Kassel-Nordstadt, 1973
Mutter sagt, dass früher die Mieter das Eisengestell in unserem Vorgarten genutzt haben, um ihre Teppiche darüber zu hängen und auszuklopfen. Und dass es jetzt nur noch da ist, weil niemand es abmontiert hat. Weil sich hier eh nie jemand um irgendwas kümmert, sagt sie.
Ich bin aber froh, dass es da ist. Es hat nämlich genau die richtige Höhe, um die Stange mit den Händen zu packen, mich hochzuschwingen, dann fallenzulassen, bis die Kniekehlen an der Stange einhaken und der Kopf über dem Boden baumelt und es im Bauch kribbelt und der Körper sich auseinanderzieht, so dass ich mich ganz leicht fühle.
Ich liebe es, wenn die Welt auf dem Kopf steht. So wie jetzt Mutter, die auf mich zukommt: die zerdrückten Ballerinas ganz oben, daran aufgehängt die Knöchel und Waden, um die ein weiter lilafarbener Rock schwingt. Eine bestickte Bluse mit blinkenden Pailletten. Lange rotbraune Haare, im selben Takt schwingend wie der Rock. Es sieht lustig aus, dass die Haare nach oben hängen. Und ganz unten ist der Himmel, ein diffuses Gemisch aus Blau und Grau. Der Himmel als Erde, das gefällt mir.
„Angel“, ruft Mutter. So nennt sie mich seit ein paar Wochen. Das heißt Engel auf Englisch, sagt sie, „und du bist doch mein Engel“. Ich soll sie nicht Mama und schon gar nicht Mutti nennen wie die Mütter der anderen Kinder, auch nicht Regina, wie sie wirklich heißt, sondern ‚Janis’, weil sie Janis Joplin bewundert und findet, dass jeder Mensch das Recht hat, den eigenen Namen selbst zu bestimmen. Seitdem meide ich es, sie mit Namen anzusprechen.
„Angel! Es geht los!“
Ich springe ab, stelle mich und die Welt wieder auf die Füße, klopfe den Rost von meinen Händen und umarme zum Abschied den Pfosten des Gestells. Dann laufe ich zu Mutter, greife nach ihrer ausgestreckten Hand. Ihre Hände sind immer warm und feucht.
Vorm Haus steht schon Ulfs Pritschenwagen mit laufendem Motor. Auf der Ladefläche unsere rote Chaiselongue, der kleine runde Tisch, eine Matratze. Ulf wirft seine Zigarette auf den Boden, tritt sie aus und steigt wortlos auf den Fahrersitz. Mutter klettert auf der anderen Seite in den Wagen und lässt sich neben ihn fallen. „Angel, Schatz, steig ein!“ Als ich neben ihr sitze, muss ich mich weit hinausbeugen, um die Tür heranzuholen, und einen Moment habe ich Angst, dass ich hinausfallen könnte und sie ohne mich fahren würden. Doch dann habe ich es geschafft und sehe zu, wie sich das Haus und das Eisengestell langsam entfernen.
„Gibt es im neuen Haus auch eine Stange zum Turnen?“, frage ich. Ulf lacht auf. Wenn er lacht, klingt es wie das Knurren eines Hundes. Mutter legt ihre Hand auf sein Bein und sagt: „Jetzt wird alles besser“, und ich weiß nicht, ob das eine Antwort auf meine Frage sein soll.
Wir fahren raus aus unserer Straße auf eine größere, über eine Brücke, immer weiter, bis am Straßenrand keine Wohnhäuser mehr stehen, sondern nur noch große, geduckte Gebäude. Am Horizont schälen sich die Silhouetten von Industrieanlagen aus dem Dunst heraus, aber noch bevor ich sie wirklich erkennen kann, biegt Ulf ab und bringt den Wagen vor einem breiten grauen Tor zum Stehen. Er steigt aus, schiebt einen Riegel zurück und stemmt seine Schulter gegen das Tor. Quietschend ruckelt es zur Seite und gibt zentimeterweise den Blick frei auf das, was dahinter liegt: eine große asphaltierte Fläche, hier und da aufgebrochen durch Grasbüschel, Stapel von Stahlgestellen, manche unlackiert, andere dunkelgrün oder ockerfarben, ein Gabelstapler mit einem Rostfleck an der Seite. Dahinter ein langgestrecktes, nahezu fensterloses Gebäude. An der Fassade ziehen sich alle paar Meter lange grüne Schlieren von der Dachrinne herunter.
„Ist das unser neues Haus?“, flüstere ich. Eine Katze taucht auf, blickt erschrocken in unsere Richtung und verschwindet unter einem Stapel. Ich spüre Mutter an meiner Seite, ihre feuchte Hand auf meinem Arm. „Da oben“, sagt sie mit leuchtenden Augen und zeigt durch die Windschutzscheibe auf die Halle vor uns, „da wohnen wir.“
Die Metalltür fällt schwer gegen meinen Rücken und drückt mich hinter Ulf und Mutter ins Innere des Gebäudes. Wir steigen eine Treppe hoch. Ulfs Wohnung riecht wie er: nach Zigaretten, Öl und Leder. Das Wohnzimmer ist mit einer braunen Couchgarnitur und einem Glastisch vollgestellt, aus der Ecke ragt ein Fernseher in den Raum hinein.
„Ich zeige Angel die Wohnung.“ Mutter nimmt mich an der Hand und öffnet die Tür zu einem Zimmer, in dem ein riesiges Bett steht. „Schau, hier schlafen Ulf und ich.“
„Und ich?“
„Du hast jetzt dein eigenes Zimmer.“ Sie geht zur nächsten Tür. „Ulf hat es extra vom Schlafzimmer abgeteilt. Die Wände sind noch nicht gestrichen: Das machen wir beide zusammen, ja? Damit du dir die Farbe selbst aussuchen kannst.“
Der Raum ist schmal und riecht nach feuchtem Mörtel und Tapetenkleister. Er gefällt mir: ganz weiß und leer. Ich schlage ein Rad, und weil ich damit schon am Ende des Zimmers angelangt bin, schlage ich gleich wieder eines zurück. „Ach Engelchen“, sagt Mutter und drückt mich an sich. Eine Paillette schneidet in meine Wange. Ich höre es in ihrem Bauch gluckern und wünschte, wir könnten für immer so stehenbleiben, nur wir beide in dem leeren Raum, ohne Ulf oder Mark oder Heinrich oder wie sie alle hießen.
Am nächsten Morgen wache ich vom Quietschen des Tores auf. Es dauert eine Weile, bis ich weiß, wo ich bin, und mir fällt ein, dass auch bei dem letzten Umzug der erste Tag in der neuen Wohnung voller ungewohnter Geräusche gewesen ist. Damals waren es Stimmen: ein Streit zwischen einem Mann und einer Frau dicht über meinem Kopf, das Schreien eines Babys, das wütende Weinen eines älteren Kindes. Jetzt kommen alle Geräusche von unten und haben mit Menschen nichts zu tun.
Als ich es im Flur rascheln höre, stehe ich leise auf und öffne die Tür. Doch vor mir steht nicht Mutter, sondern Ulf, im Gehen begriffen. Anstelle der sonst üblichen Jeans, die nur ein festgezurrter Gürtel davon abhält, über die Hüften zu rutschen, trägt er seinen Blaumann. Ich verstecke mich halb hinter der Tür und hoffe, dass er geht. Doch er bleibt stehen, zieht eine Zigarette aus der Brusttasche, zündet sie an und nimmt einen Zug. „Deine Mutter schläft noch“, sagt er schließlich.
Ich weiß nicht, ob ich etwas sagen soll.
„Willst du denn was essen oder so?“ Ulf zieht wieder an der Zigarette, es zischt und der Glutstreifen wandert ein ganzes Stück in Richtung seiner Finger. „Kannst dich auch nochmal hinlegen, ist ja noch früh.“
Ich nicke, und Ulf zuckt mit den Schultern, dreht sich um und zieht endlich die Tür hinter sich zu. Auf Zehenspitzen laufe ich zu Mutter. Zusammengerollt wie ein Embryo liegt sie am Bettrand. Ich klettere zu ihr, lege mich neben sie, ohne sie zu berühren, und lausche ihrem Atem, dem einzigen vertrauten Geräusch inmitten der vielen neuen, fremden, die von draußen und unten zu mir vordringen: Motorengeheul, harte, metallische Schläge, das Schreien von Sägen, und immer wieder ein hohes Sirren, das plötzlich da ist und genauso plötzlich wieder weg.
Mutter dreht sich zu mir um und legt einen Arm über mich, ohne aufzuwachen. Nach einiger Zeit tut mir die Stelle weh, wo der Arm liegt, aber ich bewege mich trotzdem nicht.
Als Mutter aufsteht, sehe ich, dass sie nackt ist. „Angel“, murmelt sie, greift zu einem Kleidungsstück am Boden und zieht es sich über. Es ist ein T-Shirt von Ulf.
Wir nehmen ein spärliches Frühstück zu uns, weil der Kühlschrank außer Bier und Milch nicht mehr hergibt als ein paar Scheiben Toast und Schinkenwurst, die am Rand rot ist und sich aufwölbt. Ich kaue noch, als Mutter ins Wohnzimmer geht und ruft: „Angel, komm, fass mit an!“ Zusammen schieben wir Ulfs Ledersofa an die Wand und rücken an seine Stelle die rote, samtbezogene Chaiselongue, die noch von Mutters Großmutter stammt. Oft habe ich in der alten Wohnung Stunden auf ihr verbracht, wenn Mutter Männerbesuch hatte. Meistens ist es schon spät gewesen und ich wäre gern im gemeinsamen Bett liegengeblieben, aber ich widersprach nicht, wenn Mutter mit diesen fremden glänzenden Augen durch mich hindurch blickte. Dann legte ich mich auf die Chaiselongue und hörte sie nebenan lachen, wie sie nur lacht, wenn ein Mann bei ihr ist, ein kurzes, atemloses, hartes Lachen, immer wieder, bis andere Laute aus dem Schlafzimmer kamen, und ich ließ die goldenen Fäden der Troddeln durch meine Finger gleiten, bis es vorbei war.
Mutter zieht die indischen Deckchen aus dem Umzugskarton und legt sie über die Kacheln des Couchtischs. Den gläsernen Aschenbecher ersetzt sie durch die Schale, die wir einmal zusammen getöpfert haben und die immer umkippt. Aus einem anderen Karton holt sie ihre Tassen und Teller, schiebt Ulfs Geschirr im Schrank nach hinten und stellt ihres hinein. Die Leuchtstoffröhre in der Küche verhängt sie mit dem transparenten rosa-orange gemusterten Stoff, der uns in der alten Wohnung als Gardine im Schlafzimmer gedient hat. Als sie das Licht anknipst, ist alles in ein rot-schummriges Licht getaucht: die Fronten der Einbauküche, der dunkle Tisch, die beiden Kochplatten. „Was meinst du“, sagt sie, „so ist es doch viel gemütlicher, oder?“ Sie greift wieder in einen der Kartons und zieht eine bunte Decke heraus. Ich helfe ihr, sie über das große Bett zu ziehen.
„In welcher Farbe sollen wir dein Zimmer streichen?“, fragt sie.
Mein Zimmer ist schon viel kleiner geworden, seit die Matratze und drei Kisten darin liegen. „Ist doch schön so“, sage ich.
„So...