Ya?ar Kemal wird der »Sänger und Chronist seines Landes« genannt. Er wurde 1923 in einem Dorf Südanatoliens geboren. Seine Werke erschienen in zahlreichen Sprachen und wurden mit internationalen Preisen ausgezeichnet. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt. Er starb in Istanbul am 28.2.2015.
Yaşar Kemal wird der »Sänger und Chronist seines Landes« genannt. Er wurde 1923 in einem Dorf Südanatoliens geboren. Seine Werke erschienen in zahlreichen Sprachen und wurden mit internationalen Preisen ausgezeichnet. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt. Er starb in Istanbul am 28.2.2015.
Sie standen morgens sehr früh auf. Aber Tuğrul war schon dort, wenn der Morgen graute, noch bevor sie wach waren. Oft sah ich ihn vom Wald zur Pappel hasten, als befürchte er, zu spät zu kommen. Er rannte wie von Sinnen, und wenn er ankam, bevor sie aufgewacht waren, atmete er auf, hockte sich auf seinen Platz vor dem Stacheldraht, legte die Arme um seine hochgezogenen Beine und stützte das Kinn auf die Knie.
In der Ebene von Florya war der Wettstreit der Vogelfänger in vollem Gange. Wie immer, wenn der Oktober kommt, wenn der Karayel von Nordwesten und der Poyras von Norden kalt und schneidend wie Rasiermesser über das Land stürmen, wenn der Lodos vom Süden her das Meer bei Florya schäumend aufwühlt und Regenschauer vor sich hertreibt, aber auch Schwärme von kleinen Vögeln, die Zickzacklinien in den Himmel zeichnen und auseinanderstiebend auf die Karden niederfallen.
Bei Regen und rauem Wind schwirren die Vögel wieder hoch, kaum dass sie die Disteln berührt haben. Über den Wald zum Meer, zum Çekmece-See, über die Wipfel der Bäume wischen sie hinweg, jagen dahin, kleine bunte Tupfer im Grau des Himmels, bis sie den Blicken entschwinden. An lauen, sonnigen Tagen aber kommen sie zu Tausenden und machen sich, übereinandersteigend und flatternd, mit unheimlicher Gier und Lust über die Samen der verdorrten Karden her, deren gelbe Blüten im Sommer die weite Ebene in leuchtendes Safrangold getaucht hatten.
Seit es dieses flache Land gibt, seit den Zeiten von Byzanz und dem Osmanischen Reich, kommen und gehen diese winzigen Vögel, wer weiß, woher und wohin, und machen vom Oktober bis weit in den Januar hinein die Ebene von Florya zu ihrem Standort. Seit jenen Zeiten bis auf den heutigen Tag locken die Einwohner der Stadt Istanbul diese Vögel in Fallen aller Art. Sind sie gefangen, werden sie vor den Kirchen an die Christen, vor den Synagogen an die Juden, vor den Moscheen an die Muslime verkauft und mit der Beschwörung: »Fliege, Vogel, fliege vor, wart auf mich am Himmelstor!« freigelassen. Der Himmel von Istanbul wimmelt dann von befreiten Fürbittern, von Zeugen einer guten Tat, spottbilliges Entgelt für die Glückseligkeit. Besonders die Kinder sind ganz versessen darauf, Vögel zu kaufen und freizulassen. Und nicht zu vergessen: die Alten, die Hochbetagten …
Es ist schon sehr lange her, war wohl während meiner ersten Tage in Istanbul, als ich auf dem Taksim-Platz einen bejahrten Mann in einem Paletot mit Pelzkragen und ein sechs- oder siebenjähriges Kind beobachtete, die von einem ungefähr elfjährigen, barfüßigen Jungen zitronengelbe, verschreckt starrende Vögel kauften und in die Luft warfen. Mal griff sich der Alte einen Vogel aus dem Käfig, mal das Kind. Und jedes Mal, wenn sie dem Jungen einen Vogel abnahmen und hochwarfen, stießen alle drei nicht enden wollende Freudenschreie aus. Aber da war auch eine Katze, die im Gebüsch unter einer Platane kauerte; denn manche Vögel konnten nicht mehr fliegen, fielen zu Boden und suchten Schutz unter den Sträuchern. Kaum dass ein Vogel in den Busch geflüchtet war, schnappte ihn das kleine Biest, zerriss ihn mit Krallen und Zähnen, fraß ihn auf, putzte behaglich Zähne und Maul und lauerte auf das nächste Opfer, regungslos, unverwandt nach oben starrend.
Heutzutage werden vor dem Innenhof der Eyüp-Moschee keine Vögel mehr als Fürbitter verkauft. Die Kinder bringen die gefangenen Vögel nach Eminönü auf den Vogelbasar. Die Vogelhändler dort suchen aus Hunderten von Vögeln nur die besten und schönsten heraus, um sie zu sehr hohen Preisen an Liebhaber zu verkaufen, und geben die restlichen zurück. Müde und enttäuscht kehren die Kinder mit den vollen Käfigen heim, ratlos, weil sie nicht wissen, was sie mit all den Vögeln anfangen sollen.
Ich denke, dass jede Chronik von Istanbul wertlos ist, wenn ihre Verfasser nichts von Floryas Vögeln und ihren Fängern berichten. Schade um ihre Mühe! Ist das Glück von Abermillionen Vögeln, freigelassen im Laufe der Jahrhunderte vor Kirchen, Synagogen und Moscheen, und das Glück der Menschen darüber nicht ein Abenteuer, über das man berichten muss? Ich bin sicher, eines Tages wird einer kommen, ein guter Freund, mit reinem Herzen und klug, und er wird die schöne, hoffnungsvolle Geschichte der Vögel Floryas niederschreiben, und dann, ja dann wird Istanbul noch schöner sein, noch berückender. Liegt Istanbuls Zauber denn nur in seinem Meer, seinen Bauwerken, seinem Himmel, seinen Flüssen und seinen Menschen? Und Floryas Vögel, was ist mit ihnen?
Einige Tage später sah ich Cem neben Tuğrul sitzen. Das Kinn auf den Knien, hockten beide nebeneinander. Es vergingen kaum zwei Tage, und auf dem Hügel kauerten sie schon zu sechst am Drahtverhau. Die Arme um ihre Knie geschlungen, das Kinn aufgestützt, saßen sie da und blickten ins Leere. Bewegungslos, vielleicht wütend, vielleicht besessen, vielleicht in Gedanken versunken, mit ausdruckslosen Gesichtern, die nichts verrieten, hockten sie da oben, am Rande der grünen Ebene.
Die Knaben beim Zelt hasteten geschäftig hin und her, ahmten Vogelstimmen nach, ließen die Lockvögel auffliegen, holten sie wieder ein und zogen das Netz über die Vögel, die sich auf die Karden niedergelassen hatten. Ab und zu konnten sie es sich nicht verkneifen, die Jungen, die da so reglos saßen, mit einem kurzen Blick zu streifen. Sie wussten offensichtlich nicht, was sie von denen halten sollten. Als der erste riesige Käfig voll war, holten sie einen zweiten, dann einen dritten. Schließlich standen im Zelt acht Käfige, prall voll mit zappelnden gelben, roten und blauen Vögeln, ihre verschreckten Augen glitzerten wie tausendfach sprühende Wunderkerzen, wie wahnsinnig schlugen sie mit ihren Flügeln, flatterten voller Angst gegen den Käfigdraht, zerfetzten sich, um freizukommen. Acht volle Käfige von der Sorte fünfzig mal achtzig mal sechzig.
Diese Jungen aus Fatih – woher wusste ich eigentlich, dass sie aus Fatih waren? Wer sagte es mir? Ich weiß es nicht mehr. Mir schien wohl, kein anderer Stadtteil passe zu ihnen. Diese Jungen, sagte ich mir, können nur in Fatih wohnen. Diese Jungen aus Fatih also blickten hin und wieder zu den sechs regungslosen Gestalten hinüber, misstrauisch, ein bisschen verwundert, ja mit einer Spur von Angst.
In diesem Jahr lachte ihnen das Glück; viele Vögel waren auf die Ebene niedergegangen, in großer Zahl und allen Arten, und in den Käfigen waren solche, die sie noch nie gesehen, deren Namen sie noch nie gehört hatten. Wie diese sechs, jeder groß wie eine Faust, von fleckenlosem, zur Brust und unter den Flügeln heller werdendem Rot. Jeder von ihnen würde weiß Gott mindestens sieben Lira bringen. Und dann hatten sie noch einen Falken gefangen. Sie sperrten ihn in einen getrennten Käfig und gaben ihm täglich fünf, sechs lebende Distel- oder Buchfinken; kaum hatte sie der wilde Vogel in seinen Fängen, zerfetzte er sie wie eine Katze, rasend über seine Gefangenschaft.
Eigentlich waren Falken in dieser Gegend selten. Vielleicht kam er von weit her, hatte sich über den Istranca-Wäldern an die Schwärme der kleinen Vögel geheftet und war ihnen bis hierher gefolgt. Dann war er wie ein Blitz aus heiterem Himmel auf die Lockvögel herabgestoßen, aber kaum schlug er die Beute, war das Netz schon über ihm. Und auch als sich das Netz schon über ihn stülpte, ließ er den Distelfink nicht aus seinen Fängen. Als die Jungen den Lockvogel befreien wollten, wehrte sich der Falke mit Schnabel und Krallen so heftig, dass ihre Hände ganz blutig wurden. Es war ein rötlicher Falke. Sie verkauften ihn für sage und schreibe fünfunddreißig Lira an Halil den Zigeuner. Sie fingen noch zwei kastanienbraune Falken. Auch die kaufte ihnen Halil der Zigeuner ab, zu je fünfundzwanzig Lira. Zigeuner-Halil brachte die Falken ins Dorf Kavak und verhökerte sie an die Jäger.
Am Himmel, in weiter Ferne, dort über dem Meer, kreiste wieder ein Greifvogel. Ich ging zum Zelt.
»Seht!«, sagte ich. »Da! Ein Falke!«
»Haben wir gesehen«, sagte der Kleine mit den Dreiecksaugen.
»Ob er wohl herkommt?«
»Er wird bald hier sein«, antwortete er und seufzte. »Er wird bald hier sein, aber …«
»Aber?«
»Aber, Onkel, aber sie zerfetzen die Netze. Und außer Halil dem Zigeuner will sie niemand haben, und der zahlt für jeden Vogel nur fünfundzwanzig bis dreißig Lira. Der Segen dieser Vögel lohnt den Frosch nicht, den sie erschrecken.« Der Lange nahm ihm ungeduldig das Wort von der Zunge: »Von morgens bis abends verjage ich sie und laufe mir dabei die Seele aus dem Leib. Sie stürzen so plötzlich von hoch oben senkrecht auf die Lockvögel herunter, dass mir jedes Mal der Schreck in die Glieder fährt.«
»Fangt den da!«, sagte ich.
Der Lange reckte seinen Hals gegen den fliegenden Vogel. »Er wird bald hier sein«, sagte er, und sein Hals blieb gestreckt. Der Kleine zog die Stirne kraus. »Ich kann auf seinen Besuch verzichten.«
»Fangt ihn!«, sagte ich.
Da blitzten die Augen der drei. »Was ist dein Preis?«
Ich überlegte kurz. »Hundert Lira!«
»Bravo!«, brüllte der Kleine.
»Bravo!«, antwortete ich.
Der schlanke Hals des Langen reckte sich wieder gegen den Vogel empor und wurde noch dünner. »Komm, komm!«, lockte er. Dann drehte er sich zu mir und sagte: »Er kommt gleich.«
»Wenn du willst, Onkel, kannst du beim Zelt...
| Erscheint lt. Verlag | 9.11.2015 |
|---|---|
| Übersetzer | Cornelius Bischoff |
| Verlagsort | Zürich |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Kuşlar da gitti |
| Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | Friedenspreisträger • Großstadt • Hoffnung • Istanbul • Kindheit • Tier • Tradition • Türkei |
| ISBN-10 | 3-293-30782-5 / 3293307825 |
| ISBN-13 | 978-3-293-30782-7 / 9783293307827 |
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