John Sinclair 1969 (eBook)
Bastei Lübbe (Verlag)
978-3-7325-2771-7 (ISBN)
Ich hatte im Leben schon viele ungewöhnliche Personen kennengelernt, aber man erlebte doch immer wieder Überraschungen.
Diesmal hieß die Überraschung Diana. Sie war eine Märchenerzählerin. Aber das war nur die halbe Wahrheit, denn in Wirklichkeit war sie etwas ganz anderes. Sie war die Vampirfee ...
Luisa schluckte. Erst danach schaute sie die Märchenfrau an, die ihr Buch gesenkt hatte. An diesem Tag war nur Luisa zu ihr gekommen, um sich ein Märchen anzuhören. Eigentlich war sie mit ihren zehn Jahren zu alt dafür, aber es zog sie immer wieder zu Diana hin, die so tolle Märchen erzählen konnte. Oft genug handelte es sich auch um wahre Geschichten. Jedenfalls, wenn man Diana glaubte.
Das Buch lag noch auf ihren Knien, als Diana erneut den Kopf hob und Luisa anschaute. Auch das Mädchen sah in das Gesicht der Frau. Es war ein bleiches oder blasses Gesicht mit dunklen Augen, die tief in den Höhlen lagen. Das Haar schimmerte schwarz, aber es hatten sich auch ein paar graue Fäden hineingeschmuggelt.
Luisa spürte es kalt über ihren Rücken rinnen. Sie kannte den Grund. Der Schauer war entstanden, weil sie eine gewisse Furcht empfand, und das vor Dianas Anblick. Es war ihr noch nie passiert, und plötzlich sah sie es als komisch an, dass nur sie sich im Zimmer aufhielt. Die anderen Stühle waren unbesetzt, etwas stimmte nicht.
Lag es am Ausdruck der Augen? Sie sahen starr aus, aber auch künstlich, und das war Luisa neu. Sie wusste nicht, wie alt die Märchentante war. Manchmal wirkte sie sehr alt. Dann wiederum viel, viel jünger. An diesem Tag wirkte sie nicht nur alt, sondern auch unheimlich. Ja, das fiel ihr ein.
Es war still geworden. Luisa nahm sich die Zeit, über die Märchenfrau nachzudenken. Sie war schon einige Male bei ihr gewesen, und es kam ihr so vor, als hätte Diana immer ein anderes Gesicht aufgesetzt. Es kam aber auch darauf an, welche Geschichten sie las. Es gab die harmlosen, bei denen die jungen Zuhörerinnen sogar lachten, aber es gab auch die unheimlichen und gefährlichen, wie die Geschichte der Vampirfee, die so gern Blut trank.
Luisa musste sich schon zusammenreißen, bevor sie sprechen konnte.
»Ich muss jetzt gehen.«
»Ja, tu das.«
»Draußen wird es bald dunkel, und man will, dass ich noch vor dem Abend zu Hause bin.«
Diana nickte. »Das sollst du auch. Ich bin sogar froh, denn ich habe nicht damit gerechnet, dass mich meine anderen Zuhörerinnen im Stich lassen würden. Sorry, das es so gekommen ist.«
»Macht doch nichts.« Luisa stand auf. Sie sah, dass ein Augenpaar sie beobachtete, und das wollte sie nicht. Deshalb wich sie dem Blick aus. Sie ging schnell bis zum Ausgang des kleinen Versammlungsraums, den Diana benutzen durfte.
»Luisa!«
Die Kleine zuckte zusammen, als sie die Stimme hörte. Sie hielt an und drehte sich um.
»Auf Wiedersehen. Bye, bye, meine Kleine. Ich denke, dass wir uns bald erneut sehen.«
»Klar. Ich lasse Sie nicht im Stich.«
»Das ist gut. Es ist schön, wenn man Menschen hat, auf die man sich verlassen kann.«
»Klar. Darf ich jetzt gehen?«
»Natürlich. Aber gib auf dich acht.«
»Klar, das mache ich.«
Sie ging, und sie lief recht schnell durch den Flur, um die Haustür zu erreichen. Mit beiden Händen zog sie die Tür auf. Kalte Winterluft wehte ihr entgegen.
Es hatte auch geschneit, und über dem Ort lag die weiße Schicht wie Puderzucker. Ihr Bike stand neben dem Haus. Die dicke Jacke hatte sie angezogen und zog den Reißverschluss jetzt zu. Danach schaute sie in den Himmel.
Es war noch nicht dunkel geworden. Aber die grauen Wolken lagen wie eine Schicht hoch über ihr. Es konnte durchaus sein, dass sie in der Nacht eine Schneelast abladen würden. Luisa hatte nichts gegen den Schnee, aber nicht, wenn sie unterwegs war. Da brauchte sie ihre freie Fahrt und hoffte, dass es so blieb, denn sie wohnte nicht eben um die Ecke. Sie musste schon eine Strecke fahren und das auch durch einen Park, der recht einsam war. Es war eine Abkürzung, und es gab auch keine Probleme, wenn sie die im Hellen nahm.
Sie stieg auf ihr Bike. Irgendwie war sie froh, von diesem Ort wegzukommen. Jetzt freute sich Luisa darauf, nach Hause zu kommen und damit auch ins Warme …
***
Carlotta, das Vogelmädchen, das gar nicht so aussah, wie der Name sagte, hob die Tasse mit dem Tee mit beiden Händen hoch und trank das heiße Getränk in kleinen Schlucken. Sie saß allein in der Küche. Die Tierärztin Maxine Wells, ihre Ziehmutter, war noch voll in ihrer Praxis beschäftigt, und das würde auch noch andauern, denn sie war für einen Spätdienst eingeteilt worden.
Es war Winter.
Das neue Jahr hatte begonnen. Und dieser Winter war auch bis Schottland gekommen. Er hatte die Stadt Dundee ebenfalls erreicht, aber keine gnadenlose Kälte gebracht. Dieser Winter war allgemein recht warm. Die vielen Niederschläge fielen als Regen, und da hatte es im Land starke Überschwemmungen gegeben.
Dundee war davon verschont geblieben. Und auch von den nachfolgenden Schneefällen war die Stadt nicht betroffen. Es hatte nur sehr wenig geschneit, da hatte es gerade für eine dünne Schicht gereicht.
Da die Stadt am Meer lag, fielen die Temperaturen nicht so weit nach unten wie im Innern des Landes, und Carlotta, die durch das Fenster schaute, machte sich ihre eigenen Gedanken.
Der Winter war keine gute Zeit für sie. Vor allen Dingen keine gute Zeit, um zu fliegen. Es war kalt. In der Höhe oft zu kalt. Da reichte auch eine warme Kleidung nicht aus. Wenn Carlotta flog, dann immer nur für kurze Zeit und nicht wie im Sommer, wenn sie auf ihren Ausflügen durch die Luft weite Strecken hinterließ.
Aber ganz aufgeben wollte sie das Fliegen nicht. Es war ihr Jogging, und sie wollte nicht einrosten. Ein paar Flüge musste sie einfach durchziehen, und die begrenzte sie auch zeitlich.
Die Tasse Tee war leer bis auf einen Rest, und den trank Carlotta nicht mehr. Sie kippte ihn in das Becken der Spüle, sah dann noch mal durch das Fenster, wobei sie den Himmel absuchte, was für sie sehr wichtig war.
Es schneite und es regnete nicht. Nur die grauen Wolken lagen sehr tief, aber das störte sie nicht.
Ja, bei diesem Wetter konnte sie einen kurzen Flug wagen. Etwas Bewegung tat ihr gut.
Maxine Wells wollte sie nicht informieren und sie auch nicht stören. Maxine stand voll im Stress, und Carlotta kannte diese langen Arbeitstage.
Sie holte ihren Mantel vom Haken und streifte ihn über. Das Kleidungsstück war nur vorn geschlossen. An der Rückseite befand sich eine Öffnung. Die musste auch sein, damit die Flügel des Vogelmädchens genügend Platz hatten.
Bisher hatten Maxine Wells und sie es geheim halten können, welch ein ungewöhnlicher Mensch sie war. Es gab nur wenige Eingeweihte. Unter ihnen befand sich auch ein Mann namens John Sinclair, der ihr Freund war. Leider wohnte er nicht in Dundee, sondern in London.
Das Vogelmädchen ging die paar Schritte bis zur Haustür. Sie öffnete und schaute in die Leere des Vorgartens hinein. Die Praxis lag in einem Anbau, ein Stück weiter rechts.
Dort parkten einige Autos, die den Besuchern gehörte. Das Vogelmädchen behielt sie im Auge. Sie wollte nämlich nicht, dass jemand ihren Start sah.
Die Zeit war günstig.
Zwei, drei Schritte lief sie vor, dann falteten sich in ihrem Rücken die Flügel auf und sorgten dafür, dass Carlotta in die Höhe steigen konnte. Schon bald hielten die grauen Wolken sie wie Tücher umschlungen, und sie war vom Boden her nicht mehr zu sehen …
***
Der Ort, in dem Luisa lebte, hieß Dronley. Den kannte kein Mensch. Wenn jemand sie fragte, wo sie wohnte, gab es nur eine Antwort für sie. Und die lautete Dundee.
Dabei hatte sie nicht mal gelogen, denn Dronley hätte auch ein Vorort von Dundee sein können. Irgendwie war er das auch. Die Entfernung betrug gerade mal drei Kilometer. Beide Orte waren mit einer Straße verbunden, die leider recht viel befahren war. Das passte Luisa nicht. Sie mied die Straße und fuhr einen Weg, der nur den Einheimischen bekannt war. Er führte auch nach Dundee, aber abseits der normalen Straße. Zu beiden Seiten der Strecke hatte sich die Natur ausbreiten können. Buschwerk, Gras und halbhohe Bäume bildeten den Mischmasch. So war der Weg auch schlecht einsehbar.
Recht eben war er auch nicht, und so war es für Luisa kein Vergnügen, ihn zu fahren. Erst im Park ging es besser. Der war auch angelegt worden als kleines Erholungsgebiet. Es gab einen Teich und einen kleinen Spielplatz. Bänke waren auch aufgestellt worden, um diese Jahreszeit aber leer.
Luisa Miller fuhr gern durch den Park. Da hörte die holprige Unterlage auf, und sie konnte normal über einen glatten Boden fahren. Später sah es dann anders aus.
Der Grüngürtel um sie herum lichtete sich. Jetzt lag der Spielplatz vor ihr, und sie sah mit einem Blick, dass er leer war. An den Geräten hielt sich niemand auf und an den Ufern des kleinen Teichs auch nicht. Der Sand wirkte wie gefroren, und die Geräte auf dem Platz erinnerten an altes Turngerät, das niemand mehr haben wollte. Das sah dann im Frühling anders aus. Jetzt aber war der Spielplatz nur verlassen.
War er das wirklich?
Luisa hatte damit gerechnet, doch plötzlich sah sie die Gestalt, die wie aus dem Nichts erschienen war, aber tatsächlich hinter den Geräten gelauert haben musste.
Schon beim ersten Blick sah die Bikerin, dass diese Gestalt nicht in den üblichen Rahmen passte. Sie war dunkel gekleidet, ihr Gesicht sah Luisa nicht. Und plötzlich spürte sie die Umklammerung in der Höhe des Herzens. Es war das Gefühl der Angst, das sie plötzlich erwischt hatte. Der Grund war klar, es ging um die dunkle Gestalt, die ihr nicht geheuer war.
So schnell wie möglich wollte sie den Park hinter sich lassen und trat kräftiger in die...
| Erscheint lt. Verlag | 5.4.2016 |
|---|---|
| Reihe/Serie | John Sinclair |
| Verlagsort | Köln |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Horror |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | blutig • Clown • Gruselroman • Horror • Horror Bücher ab 18 • horror thriller • Jason Dark • Lovecraft • Paranomal • Sinclair • Slasher • Splatter • Stephen King • Steven King • Zombies |
| ISBN-10 | 3-7325-2771-9 / 3732527719 |
| ISBN-13 | 978-3-7325-2771-7 / 9783732527717 |
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