Der namenlose Tag (eBook)
301 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74176-4 (ISBN)
Kriminalhauptkommissar Jakob Franck ist seit zwei Monaten im Ruhestand und glaubt nun, ein Leben jenseits der Toten beginnen zu können. Vor zwanzig Jahren hatte er sieben Stunden, ohne ein Wort zu sagen, der Mutter einer toten Siebzehnjährigen beigestanden. Jetzt wird der Kommissar von dieser Konstellation eingeholt: Ludwig Winther tritt mit ihm in Kontakt; er ist der Vater des jungen Mädchens, das sich umgebracht haben soll, und Ehemann jener Frau, der Franck so viel Aufmerksamkeit widmete.
Zwanzig Jahre sind vergangen, und Ludwig Winther glaubt noch immer nicht an den Selbstmord seiner Tochter. Er ist überzeugt, dass sie ermordet wurde. Ex-Kommissar Jakob Franck macht sich also daran, die näheren Umstände ihres Todes aufzuklären, »einen toten Fall zum Leben zu erwecken «. Jakob Franck folgt dabei seiner ureigenen Methode, der »Gedankenfühligkeit «: Diese ist unnachahmlich und unübertroffen bei der Lösung der kompliziertesten und überraschendsten Fälle.
Friedrich Ani und seine Kunst der Konstruktion gewöhnlich-außergewöhnlicher Kriminalistikrätsel; Friedrich Ani und seine Sprache, die vom Tod auf das Leben melancholisch gelöste Perspektiven wirft - Friedrich Ani und seine Kunst erreichen in seinem neuen Roman unvorhersehbare Dimensionen.
Friedrich Ani, geboren 1959, lebt in München. Er schreibt Romane, Gedichte, Hörspiele, Theaterstücke und Drehbücher. Sein Werk wurde in zehn Sprachen übersetzt und vielfach prämiert, u. a. sieben Mal mit dem Deutschen Krimipreis, dem Crime Cologne Award, dem Burgdorfer Krimipreis, dem Adolf-Grimme-Preis, dem Bayerischen Fernsehpreis und der Goldenen Romy. Friedrich Ani ist Mitglied des PEN-Berlin.
Friedrich Ani, geboren 1959, lebt in München. Er schreibt Romane, Gedichte, Jugendbücher, Hörspiele, Theaterstücke und Drehbücher. Sein Werk wurde mehrfach übersetzt und vielfach prämiert, u. a. mit dem Deutschen Krimi Preis, dem Adolf-Grimme-Preis und dem Bayerischen Fernsehpreis. Seine Romane um den Vermisstenfahnder Tabor Süden machten ihn zu einem der bekanntesten deutschsprachigen Kriminalschriftsteller. Friedrich Ani ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und des Internationalen PEN-Clubs. Sein Roman Der namenlose Tag (2015), ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimi Preis und dem Stuttgarter Krimipreis, markierte Anis Wechsel zu Suhrkamp. Seit 2015 ist Friedrich Ani auch mit seinen Theaterstücken im Suhrkamp Theater Verlag vertreten.
II
Besuch der Toten
1
Die Toten hielten sich nicht an den Tag der Toten; sie kamen, wann immer es ihnen passte, und sie blieben über Nacht, manchmal zu zweit − meist einer allein −, als hätten sie verabredet, einander weder Raum noch Zeit zu stehlen, oder aus Respekt vor der Würde des anderen.
Über solche Fragen dachte Jakob Franck seit Jahren nach, und er erwartete keine Antwort. Die Anwesenheit der Toten war für ihn Erklärung genug. Seine Überlegungen sollten ihn nur von sich selbst ablenken; das klappte auch ab und zu. Er saß dann am gedeckten Wohnzimmertisch und führte − lautlos, mit wandernden Händen −, eine Unterhaltung über die Motive und Absichten seiner Gäste, nahm zwischendurch einen Butterkeks vom Teller in der Mitte des Tisches, wiegte den Kopf, setzte die Lesebrille auf und wieder ab; schließlich lehnte er sich zurück und nickte bedächtig, als stimme er nach eingehender Prüfung aller Argumente seiner Meinung zu.
Ihm war bewusst, wie abseitig er sich verhielt; doch in all den Jahren hatte er noch keine andere Methode gefunden, wie er den Gespenstern seiner Vergangenheit begegnen sollte, ohne sich lächerlich zu machen, indem er seinen Schrecken mit Kopfspielchen verhätschelte wie ein Kind im dunklen Kohlenkeller.
Ein wenig hatte er gehofft, er bliebe nach seiner Pensionierung von seinen Besuchern verschont.
Heute jedoch, zwei Monate später, schüttelte er über diese Erwartung den Kopf, so abstrus erschien sie ihm im Nachhinein.
Die Toten waren das Personal seiner Gegenwart gewesen; es spielte keine Rolle, ob er im Dezernat 11 in einem Team als Mordermittler arbeitete oder neuerdings als geschiedener und beziehungsloser Hausmann das Ausmaß seiner Selbstgespräche halbwegs im Griff behielt. Den Toten war sein Status egal. Er hatte sich damals, beim Eintritt in den Gehobenen Dienst, für ihre Welt entschieden, und aus dieser Welt kehrt niemand unversehrt und traumlos zurück. Das hatte Jakob Franck schon vorher gewusst – oder wenigstens geahnt –, und er bereute seine Entscheidung bis zum heutigen Tag nicht.
Er wäre nur gern nicht jedes Mal zu Tode erschrocken.
Die zweiunddreißigjährige Frau hatte sich vor den Fernzug nach Budapest geworfen; der Leichenfundort war vierzig Meter lang; ihre linke Hand lag auf der anderen Seite der Gleise; dort entdeckte sie ein Mitarbeiter der Spurensicherung, und er winkte den Hauptkommissar herbei.
Dieses Winken brachte Jakob Franck wochenlang nicht aus dem Kopf.
Immer wenn er den Kollegen im Schutzanzug mit dem erhobenen Arm vor sich sah, marterte ihn die Frage, ob auch die junge Frau den Arm gehoben hatte − Sekunden bevor die Lok sie erfasste und ihre Hand in ein groteskes, schwereloses Winken verwandelte, fernab der übrigen Körperteile. Ihr Gesicht existierte nicht mehr.
Einen Tag und eine Nacht lang blieb die Frau namenlos, dann meldete ihre Mutter sie als vermisst und übergab der Polizei ein Foto. Eine abwesende Person, dachte Franck und schämte sich dafür. Was die Ermittler erfuhren, reichte für eine Rekonstruktion der Biografie nicht aus; das Gespräch mit der Mutter verlief stockend, zwischendurch hatte Franck das Bedürfnis, die Stimme zu erheben und laut zu werden, um die zweiundfünfzigjährige Frau aus ihrer Lethargie zu reißen oder zumindest ihr inneres Fluchtgebaren für ein paar Minuten zu erschüttern. Seiner Einschätzung nach wollte Lore Balan vom Unglück ihrer Tochter einfach nichts wissen; sie verachtete deren Selbsttötung und nistete sich in der Vorstellung ein, sie würde von nun an ein Kainsmal tragen, dem Gespött der Leute bis an ihr Lebensende ausgeliefert.
Stimmt doch!, sagte sie und wiederholte die Formulierung, wann immer sie in Francks Nähe einkehrte wie ein hereingebetener Gast. Der Polizist widersprach heftig − auch heute, an diesem letzten Tag im Oktober. Er redete ins Leere, wie damals.
Paulus Landwehr war auch da. Er blutete nicht; er blutete nie; er kam in seiner immer gleichen grauweißen, von Farbflecken übersäten Latzhose und dem grünen, nicht weniger ramponierten Sweatshirt und verlangte Schnaps, am besten Kirsch. Elf ungeöffnete und neunzehn leere Kirschwasserflaschen hatten die Ermittler in der Wohnung des Ehepaars Landwehr entdeckt; im Flur und in der Küche stapelten sich Bierkästen; unter dem blutgetränkten und von roten Federn bedeckten Bett im Schlafzimmer kullerten drei halbvolle Eierlikörflaschen. Paulus Landwehr hatte seiner Frau den Schädel gespalten und sich anschließend mit neun Messerstichen selbst getötet. Die Blutspur führte von der Küche durch den Flur ins Wohnzimmer, wo er zusammengebrochen war. Nachbarn hatten Schreie gehört und die Polizei alarmiert. Als Franck am Tatort eintraf, lebte der Malermeister noch, und als hätte er den Ermittler erkannt, griff er nach dessen Hand und flüsterte: Die Frau hat völlig recht g’habt. Landwehr starb auf dem Weg ins Krankenhaus.
Die Frau hat völlig recht, sagte er zu Lore Balan; Franck öffnete die Balkontür in seinem Zimmer und atmete die kühle, feuchte Luft ein, in der Hoffnung, er wäre gereinigt, wenn er sich umdrehte.
Die beiden Gestalten saßen immer noch da, in ein Gespräch vertieft, das Franck nicht hören konnte; in seinem Kopf hallten nur die Echos der Sätze wider. Also beugte er sich über den Tisch, nahm einen Butterkeks, kaute so laut, wie seine Zähne es erlaubten, schmatzte beim Schlucken, griff nach einem zweiten Keks und wiederholte die Prozedur sechs Mal.
Danach fiel er in den Stuhl und schloss die Augen, ließ die Gedanken durch den menschenleeren Stadtpark wandern; der Kies knirschte unter den Schuhen; mit Ästen und Blättern übte der Wind eine Melodie ein. Eine große Geborgenheit, die er zu genießen versuchte, umgab den ehemaligen Ermittler; vielleicht wäre er dazu in der Lage gewesen, wenn sein Telefon nicht geklingelt hätte und er, mit einem berufsbedingten Reflex, nicht aufgesprungen und in den Flur geeilt wäre.
Auf dem Weg dorthin brauchte er sich nicht einmal umzudrehen, um festzustellen, ob seine beiden Gäste noch am Tisch saßen. Lore Balan − geschieden, Küchenhilfe im Ibis-Hotel, Mutter einer unter Schwermut leidenden Tochter, die in ihrem Abschiedsbrief für ihre Tat und ihr ganzes Leben um Vergebung bat. Paulus Landwehr − seit neunundzwanzig Jahren verheiratet mit Pia Landwehr, früher ein gefragter Handwerker, Alkoholiker wie seine Frau, die er, wie Nachbarn und Verwandte aussagten, ununterbrochen anpumpte, bis sie sich weigerte, ihm noch einen Cent zu geben.
Im Flur hörte Franck ihn sagen: Sie ham völlig recht, Ihre Dochda hätt das nicht machen dürfen.
Mit einem schnellen Griff packte Franck den Hörer und hielt ihn ans Ohr.
»Franck.«
»Winther.«
Ein Schweigen folgte; dann legte der Anrufer auf. Minutenlang stand Franck mit dem Hörer in der Hand in seiner Diele, mit Blick zur Wohnungstür, als erwartete er ein Klingeln und dürfte einem Besucher die Tür öffnen, dessen Ankunft nicht wie ein Meteor in seiner Gegenwart einschlagen würde.
»Verzeihen Sie wegen gestern«, sagte der Mann an der Tür, noch bevor er zum dritten Mal seinen Namen nannte.
»Das macht nichts.« Franck streckte die Hand aus; die beiden Männer sahen sich eine Weile wortlos an, die Augen spiegelten eine gewisse Unbeholfenheit.
Nach einer Stunde hatte das Telefon gestern noch einmal geklingelt; Franck spielte mit dem Gedanken, den Anrufbeantworter anspringen zu lassen, was jedoch nicht seiner Gewohnheit entsprach. Wenn er zu Hause war, nahm er ein Gespräch auch entgegen − eine Angewohnheit, die ebenso seiner polizeibedingten Akkuratesse geschuldet war wie seine bis aufs letzte Komma lesbare Schreibschrift oder das Wort Schreibschrift selbst, im Gegensatz zur Druckschrift, Durchschrift oder Abschrift.
Am anderen Ende war ein Mann, dessen Stimme er sofort wiedererkannte, obwohl dieser vorher nur ein einziges Wort gesagt und Franck mit ihm vor etwa zwanzig Jahren zum letzten Mal gesprochen hatte.
Auch den Namen hatte er schließlich zuordnen können, nachdem er – den Hörer in der rechten Hand und den Blick zur Tür gerichtet – sich nicht von der Stelle bewegt hatte; im Rücken die Geister seiner Vergangenheit; in der Luft der langgezogene Ton des Telefons, der in ein Tuten überging, das in dem Moment in Stille mündete, als dem Exkommissar die Welt hinter dem Namen Winther bewusst wurde und er damit rechnete, bei seiner Rückkehr ins Wohnzimmer noch einen dritten Gast beherbergen zu müssen.
Er legte dann auf und wandte sich kurz darauf verwundert um, weil das Telefon nicht noch einmal klingelte, erst nach einer Stunde.
Da saß er in der Küche, trank ein Glas Bier, blätterte in der Zeitung, ohne sich konzentrieren zu können, und dachte an die Begegnung mit der Frau an jenem Abend vor zwanzig Jahren, in der lodernden Finsternis eines bescheidenen Hauses im Ostteil der Stadt.
Winther, dachte er, Winther.
Ihm fiel der Vorname der Frau nicht mehr ein; das ärgerte ihn derart, dass er überlegte, die Kartons mit den alten Akten zu durchwühlen. Und weil er immer zorniger wurde und sich in eine Spirale aus anschwellender Selbstanklage und fanatischem Grübeln hineinsteigerte, sprang er auf, hastete in den Flur und wäre − wie in einer Panikattacke − im Nebenzimmer gestürzt, hätte nicht das Telefon geklingelt und ihn schlagartig innehalten lassen.
Außer Atem hob er den Hörer ab, und der Mann am anderen Ende hätte vor Schreck beinah wieder aufgelegt.
»Hier entlang«, sagte Franck. Er führte den gebückt gehenden Gast ins Wohnzimmer und ließ ihn, Blick zum Fenster, Rücken zum Durchgang, an der Schmalseite des...
| Erscheint lt. Verlag | 10.8.2015 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Jakob-Franck-Serie | Jakob-Franck-Serie |
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
| Schlagworte | Adaption • Andreas Hoh Krimifestival-Preis 2024 • Bestsellerautor • Bestseller bücher • buch bestseller • Buch zum Film • Crime Cologne Sonderpreis 2017 • Deutsche Krimi-Autoren • Deutsche Krimis • Deutscher Krimi Preis • Ermittler in Rente • Film • Jakob Franck • Jugendliche • Kinofilm • Krimi-Bestenliste • Krimi-Bestseller • Kriminalistikrätsel • Kriminalroman • Krimi-Serie • Literaturverfilmung • München • Page Turner • Selbstmord • Spannung • spiegel bestseller • Spiegelbestseller • SPIEGEL-Bestseller • ST 4720 • ST4720 • Stuttgarter Krimipreis 2016 • Süden • suhrkamp taschenbuch 4720 • Suizid • Trauerbewältigung |
| ISBN-10 | 3-518-74176-4 / 3518741764 |
| ISBN-13 | 978-3-518-74176-4 / 9783518741764 |
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