Kim Stanley Robinson wurde 1952 in Illinois geboren, studierte Literatur an der University of California in San Diego und promovierte über die Romane von Philip K. Dick. Mitte der Siebzigerjahre veröffentlichte er seine ersten Science-Fiction-Kurzgeschichten, 1984 seinen ersten Roman. 1992 erschien mit 'Roter Mars' der Auftakt der Mars-Trilogie, die ihn weltberühmt machte und für die er mit dem Hugo, dem Nebula und dem Locus Award ausgezeichnet wurde. In seinem Roman '2312' erkundet er die verschiedenen Gesellschaftsformen, die die Menschheit nach ihrem Aufbruch ins Sonnensystem erschafft. Zuletzt sind bei Heyne seine Romane 'New York 2140', der in einem vom Klimawandel gezeichneten New York der nahen Zukunft spielt, und sein Bestseller 'Das Ministerium für die Zukunft' erschienen. Kim Stanley Robinson lebt mit seiner Familie in Davis, Kalifornien.
In einem bestimmten Moment vor der Dämmerung leuchtete der Himmel in dem gleichen Rosa wie zu Anfang, blass und klar im Osten, dunkler und voller Sterne im Westen. Ann erwartete diesen Moment, während ihre Gefährten sie in Rovern nach Westen fuhren, auf eine schwarze Landmasse zu, die in den Himmel aufragte – der Tharsis-Buckel, gekrönt von dem breiten Kegel von Pavonis Mons. Als sie von Noctis Labyrinthus kommend bergauf fuhren, stiegen sie über den größten Teil der neuen Atmosphäre empor. Der Luftdruck am Fuß von Pavonis betrug 180 Millibar und fiel dann, als sie die Ostflanke des großen Schildvulkans hinauffuhren, unter 100 Millibar und sank immer weiter. Langsam ließen sie alles sichtbare Blattwerk hinter sich, die Reifen zerdrückten Flecken aus schmutzigem, vom Wind zusammengepresstem Schnee. Dann ließen sie auch den Schnee hinter sich, und es gab nur noch Felsen und die unablässigen dünnen kalten Winde des Jetstreams. Das kahle Land sah genauso aus wie einst in den vormenschlichen Jahren, als reisten sie in die Vergangenheit.
Das stimmte natürlich nicht. Aber in Ann Clayborne erwärmte sich etwas Fundamentales beim Anblick dieser rostroten Welt aus Felsen im ewigen Wind. Und als die Wagen der Roten den Berg hinauffuhren, waren alle Insassen ebenso hingerissen wie Ann, und in den Kabinen wurde es still, als die Sonne über den fernen Horizont hinter ihnen stieß.
Der Hang, den sie hinauffuhren, wurde weniger steil; die Steigung nahm in einer vollkommenen Sinuskurve ab, bis sie sich auf dem flachen runden Gipfelplateau befanden. Hier erblickten sie Kuppelstädte, die den Rand der gigantischen Caldera umgaben, vor allem um den Fuß des Raumaufzugs etwa dreißig Kilometer südlich von ihnen zusammengedrängt.
Sie hielten ihre Rover an. Das Schweigen in den Kabinen war von Verehrung in Wut umgeschlagen. Ann stand an einem der oberen Fenster und blickte nach Süden in Richtung Sheffield, diesem Kind des Raumaufzugs: Es war wegen des Aufzugs erbaut worden; es war zermalmt worden, als der Aufzug abstürzte; und bei dessen Erneuerung neu aufgebaut worden. Das war die Stadt, die sie vernichten wollte, so gründlich, wie Rom es mit Karthago gemacht hatte, denn sie wollte auch das neue Kabel zu Fall bringen, wie es schon mit dem ersten im Jahre 2061 geschehen war. Damit würde ein großer Teil von Sheffield wieder dem Marsboden gleichgemacht werden. Was bliebe, würde nutzlos auf dem Gipfel eines hohen Vulkans liegen, über dem größten Teil der Atmosphäre. Im Laufe der Zeit würden die übrig gebliebenen Bauten aufgegeben und abgerissen werden, sodass nur die Kuppelfundamente bleiben würden. Vielleicht würde es einmal eine Wetterstation geben. Aber schließlich blieb nur die lange, sonnige Stille eines Berggipfels. Das Salz war schon im Boden.
Eine vergnügte Rote aus Tharsis kam ihnen in einem kleinen Rover entgegen und führte sie durch das Labyrinth von Lagerhäusern und kleinen Kuppeln, die die Kreuzung der äquatorialen mit der den Rand umrundenden Straße umgaben. Während sie ihr folgten, schilderte sie ihnen die Lage vor Ort. Der größte Teil von Sheffield und die umliegenden Siedlungen waren schon in der Hand der marsianischen Revolutionäre. Das galt aber nicht für den Raumaufzug und den ihn umgebenden Basiskomplex. Und darin lag das Problem. Die revolutionären Kräfte auf Pavonis waren zumeist schlecht ausgerüstete Milizen, die auch nicht unbedingt die gleichen Ziele verfolgten. Dass sie bisher Erfolg gehabt hatten, beruhte auf mehreren Faktoren: Überraschung, der Beherrschung des marsianischen Luftraums, etlichen strategischen Siegen, der Unterstützung durch die große Mehrheit der Marsbevölkerung und dem Unwillen der Übergangsbehörde der Vereinten Nationen, der UNTA, auf Zivilisten zu schießen, selbst wenn diese auf den Straßen Massendemonstrationen veranstalteten. Deswegen hatten sich die Sicherheitskräfte der UNTA vom ganzen Mars zurückgezogen, um sich in Sheffield zu sammeln. Und jetzt befanden sich die meisten in Aufzugskabinen unterwegs nach Clarke, dem zur Raumstation ausgebauten Ballastasteroiden am oberen Ende des Aufzugskabels. Der Rest der Truppe war in der Umgebung des massiven Basiskomplexes des Aufzugs, der sogenannten »Steckdose«, zusammengepfercht. Dieser Stadtteil enthielt Betriebsanlagen für den Aufzug, Lagerhäuser der Industrien und Herbergen und Restaurants für Unterkunft und Verpflegung der Arbeitskräfte. »Das ist uns bis jetzt zugutegekommen«, erklärte Irishka, »denn sie sind wie in einer Presse zusammengedrängt, und wenn es nicht Nahrung und Unterkunft gegeben hätte, hätten sie versucht auszubrechen. Gegenwärtig ist die Lage zwar angespannt, aber zumindest können sie überleben.«
Das erinnerte Ann irgendwie an die gerade in Burroughs gelöste Situation. Die war gut ausgegangen. Es brauchte nur jemanden, der zum Handeln bereit war, und die Sache wäre erledigt – die UNTA würde zur Erde evakuiert, das Kabel heruntergeholt und die Verbindung zwischen Mars und Erde so endgültig getrennt. Und jeder Versuch zur Installation eines neuen Kabels könnte in den zehn Jahren, die für seine Konstruktion im Orbit notwendig waren, sicher vereitelt werden.
Irishka führte sie nun durch den Wirrwarr von Ost-Pavonis; und ihre kleine Karawane kam zum Rand der Caldera, wo sie ihre Rover parkten. Im Süden konnten sie am Westrand von Sheffield gerade noch das Aufzugskabel erkennen, eine kaum sichtbare Linie, von der nur ein paar ihrer 24000 Kilometer zu sehen waren. Fast unsichtbar – und dennoch beherrschte seine Existenz jede Handlung und jede Diskussion; jeder Gedanke, den sie hatten, war aufgespießt und angehängt an diesem schwarzen Faden, der sie mit der Erde verband.
Als sie sich in ihrem Camp eingerichtet hatten, rief Ann ihren Sohn Peter über den Computer an ihrem Handgelenk an. Er war einer der Anführer der Revolution auf Tharsis gewesen und hatte die Kampagne gegen die UNTA geleitet, wodurch deren Kräfte auf die Steckdose und deren unmittelbare Umgebung zusammengedrängt worden waren. Bestenfalls ein eingeschränkter Sieg; aber er machte Peter zu einem der Helden des vorigen Monats.
Jetzt meldete er sich auf ihren Anruf, und sein Gesicht erschien auf dem kleinen Bildschirm. Er sah ihr sehr ähnlich, was sie beunruhigte. Er war abgelenkt, stellte sie fest, und auf etwas anderes als ihren Anruf konzentriert.
»Gibt es was Neues?«, fragte sie.
»Nein. Wir scheinen in einer Sackgasse zu stecken. Wir gestatten allen, die draußen erwischt werden, freien Zugang zum Aufzugsdistrikt, sodass sie die Kontrolle über den Bahnhof und den Flughafen am Rand haben, und auch über die U-Bahnlinien von dort zur Steckdose.«
»Sind die mit den Flugzeugen aus Burroughs Evakuierten hier angekommen?«
»Ja. Offenbar brechen die meisten von ihnen auf zur Erde. Da drin herrscht großes Gedränge.«
»Kehren sie zur Erde zurück, oder gehen sie in den Marsorbit?«
»Zurück zur Erde. Ich glaube nicht, dass sie sich im Orbit noch sicher fühlen.«
Dabei lächelte er. Er hatte im Weltraum vieles erreicht, unter anderem, indem er die Bemühungen von Sax unterstützt hatte. Ihr Sohn, der Raumfahrer, der Grüne. Viele Jahre lang hatten sie kaum miteinander gesprochen.
»Was wirst du nun machen?«, fragte Ann.
»Ich weiß nicht. Ich sehe keinen Weg, wie wir den Aufzug oder auch nur die Steckdose erobern könnten. Und wenn es gelänge, könnten sie immer noch den Aufzug abstürzen lassen.«
»Und?«
»Naja …« Er machte plötzlich ein besorgtes Gesicht. »Ich denke nicht, dass das gut wäre. Was meinst du?«
»Ich meine, er sollte heruntergeholt werden.«
Jetzt sah er verärgert aus. »Dann solltest du besser außerhalb der Falllinie bleiben.«
»Das werde ich auch.«
»Ich will nicht, dass ihn jemand ohne eine gründliche Diskussion herunterholt«, sagte er in scharfem Ton. »Er ist wichtig. Es sollte eine Entscheidung sein, die von allen auf dem Mars getroffen wird. Ich für meinen Teil denke, dass wir den Aufzug brauchen.«
»Nur haben wir keine Möglichkeit, ihn in Besitz zu nehmen.«
»Das wird sich noch zeigen. Inzwischen solltest du besser die Hände von solchen Dingen lassen. Ich habe gehört, was in Burroughs passiert ist. Aber hier läuft es anders. Verstehst du? Über Strategie entscheiden wir gemeinsam. Es muss diskutiert werden.«
»Darin ist diese Gruppe sehr gut«, sagte Ann bitter. Ständig wurde alles gründlich erörtert, und immer verlor sie. Die Zeit dafür war abgelaufen. Es musste jemand handeln. Aber Peter tat wieder so, als würde er von seiner wirklichen Arbeit abgehalten. Er dachte, er würde die Entscheidungen bezüglich des Aufzugs treffen – das sah sie ihm an. Ohne Zweifel Teil eines allgemeineren Gefühls, den Planeten zu besitzen, das Geburtsrecht der Nisei, die Ablöse der Ersten Hundert und aller übrigen Issei. Würde John noch leben, wäre das nicht leicht gewesen. Aber der König war tot – lang lebe der König, ihr Sohn, König der Nisei, der ersten wahren Marsianer.
Aber König oder nicht – es gab eine...
| Erscheint lt. Verlag | 8.2.2016 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Die Mars-Trilogie | Die Mars-Trilogie |
| Übersetzer | Winfried Petri, Eva Torhorst |
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Blue Mars |
| Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
| Schlagworte | eBooks • Kim Stanley Robinson • Mars • Meisterwerke der Science-Fiction • Terraforming |
| ISBN-10 | 3-641-11641-4 / 3641116414 |
| ISBN-13 | 978-3-641-11641-5 / 9783641116415 |
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