Am Ende des nächsten Jahrtausends steht die Menschheit vor einem tiefgreifenden Umbruch. Sie hat nicht nur die Grenzen ihres Heimatplaneten hinter sich gelassen und das Sonnensystem bevölkert, sondern auch die Beschränkungen des eigenen Körpers überwunden: von Geburt an ist jeder Mensch Teil eines gigantischen virtuellen Netzes. Doch der vermeintliche Fortschritt erweist sich als äußerst brüchig, als aus den Tiefen des Alls eine Katastrophe droht, die die Zivilisation in einem Schlag vernichten könnte – wenn sie nicht den nächsten Schritt vollbringt und den letzten Rätseln des Universums auf die Spur kommt.
Greg Egan wurde am 20. August 1961 in Perth, Australien geboren. Er machte seinen Bachelor in Mathematik an der University of Western Australia und arbeitete danach als Programmierer. 1983 veröffentlichte er seinen ersten Roman, mit Quarantäne gelang ihm 1991 der internationale Durchbruch, sodass er sich seither hauptberuflich dem Schreiben widmet. Er befasst sich in seinen Romanen und Kurzgeschichten vor allem mit mathematisch-naturwissenschaftlichen Themen und zeichnet sich vor allem durch sein beeindruckendes Fachwissen in diesen Bereichen aus. Greg Egan wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem erhielt er den Kurd Lasswitz Preis, den Hugo Award und mehrere Seiun Awards. Er lebt und arbeitet in Perth.
2 – Wissenssuche
Konishi-Polis, Erde
23 387 281 042 016 KSZ
18. Mai 2975, 10:10:39.170 WZ
»Womit hast du Probleme?«
Radiyas Icon war ein fleischloses Skelett, das aus Ästen und Zweigen bestand, während der Schädel aus einem knorrigen Wurzelstock geschnitzt schien. Heine Privatlandschaft war ein Eichenwald. Sie trafen sich immer auf derselben Lichtung. Yatima war sich nicht sicher, ob Radiya viel Zeit hier verbrachte oder ob hie völlig in abstrakte mathematische Räume abtauchte, wenn hie arbeitete, doch die komplexe, zufällige Unordnung des Waldes ergab einen erstaunlich harmonischen Hintergrund für die spartanischen Objekte, die sie beschworen hatten, um sie zu erkunden.
»Die Raumkrümmung. Ich verstehe immer noch nicht, woher sie kommt.« Yatima erschuf eine durchscheinende Kugel, die in Brusthöhe zwischen hie und Radiya schwebte und deren Oberfläche von einem halben Dutzend schwarzer Dreiecke bedeckt war. »Wenn man mit einer Mannigfaltigkeit beginnt, müsste man dann nicht jede beliebige Geometrie darauf anwenden können?« Eine Mannigfaltigkeit war ein Raum, der nichts außer Dimension und Topologie besaß – keine Winkel, keine Entfernungen, keine parallelen Geraden. Während hie sprach, streckte und beugte sich die Kugel, wodurch die Seiten der Dreiecke verzerrt wurden. »Ich dachte, die Krümmung würde auf einem ganz neuen Niveau existieren, auf einer neuen Menge von Regeln basieren, die man nach Belieben formulieren kann. Also könnte man überall eine Krümmung von null wählen, wenn man wollte.« Hie glättete alle Dreiecke zu flachen, völlig ebenen Figuren. »Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Es gibt einfache zweidimensionale Mannigfaltigkeiten, zum Beispiel eine Kugeloberfläche, bei denen ich nicht erkenne, wie man die Geometrie abflachen könnte. Aber ich kann auch nicht beweisen, dass es unmöglich ist.«
»Was ist mit einem Torus?«, fragte Radiya. »Kannst du eine euklidische Geometrie über einen Torus legen?«
»Zuerst konnte ich es nicht. Aber dann habe ich einen Weg gefunden.«
»Zeig ihn mir.«
Yatima ließ die Kugel verschwinden und schuf einen Torus von etwa einem Delta Durchmesser und einer Höhe von einem Viertel Delta. Die weiße Oberfläche war mit einem Muster aus roten Meridianen und blauen Längenkreisen bedeckt. Hie hatte in der Bibliothek ein Standardwerkzeug gefunden, mit dem sich die Oberfläche jedes Objekts als Landschaft behandeln ließ. Es passte alles dem entsprechenden Maßstab an, zwang hypothetische Lichtstrahlen, der Geodäsie der Oberfläche zu folgen, und fügte eine leichte Dicke hinzu, damit es nicht notwendig war, dass der Beobachter ebenfalls zweidimensional wurde. Yatima gab Radiya höflicherweise die Adresse, damit hie hie folgen konnte, und sprang in die Landschaft des Torus.
Sie standen nun am äußeren Rand – am ›Äquator‹ des Torus – und blickten nach ›Süden‹. Da die Lichtstrahlen an der Oberfläche klebten, schien die Landschaft unbegrenzt, obwohl Yatima in Richtung des kurzen Umfangs deutlich die Rückseiten von Radiyas und heinem eigenen Icon sehen konnte, während hie eine doppelt so weit entfernte Version Radiyas durch die Lücke zwischen ihnen beiden erkannte. Die Waldlichtung war nun nicht mehr zu sehen. Über ihnen herrschte Finsternis.
Wenn man geradeaus nach Süden sah, war die Perspektive nahezu linear, wo die roten Meridiane rings um den Ring in einem fernen Fluchtpunkt zusammenzulaufen schienen. Doch im Osten und Westen wirkte es, als würden die blauen Längengrade – die in der Nähe fast gerade und parallel zu verlaufen schienen – extrem auseinanderweichen, wenn sie sich einer kritischen Entfernung näherten. Lichtstrahlen, die den Torus entlang des äußeren Randes umliefen, wurden gebündelt, als wären sie durch eine Vergrößerungslinse fokussiert, und zwar an dem Punkt, der ihrem Ausgangspunkt genau gegenüberlag. Deshalb überlagerte das extrem vergrößerte Bild eines winzigen Punktes auf dem Äquator, der genau auf der halben Strecke des Torusumfanges lag, das Blickfeld und verdrängte alles, was nördlich oder südlich davon lag. Jenseits dieser Marke liefen die blauen Linien wieder zusammen und ergaben für eine Weile so etwas wie eine normale Perspektive, bevor sie einen vollen Kreis bildeten und sich der Effekt wiederholte. Doch diesmal wurde die Sicht durch ein breites Band aus Purpurrot mit einem schmalen schwarzen Oberrand versperrt, das sich über den Horizont erstreckte: Yatimas eigenes, durch die Krümmung verzerrtes Icon. Auch ein grün-brauner Streifen war sichtbar, der teilweise den rot-schwarzen überlagerte, wenn Yatima den Blick ganz von Radiya abwandte.
»Die Geometrie dieser Anordnung ist offensichtlich nicht-euklidisch.« Yatima zeichnete ein paar Dreiecke auf die Oberfläche zu ihren Füßen. »Die Winkelsumme eines Dreiecks hängt davon ab, wo man es platziert. Hier in der Nähe des äußeren Randes ist sie größer als 180 Grad, am Innenrand dagegen kleiner als 180 Grad. Dazwischen wird die Abweichung nahezu ausgeglichen.«
Radiya nickte. »Gut. Und wie gleichst du sie überall aus – ohne die Topologie zu verändern?«
Yatima schickte dem Landschaftsobjekt mehrere Etiketten, worauf der Anblick der Umgebung transformiert wurde. Ihre verwischten Icons am Horizont im Osten und Westen begannen zu schrumpfen, und die blauen Längengrade streckten sich. Im Süden dehnte sich der enge Bereich der linearen Perspektive rapide aus. »Wenn man einen Zylinder zu einem Torus krümmt, werden die Linien, die parallel zur Achse des Zylinders verlaufen, zu Kreisen verschiedener Größe gebeugt. Genau das stellt die eigentliche Krümmung dar. Wenn man wollte, dass all diese Kreise die gleiche Größe bewahren, gäbe es keine Möglichkeit mehr, sie auf Abstand zu halten. Bei einem solchen Vorgang würde man den Zylinder plattdrücken. Aber das gilt nur für drei Dimensionen.«
Die Gitterlinien waren nun überall völlig gerade, und die Perspektive war vollkommen linear. Sie schienen jetzt auf einer endlosen Ebene zu stehen, während nur die wiederholten Bilder ihre Icons darauf hinwiesen, dass es sich anders verhielt. Die Dreiecke hatten sich ebenfalls begradigt. Yatima stellte von einem zwei identische Kopien her und ordnete sie zu einem Fächer an, um zu demonstrieren, dass die Winkelsumme 180 Grad ergab. »In topologischer Hinsicht hat sich überhaupt nichts verändert; ich habe keine Schnitte oder Verbindungen in die Oberfläche gemacht. Der einzige Unterschied ist …«
Hie sprang zur Waldlichtung zurück. Der Torus schien sich in ein kurzes zylindrisches Band verwandelt zu haben. Die großen blauen Längenkreise waren nun alle gleich groß – doch die kleineren roten Kreise, die Meridiane, wirkten, als wären sie zu geraden Linien gestreckt worden. »Ich habe jeden Meridian um neunzig Grad gedreht, und zwar in eine vierte räumliche Dimension. Sie wirken nur deshalb so flach, weil wir sie von der Kante sehen.« Yatima hatte diesen Trick mit einem Analogon von weniger Dimensionen geübt, indem hie das Band zwischen zwei konzentrische Kreisen platziert und es um 90 Grad aus der Ebene gedreht hatte, so dass es senkrecht stand. Die zusätzliche Dimension schuf den nötigen Raum, damit das gesamte Band einen gleichmäßigen Radius hatte. Mit einem Torus ging es im Prinzip genauso, jeder Längenkreis konnte den gleichen Radius haben, solange es unterschiedliche ›Höhen‹ in einer vierten Dimension gab, um sie voneinander zu isolieren.
Yatima färbte den gesamten Torus in abgestuften Grünschattierungen ein, um die versteckte vierte Koordinate anzudeuten. Die inneren und äußeren Oberflächen des ›Zylinders‹ hatten nur am oberen und unteren Rand dieselbe Farbe, wo sie sich in der vierten Dimension trafen. An allen anderen Stellen bewiesen die unterschiedlichen Farbtöne, dass sie voneinander getrennt waren.
»Sehr hübsch«, sagte Radiya. »Kannst du dasselbe auch mit einer Sphäre machen?«
Yatima verzog verzweifelt das Gesicht. »Ich habe es versucht! Intuitiv betrachtet scheint es unmöglich zu sein – aber dasselbe hätte ich auch vom Torus behauptet, bevor ich den richtigen Trick fand.« Noch während hie sprach, schuf hie eine Kugel, um sie zu einem Würfel zu deformieren. Nicht gut, dachte hie – damit verschob man lediglich alle Krümmungen in die Singularitäten der Ecken, ohne sie verschwinden zu lassen.
»Ich gebe dir einen Hinweis«, sagte Radiya und verwandelte den Würfel in eine Kugel zurück und zeichnete drei schwarze Großkreise auf die Oberfläche: einen Äquator und zwei vollständige Meridiane, die um 90 Grad gegeneinander versetzt waren.
»In was habe ich die Oberfläche aufgeteilt?«
»In Dreiecke. Acht Dreiecke.« Vier auf der nördlichen Hemisphäre und vier auf der südlichen.
»Und was immer du mit der Oberfläche anstellst – ob du sie beugst, streckst oder sie in tausend weitere Dimensionen verdrehst – du wirst immer in der Lage sein, sie auf dieselbe Weise aufzuteilen, nicht wahr? Acht Dreiecke zwischen sechs Punkten, richtig?«
Yatima experimentierte und deformierte die Kugeloberfläche in verschiedene Strukturen. »Ich glaube, du hast Recht. Aber wie sollte mir das helfen?«
Radiya gab keine Antwort. Yatima machte das Objekt transparent, damit hie alle Dreiecke gleichzeitig sehen konnte. Sie bildeten ein grobes Gitter, ein Netz mit sechs Knotenpunkten, einen geschlossenen Beutel aus Fäden. Hie begradigte alle zwölf Linien, wodurch die Dreiecke tatsächlich flacher wurden, aber gleichzeitig wurde die Kugel zu einem Oktaeder transformiert, was genauso ungeeignet wie ein Würfel war. Jede Dreiecksfläche war...
| Erscheint lt. Verlag | 28.3.2016 |
|---|---|
| Übersetzer | Bernhard Kempen |
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Diaspora |
| Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
| Schlagworte | Bewusstseinsupload • Cyberspace • diezukunft.de • eBooks • Ferne Zukunft • Greg Egan |
| ISBN-10 | 3-641-19154-8 / 3641191548 |
| ISBN-13 | 978-3-641-19154-2 / 9783641191542 |
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