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Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
208 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31541-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung -  Kamel Daoud
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Dieser Roman gibt dem namenlosen Toten aus »Der Fremde« von Camus ein Gesicht Ein Roman aus Algerien, der um die Welt geht: in Frankreich ein Riesenbestseller, in den USA und England als literarische Sensation gefeiert, jetzt in deutscher Übersetzung. Die Geschichte des namenlosen Arabers aus Camus' weltberühmtem Roman »Der Fremde« - erzählt von dessen Bruder. Der alte Mann, der Nacht für Nacht in einer Bar in Oran seine Geschichte erzählt, ist der Bruder jenes Arabers, der 1942 von einem gewissen Meursault am Strand von Algier erschossen wurde - in einem der berühmtesten Romane des 20. Jahrhunderts. 70 Jahre später, mit all dem Ärger, der Angst und Frustration eines Lebens im Schatten dieses Todes, gibt der alte Mann seinem Bruder seinen Namen zurück. Der Araber aus Camus' Roman »Der Fremde« bekommt so eine Identität und eine Geschichte. Eine Geschichte, die untrennbar mit der Algeriens verknüpft ist und doch gleichzeitig so berührend und persönlich, dass man das Buch nicht mehr aus der Hand legen kann. Ein großer Roman darüber, wie die Vergangenheit unsere Gegenwart prägt, und über die ungebrochene Kraft der Literatur, eine tiefere Erkenntnis, eine verborgene Wahrheit ans Licht zu bringen. Das Buch gilt jetzt schon als Klassiker - gleichwertig zu Camus' Roman: »Ein großartiger Roman. In Zukunft wird man ?Der Fremde? und ?Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung? nebeneinander lesen.« Le monde des livres

Kamel Daoud, Jahrgang 1970, arbeitete lange als Journalist für den Quotidien d'Oran und andere Zeitungen. Heute lebt er als Schriftsteller mit seiner Familie in Oran. Für seinen ersten Roman »Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung« wurde er von der Kritik gefeiert und unter anderem mit dem Prix Goncourt du Premier Roman ausgezeichnet. Das Buch wurde in 30 Sprachen übersetzt.

Kamel Daoud, Jahrgang 1970, arbeitete lange als Journalist für den Quotidien d'Oran und andere Zeitungen. Heute lebt er als Schriftsteller mit seiner Familie in Oran. Für seinen ersten Roman »Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung« wurde er von der Kritik gefeiert und unter anderem mit dem Prix Goncourt du Premier Roman ausgezeichnet. Das Buch wurde in 30 Sprachen übersetzt. Claus Josten, geboren 1958, Studium u.a. in Duisburg, Straßburg und Paris. Zunächst Journalist, von 1991 bis 2005 Redakteur in der Gründungs-Équipe der Arte-Themenabende/»Das kleine Fernsehspiel« beim ZDF. Seit 2006 systemischer Coach im Maghreb, in Frankreich und Köln, Übersetzer und (Fernseh)-Autor.

I


M’ma lebt – immer noch.

Sie sagt zwar nichts mehr, aber sie hätte einiges zu erzählen. Anders als ich. Ich kann mich an fast nichts mehr erinnern, so oft wie ich diese Geschichte schon erzählt habe.

Man muss dazu sagen, dass sich diese Geschichte vor mehr als einem halben Jahrhundert abgespielt hat. Sie hat sich wirklich ereignet, und es ist darüber viel geredet worden. Die Leute reden immer noch darüber, sprechen dann aber – ganz schamlos – nur von einem einzigen Toten, in Wirklichkeit aber waren es zwei Tote. Ja, zwei. Wie kam es zu dieser Unterschlagung? Ganz einfach: Der eine konnte so erzählen, dass seine Tat in Vergessenheit geraten ist, während der andere ein armer Analphabet war, den Gott offenbar nur geschaffen hatte, damit er eine Kugel abbekommt und wieder zu Staub wird – ein anonymer Mensch, dem es zu Lebzeiten nicht einmal vergönnt war, auch nur einen Namen zu bekommen.

Ich sag’s dir gleich: Der zweite Tote, der Ermordete, ist mein Bruder. Von ihm ist nichts mehr übrig. Es gibt niemanden mehr außer mir, der für ihn sprechen kann, während ich hier in dieser Bar sitze und auf das Beileid warte, das mir niemand jemals aussprechen wird. Du wirst lachen, meine bescheidene Rolle ist es, hier den Erzähler in einem sich leerenden Theater zu geben. Das ist übrigens der Grund dafür, dass ich gelernt habe, diese Sprache zu sprechen und zu schreiben; um anstelle eines Toten zu reden und seine Sätze weiterzugeben.

Der Mörder ist berühmt geworden und seine Geschichte ist so oft beschrieben worden, dass es mir nie in den Sinn käme, ihn nachzuahmen. Es war seine Sprache. Deshalb werde ich es genauso halten, wie man es in diesem Land seit seiner Unabhängigkeit macht: Stein um Stein von den ehemaligen Häusern der Kolonialherren nehmen, um mein eigenes Haus daraus zu bauen, meine eigene Sprache zu formen. Die Worte des Mörders und seine Ausdrücke sind für mich wie herrenloses Gut. Das Land ist übrigens übersät mit Worten, die niemandem mehr gehören und die man in den Schaufenstern der alten Läden, in den vergilbten Büchern und auf den Gesichtern wahrnimmt, oder in Worten, die sich durch diese seltsame Mischung völlig verschiedener Sprachen ganz neu bilden. Das alles bringt die Dekolonisation mit sich.

Es ist also schon lange her, dass der Mörder tot ist, und viel zu lange, dass mein Bruder nicht mehr existiert – außer für mich. Ich weiß, dass du nicht abwarten kannst, die Art von Fragen zu stellen, die ich hasse, aber ich bitte dich, mir aufmerksam zuzuhören, und am Ende wirst du schon verstehen. Dies ist keine normale Geschichte. Es ist eine Geschichte, die man vom Ende ausgehend beschreibt, um dann an ihren Anfang zurückzugehen. So, wie man einen Schwarm Lachse darstellen würde, die an ihren Ursprung zurückkehren. Wie alle anderen wirst auch du diese Geschichte genauso gelesen haben, wie sie von dem Mann aufgeschrieben wurde, der sie erzählt hat. Er schreibt so gut, dass seine Worte so genau passen wie von Hand behauene Steine. Er war so detailbesessen, dein Held, dass er die Worte förmlich dazu zwang, zu Mathematik zu werden. Endlose Berechnungen auf der Basis von Steinen und Mineralien. Hast du bemerkt, wie er schreibt? Er benutzt die Kunst des Dichtens, um den Schuss aus einer Waffe zu beschreiben! Seine Welt ist sauber, wie erfüllt von der Klarheit des Morgens, präzise, eindeutig, durchdrungen von Aromen und durchzogen von neuen Horizonten.

Nur die »Araber« werfen Schatten, er macht sie zu undeutlichen und nicht in die Landschaft passenden Wesen, die aus einem »Damals« stammen. Damit werden sie in allen Sprachen der Welt zu Gespenstern, selbst wenn sie nur einen Flötenton von sich geben. Ich sage mir, der Mann muss die Nase davon voll gehabt haben, sich in einem Land im Kreis zu drehen, das ihn nicht tot und nicht lebendig haben wollte. Der von ihm begangene Mord kommt mir vor wie die Tat eines enttäuschten Liebhabers, der von dem Land verschmäht wird, das er nicht besitzen kann. Was muss er gelitten haben, der Arme! Kind eines Landes zu sein, in dem man ihm kein Leben geschenkt hat.

Ich habe auch seine Schilderung des Tatbestandes gelesen. So wie du und Millionen andere. Sofort ist klar: Er trug den Namen eines Menschen, mein Bruder den Namen eines Unfalls. Er hätte ihn »Vierzehn Uhr« nennen können, so wie jemand anders seinen Neger »Freitag« genannt hat. Eine Tageszeit statt eines Wochentages. Vierzehn Uhr klingt gut. Auf Arabisch Zoudj, die Zwei, das Duo, er und ich, gewissermaßen harmlose Zwillinge für jemanden, der die Geschichte dieser Geschichte kennt. Kurz, ein ziemlich vergänglicher Araber, der zwei Stunden lang gelebt hat und 66 Jahre lang ohne Unterbrechung immer nur gestorben ist, sogar nach seiner Beerdigung. Mein Bruder Zoudj existiert wie unter Glas: Obwohl mausetot und ermordet, bezeichnet man ihn nach wie vor nur mit einem Vornamen wie ein Windzug und zwei Zeigern einer Uhr. Somit durchlebt er wieder und wieder seinen eigenen Tod, durch zwei Kugeln, abgefeuert von einem Franzosen, der nicht weiß, was er anfangen soll mit seinem Tag und überhaupt auf der Welt, die er glaubt auf seinen Schultern zu tragen.

Und mehr noch! Ich werde wütend, wenn ich mir diese Geschichte vorstelle, das heißt jedes Mal, wenn ich überhaupt die Kraft dazu habe. Es ist der Franzose, der da den Toten spielt und sich lang und breit darüber auslässt, wie er seine Mutter verloren hat, wie er dann seinen Körper unter der heißen Sonne verloren hat, dann den Körper einer Geliebten verloren hat, dann in die Kirche gegangen ist, um festzustellen, dass der Mensch sowieso von seinem Gott verlassen wurde, dann vor dem Leichnam seiner Mutter gewacht und sich mühsam wach gehalten hat usw. Guter Gott, wie kann man jemanden nur umbringen und dann auch noch seines Todes berauben? Mein Bruder hat die Kugeln abbekommen, nicht er! Es ist Moussa, nicht Meursault, oder? Das macht mich fertig. Sogar nach der Unabhängigkeit hat niemand auch nur versucht, den Namen des Opfers herauszubekommen, seine Adresse, seine Vorfahren, mögliche Kinder. Niemand. Diese perfekte Sprache, die selbst der Luft etwas Diamantenes verleiht, ließ allen den Mund offen stehen, und sie haben ihr Mitgefühl für die Einsamkeit des Mörders ausgesprochen und ihm die gelehrtesten Beileidsbekundungen ausgedrückt. Und wer kann mir heute den wahren Namen von Moussa nennen? Wer weiß, welcher Fluss ihn bis zu dem Meer getragen hat, das er zu Fuß überqueren sollte, ganz allein, ohne Volk und Zauberstab? Und wer weiß, ob Moussa einen Revolver, eine Philosophie oder einen Sonnenstich hatte?

Wer ist Moussa? Er ist mein Bruder. Worauf will ich hinaus? Ich will dir erzählen, was Moussa nie jemandem erzählen konnte. Mit dem Betreten dieser Bar hast du ein Grab aufgemacht, mein junger Freund. Hast du das Buch in deiner Schultasche? O. K., dann sei ein guter Schüler und lies mir diese ersten Absätze vor …

Hast du was verstanden? Nein? Dann erkläre ich es dir. Sobald seine Mutter tot war, hatte dieser Mann, der Mörder, keine Heimat mehr und verfiel in den Müßiggang und das Absurde. Er ist wie Robinson, der glaubt, das Schicksal wenden zu können, indem er seinen Freitag tötet, aber feststellen muss, dass er auf einer Insel in der Falle sitzt, und der sich anschickt, sich mit großen, genialen Reden wie ein Papagei selbst zu gefallen. »Poor Meursault, where are you?« Wiederhole ein paarmal diesen Schrei und er wird dir nicht mehr so lächerlich vorkommen, das schwöre ich dir. Ich fordere dich in deinem eigenen Interesse auf, es zu tun. Ich kenne das Buch in- und auswendig, ich kann es dir wie den Koran vollständig rezitieren. Diese Geschichte wurde von einem Leichnam geschrieben, nicht etwa von einem Schriftsteller. Wir wissen, wie er auf seine ganz eigene Art unter der Sonne und dem Verbleichen der Farben leidet und von nichts anderem redet als von Sonne, Meer und alten Steinen. Von Anfang an spürt man, wie er meinen Bruder regelrecht sucht. Ja, das stimmt, er sucht ihn, und zwar nicht, um ihm zu begegnen, sondern um ihm nie begegnen zu müssen. Wenn ich daran denke, tut es mir jedes Mal weh, dass er ihn förmlich damit tötet, indem er über ihn hinwegsteigt, nicht etwa indem er auf ihn schießt. Sein Verbrechen ist von einer majestätischen Nonchalance, weißt du. Das hat seitdem jeden Versuch unmöglich gemacht, meinen Bruder wie einen Chahid, einen Märtyrer, darzustellen. Seine Anerkennung als Märtyrer kam erst viel zu lange nach dem Mord. Während mein Bruder immer mehr verweste, feierte das Buch den Erfolg, den man kennt. Anschließend haben sie sich alle abgestrampelt zu beweisen, dass es kein Mord, sondern nur sein Sonnenstich war.

Haha! Was willst du trinken? Hier serviert man den besten Alkohol nur nach dem Tod, nicht vorher. So will es die Religion, mein Bruder, beeil dich, in einigen Jahren, nach dem Untergang der Welt, wird nur noch im Paradies eine Bar geöffnet haben.

Ich werde die Geschichte kurz zusammenfassen, bevor ich sie dir erzähle: Ein Mann, der schreiben kann, tötet einen Araber, der an diesem Tag nicht einmal einen Namen hat – als wenn er ihn an einen Nagel gehängt und dort vergessen hätte, während er selbst die große Bühne betritt. Und dann fängt er an zu erklären, dass irgendein nicht existierender Gott daran schuld sei und es wegen irgendwelcher gerade unter der Sonne gewonnener Einsichten passiert sei und weil das Salz des Meeres ihn gezwungen hätte, die Augen zu verschließen. Mit einem Mal ist dieser Mord ein völlig straffreier Akt und schon gar kein Verbrechen mehr, weil die Zeit zwischen 12 Uhr mittags und 14 Uhr ein gesetzesfreier Raum ist,...

Erscheint lt. Verlag 18.2.2016
Übersetzer Claus Josten
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Albert Camus • Algerien • Bruder-Geschichte • Der Fremde • Existentialismus • Familie • Islam-Kritik • Kamel Daoud • Literatur-Bestseller • Post-Kolonialismus
ISBN-10 3-462-31541-2 / 3462315412
ISBN-13 978-3-462-31541-7 / 9783462315417
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