacht – wie wenn nichts geschehen wäre.
Barbara zittert. Sie weiss es in diesem Moment, dreht sich zu Conrad. Er hat sich aus der Erstarrung gelöst, versucht vergeblich die Aussentür zu öffnen, schlägt gegen das Holz, stösst mit seiner Schulter dagegen. Die Tür wird nicht aufgehen, nicht jetzt. Aber wenn im Frühjahr der letzte Schnee von den Dächern getropft ist und die Schneefelder im Tal oben geschmolzen sind, ist es Zeit zu gehen.
Sie sieht ein Bild vor sich. Der Prior segnet das Paar, das vor ihm kniet. Das war im vergangenen Herbst, in der Kapelle von Kippel. Sie war knapp sechzehn, die Väter hatten die Hochzeit abgemacht. Ihr war es recht gewesen – und der Vater froh, sie aus dem Haus zu haben. Da Conrad, der zweitjüngste von fünf Brüdern, in seinem Heimatdorf Lötschen nur wenig Boden erben wird, hatte ihnen sein Vater ein Stück Land zwischen Wiler- und Tännerbach am Talhang gegenüber abgetreten.
Giätrich heisst der kleine Weiler auf der Schattseite. Bis vor einigen Jahren duckten sich nur ein paar Stadel unter die Tannen und Lärchen am auslaufenden Hang. Nun sind ein paar neue Häuser entstanden, denn wo will man sonst hin, in Lötschen wird das Land unter den vielen Nachkommen in immer kleinere Äcker aufgeteilt.
Man sagt so einiges über Giätrich. Früher sollen die Schurtendiebe – kurzgewachsene, dunkle Gestalten mit furchterregenden Masken – von hier aus in Lötschen eingefallen sein. Man sagt, diese Leute seien von der Sonn- auf die Schattseite verdrängt worden, als die jetzigen Bauern über die Berge hierherzogen. Auf der Schattseite hätten sie Not gelitten und darum Raubzüge in die neuen Häuser auf der Sonnseite gemacht. Inzwischen sind die wilden Gesellen verschwunden, nur Steine ihrer Feuerstellen und einige Stämme ihrer Häuser sind geblieben. Conrad und Barbara haben sie für ihren Hausbau verwendet. Haben sie sich versündigt?
Conrad gibt sein nutzloses Poltern und Anrennen gegen die Tür endlich auf, lässt sich aufs Stroh sinken und schliesst die Augen. Barbara legt sich neben ihn, zieht die Decke über beide. Sie sind vom Schnee eingeschlossen, aber unversehrt. Sie schmiegt sich an ihn. Eine kleine Atemwolke ist vor ihrem Mund, als sie spricht. «Erinnerst du dich an die Worte des Priors in der Mitternachtsmette an Weihnachten?»
Er antwortet fast tonlos, die Augen noch immer geschlossen. «Im Namen des Herrn Peter von Turn hat er den Armen Land versprochen. Über die Schneeberge wandern müssten wir. Aber wir haben doch unser Haus hier auf der Schattseite.»
«Wir können dort unter den hohen Alpen auswählen, hat er gesagt.» Sie netzt die Lippen mit der Zunge. «Conrad, es geht nicht um Äckerchen und kleine Alpen wie hier im Tal. Wir werden ein grosses Stück Land für uns haben und ein neues Zuhause schaffen, für uns und unser Kind.»
Er reisst die Augen auf. «Unser Kind?»
«Das Blut blieb aus, schon zweimal. Mein Bauch wölbt sich ein bisschen. Das sind untrügliche Zeichen, sagt meine Schwester. Annamaria muss es wissen mit ihren drei Kindern.»
Freude zuckt über sein Gesicht, dann verschliesst es sich wieder. «Ich weiss noch nicht einmal, ob unser Vieh noch lebt – unser einziger Besitz. Wie willst du die Wanderung über die Lücke zwischen den Bergen überstehen, wenn du hochschwanger sein wirst?»
«Wir sind Ende Hornung. Das Kind wird im Herbst kommen, meint Annamaria. Dann sind wir längst drüben und haben uns eingelebt. Wir werden ein grösseres Haus bauen als dieses hier – an einem Ort, der sicher ist vor der weissen Gefahr. Wir sind verschont geblieben. Aber wir dürfen das Schicksal nicht herausfordern», sagt sie bestimmt. «In Giätrich haben wir keine Zukunft, Conrad, hier wächst kaum etwas, der Wind pfeift um unser Haus, der Schnee von den Bergen bedroht es im Winter, der Tännerbach im Sommer. Die Schurtendiebe zürnen, dass wir aus ihren Steinen und Stämmen neue Häuser bauten.» Ihr Ton ist beschwörend. «Bitte, Conrad. Nicht nur unser weltlicher Herr rät uns, drüben neu anzufangen, und gibt uns die Erlaubnis dazu. Das war ein Zeichen unseres obersten, geistlichen Herrn.»
Zweifel nagen an ihm. Sie wirft das Haar zurück, blickt ihm herausfordernd ins Gesicht. Barbara ist am vierten Tag des Christmonats geboren, ihre Eltern haben sie nach der tapferen, heiligen Barbara benannt. Der Name passt. Ein anderer wollte die Babe auch, hatte ihr Vater gesagt. Sie spricht nicht darüber, und es kümmert ihn nicht – der Vater hat sie ihm gegeben. Nach der Heirat sind sie nach Giätrich gezogen, weil die Kammern in seinem Elternhaus, die sie mit den Brüdern und deren Ehefrauen teilten, zu eng wurden. Der Vater, die Brüder und viele Leute aus dem Dorf haben geholfen, dieses Haus zu bauen. Einige runzelten die Stirn: «Nach Giätrich an den Schattenhang zieht man nicht, hier treiben die bösen Geister ihr Unwesen», hiess es. Sie haben Recht bekommen. Und nun will Babe weiterziehen. Land will sie und ein neues Haus, jenseits der Berge.
Man hat ihm gesagt, sie sei eigensinnig. Trotzdem wollte er sie und keine andere. Viele Jahre schon hat er sie beobachtet, wie sie, stolz, grossgewachsen, mit der Schwester durchs Dorf schritt. Am Brunnen krümmte sie sich nicht über die Wäsche wie die andern Frauen und Mädchen, sie rieb sie mit geradem Rücken, richtete sich zwischendurch auf, strich sich eine Strähne aus der Stirn. In der Kapelle setzte er sich immer so, dass er Barbara, die auf der Seite der Frauen zuäusserst sass, im Auge hatte. Dann schienen ihm die lateinischen Messen des alten Priors nicht gar so lang. Er musterte ihr dunkles, geflochtenes Haar, die glatte Stirn und gesenkten Lider, und eine grosse Ruhe überkam ihn. Und nun erwartet sie ein Kind. Die Lawine ein Zeichen? Vielleicht.
Er legt den Arm um Barbara. Ihre Züge zeichnen sich im frühen Morgenlicht deutlicher ab, sie schaut ihn an, und seine Worte formen sich wie von selbst. «Wir gründen drüben einen neuen Hausstand», erklärt er. «Ich bin bereit, unser Tal zu verlassen. Ich tue es für unseren Herrn. Und für dich, Babe, für unser Kind.»
«Danke, Conrad.»
Stimmen sind zu hören, Conrads Vater ruft nach seinem Sohn, seine Stimme zittert. Conrad läuft zum Guckloch, ruft dem Vater zu, dass sie unversehrt sind.
«Wir graben euch aus, habt Geduld» – die Stimme von Walter, seinem jüngsten Bruder. Conrad hört das Stechen und Kratzen von Schaufeln.
Von neuem packt ihn der Zweifel. Soll er sie alle verlassen, Lötschen verlassen? Es gibt andere Täler, der Prior erzählt manchmal davon, wenn er mit dem Lateinischen fertig ist und in ihrer Sprache redet. Er, Conrad, ist noch nie durch die Lonzaschlucht ins grosse Tal hinuntergestiegen. Es gab keinen Grund dafür. Die Berge besteigt man bis zur Höhe der Alpen, die man im Sommer bestösst, wenn der Schnee zurückgewichen ist. Und nun soll er mit Sack und Pack über die versteckte Lücke zwischen den Schneebergen hinten im Tal und nie mehr heimkehren?
Er springt hoch und geht zur Tür, dreht Barbara den Rücken zu, horcht. Erst als die Stimmen lauter werden, die Schaufeln gegen die Tür stossen und sie endlich aufgeht, der Vater im Türrahmen steht, wird ihm wohler. Er hat vorhin unter dem Eindruck der Lawine, die sie fast unter sich begraben hat – er bekreuzigt sich –, überstürzt seine Zustimmung gegeben. Jetzt aber dringt helles Tageslicht ins Haus, das standgehalten hat, der Vater und die Brüder schlagen ihm auf die Schulter, er ist zurück im Leben, wird mit ihnen die andern Häuser ausgraben. Er schaut zu Barbara. Sie starrt hinaus auf den Schnee.
Barbara geht auf den Wegen, die durch die Schneemauern links und rechts noch enger geworden sind, zwischen den von der Sonne dunkelbraun gebrannten Häusern hindurch, manchmal rutscht sie mit ihren um die Füsse gebundenen Schuhen, fängt sich auf. Der Himmel ist bedeckt, aber es schneit nicht mehr, nachdem in den vergangenen Tagen fast ununterbrochen grosse Flocken aus den Wolken fielen. Wie Decken haben sie sich über die Felder, Wiesen und Wälder gelegt, alle Geräusche erstickt. Im Dorf türmt sich der Schnee zu grossen Haufen.
Die Leute im Dorf grüssen sie mit Ehrfurcht. Die Barbara und der Conrad haben überlebt. Gott hat sie am Leben gelassen. Das hat einen Sinn. Den Paul und die Cresentia hat er nicht verschont, vielleicht haben sie gesündigt, wer weiss es schon....
| Erscheint lt. Verlag | 1.4.2016 |
|---|---|
| Verlagsort | Basel |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | 1300 • 18. • 18. Jahrhundert • 19. • 19. Jahrhundert • 20. • 20. Jahrhundert • Auswanderung • Emmental • Georgien • Jahrhundert • Kaukasus • Lötschental • Mittelalter • Revolution • Russische • Russische Revolution • Verfolgung • Walser |
| ISBN-10 | 3-7296-2044-4 / 3729620444 |
| ISBN-13 | 978-3-7296-2044-5 / 9783729620445 |
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