Autorität (eBook)
368 Seiten
Verlag Antje Kunstmann
978-3-88897-997-2 (ISBN)
Jeff VanderMeer wurde 1968 in Pennsylvania geboren und wuchs auf den Fidschi-Inseln auf. Er ist ein vielfach ausgezeichneter Science-Fiction-Autor, unter anderem mit dem renommierten World Fantasy Award, und Herausgeber zahlreicher Anthologien. Jeff VanderMeer lebt in Tallahassee, Florida.
Jeff VanderMeer wurde 1968 in Pennsylvania geboren und wuchs auf den Fidschi-Inseln auf. Er ist ein vielfach ausgezeichneter Science-Fiction-Autor, unter anderem mit dem renommierten World Fantasy Award, und Herausgeber zahlreicher Anthologien. Jeff VanderMeer lebt in Tallahassee, Florida.
RITUALE
005: ERSTER RISS
»Was ist das? Wo ist es? Wohin ist es gekrochen? Wo? Können Sie es sehen? Wohin es gekrochen ist? Wo ist es?«
Der Morgen nach einer Nacht voller Träume, in denen er am Rand der Klippe stand und nach unten starrte. Control stand mit Kaffeebecher und Frühstücksbrötchen auf dem Parkplatz eines Diners und starrte auf eine weiße Frau Mitte dreißig in einem violetten Business-Kostüm, zwei Wagen von seinem entfernt. Selbst jetzt, wo sie herumfuchtelte, um die Ameisenwespe zu finden, die sich auf ihr niedergelassen hatte, sah sie mit ihrem sorgfältigen Make-up und dem kurzen blonden Pagenschnitt wie eine echte Immobilienmaklerin aus. Aber das Kostüm passte ihr nicht richtig, die Fingernägel waren unregelmäßig geschnitten und der rote Nagellack war abgeblättert; er spürte, dass ihre Verzweiflung noch ganz andere Gründe als das Insekt hatte.
Die Ameisenwespe verharrte einen Moment lang reglos auf ihrem Nacken. Hätte er ihr das verraten, sie würde sofort zuschlagen. Manchmal musste man Leute davon abhalten, das Erstbeste zu tun, was ihnen einfiel.
»Halten Sie still«, sagte er, während er Kaffee und Brötchen auf den Kofferraum seines Wagens stellte. »Die ist harmlos, ich mach sie da weg.« Allen anderen schien es völlig egal zu sein. Die meisten, die aus oder in ihre Wagen und SUVs stiegen, ignorierten sie oder lachten sie aus. Aber Control lachte nicht. Er wusste auch nicht, wo auf ihm sich Area X niedergelassen hatte, und alle Fragen, die in seinem Kopf herumschwirrten, schienen ihm in diesem Augenblick ebenso fieberhaft und nutzlos gestellt wie die Fragen dieser Frau.
»Okay, okay«, sagte sie immer noch aufgebracht, während er eine hohle Hand machte und sie auf Höhe des Insekts hielt, das nach einem sanften, auffordernden Stupser hinaufkroch. Jetzt krabbelte es ziellos über seine Hand, rot-schwarz gestreift und weich, wenn auch ein bisschen kratzig.
Die Frau schüttelte den Kopf, reckte den Hals, als würde sie versuchen, auf dessen Rückseite zu schauen, schenkte ihm ein zögerliches Lächeln und sagte: »Danke.« Dann stürzte sie zu ihrem Wagen, als käme sie zu spät zu einem Termin, oder hätte Angst vor ihm, diesem fremden Mann, der ihren Nacken berührt hatte.
Control brachte das Tier zum Grünstreifen, der den Parkplatz umschloss, und ließ es von seinem Daumen auf die Holzabfälle kriechen. Die Ameisenwespe fand sich schnell zurecht und marschierte zielgerichtet in Richtung der Bäume, die zwischen Highway und Parkplatz standen; dabei orientierte sie sich auf eine Art und Weise, die Controls Horizont überstieg.
»Solange du den Leuten nicht sagst, dass du etwas nicht weißt, glauben sie vielleicht, dass du es weißt.« Das kam, überraschenderweise, von seinem Vater, nicht von seiner Mutter. Seine Mutter wusste so viel, dass sie möglicherweise nicht so tun musste, als würde sie etwas wissen.
War er die Frau, die nicht wusste, wo die Ameise war, oder war er die Ameise, die nichts ahnend auf einer Frau herumkrabbelte?
Control verbrachte die ersten fünfzehn Minuten im Büro damit, nach dem Schlüssel für die abgeschlossene Schreibtischschublade zu suchen. Er wollte dieses Rätsel lösen, bevor er auf das weit größere Rätsel in Person der Biologin traf. Das olle Brötchen, der kalt gewordene Kaffee und seine Aktentasche lagen achtlos neben seinem Computer. Sein Hunger hielt sich in Grenzen; der stechende Geruch des Reinigungsmittels hatte sein Büro erreicht.
Als er ihn schließlich gefunden hatte, setzte er sich hin, starrte einen Moment lang darauf und dann auf die abgeschlossene Schublade und den erdigen Fleck, der sich über die linke untere Ecke zog. Während er den Schlüssel im Schloss drehte, unterdrückte er den albernen Gedanken, er hätte noch jemanden hinzuziehen sollen, vielleicht Whitby.
Innen fand er etwas Totes – und etwas Lebendiges.
In der Dunkelheit der Schublade wuchs eine Pflanze, ihre purpurnen Wurzeln steckten in einem Klumpen Erde. Als hätte die Direktorin sie aus dem Boden gerissen und, aus welchem Grund auch immer, in die Schublade gelegt. Acht schmale Blätter von einem tiefen, fast phosphoreszierenden Grün ragten in unregelmäßigen Abständen aus einem steifen Stängel und formten, von oben betrachtet, eine ansprechende Krone. Von der Seite gesehen erinnerte die Pflanze allerdings an ein Lebewesen auf der Flucht, dessen Glieder, jetzt befreit, wie im Reflex über den Rand der Schublade griffen.
An der Wurzel lagen, zur Hälfte von der Erde verdeckt, die vertrockneten Überreste einer kleinen braunen Maus. Control fragte sich, ob die Pflanze sich irgendwie von ihr ernährt hatte. Neben der Pflanze lag ein uraltes Mobiltelefon der ersten Generation; es steckte in einer ramponierten Lederhülle, und unter Pflanze und Handy fand er einen Stapel Aktenmappen, die ganz offensichtlich nass geworden waren. Fast so, als wäre, bizarr genug, jemand her eingekommen und hätte die Pflanze von Zeit zu Zeit gewässert. Aber wer hatte das getan, jetzt, da die Direktorin fort war? Wer hätte das getan, und nicht eher Pflanze und Maus entfernt?
Control starrte die tote Maus einen Augenblick an und griff dann zögerlich darüber hinweg, um das Telefon zu bergen – die Hülle wirkte ein wenig zerschmolzen; mit der Spitze eines Stifts hob er bei ein, zwei Aktendeckeln die Ecke an. Wie er auf den ersten Blick sah, waren das keine offiziellen Akten, die Mappen waren voller handschriftlicher Notizen, Zeitungsausschnitte und weiterem, zweitrangigem Material. Er erfasste flüchtig ein paar Worte, die ihn alarmierten, und ließ die Seiten wieder zurückfallen.
Merkwürdigerweise wirkte das Ganze so, als hätte die Direktorin einen Komposthaufen für die Pflanze angelegt. Einen voller verschrobener Geheimdienstinformationen. Oder ein albernes wissenschaftliches Experiment: »Mausbetriebenes Bewässerungssystem für Datenübertragung und Instandhaltung der Biosphäre«. Auf den Forschungspräsentationen der Highschool hatte er schon eigenartigere Sachen gesehen, doch sein eigenes, wenig ausgeprägtes wissenschaftliches Verständnis hatte immer dafür gesorgt, dass er – wenn es ein paar Extrapunkte zu holen gab – immer auf die guten, alten Klassiker zurückgegriffen hatte, wie Miniaturvulkane, oder Kartoffeln aus Kartoffeln züchten.
Während Control weiterstöberte, ging ihm durch den Kopf, dass die stellvertretende Direktorin vielleicht doch recht gehabt hatte. Vielleicht wäre er mit einem anderen Büro doch besser dran gewesen. Er drückte sich hinter dem Schreibtisch hervor und begann, nach einem Gefäß für die Pflanze zu suchen. Hinter einem Bücherstapel fand er schließlich einen Blumentopf, vielleicht hatte die Direktorin auch nach so etwas gesucht.
Er griff wahllos nach ein paar Blättern von einem der Stapel auf seinem Schreibtisch – sollte sich in ihnen das Geheimnis von Area X verbergen, sei’s drum –, befreite die Maus sorgfältig von den Erdresten und beförderte sie in den Müll. Dann hob er die Pflanze in den Topf und stellte diesen auf die Schreibtischecke, die am weitesten von ihm entfernt lag.
Was jetzt? Er hatte das Büro ent-wanzt und ent-maust. Außer der Herkulesaufgabe, die Aktenstapel vom Staub zu befreien und durchzusehen, galt es nur noch die zweite Tür, die ins Nichts führte, zu überprüfen.
Control stärkte sich mit einem Schluck des bitteren Kaffees und ging hinüber zur Tür. Er brauchte ein paar Minuten, um Bücher und anderen Müll beiseitezuräumen, die sie verstellten.
Genau. Letztes Geheimnis, das es zu lüften galt. Er zögerte einen Moment lang, weil ihn der Gedanke ärgerte, dass er all diese kleinen Merkwürdigkeiten würde Voice berichten müssen.
Er öffnete die Tür.
Er starrte einige Minuten.
Dann schloss er die Tür wieder.
006: TOPOGRAFISCHE ANOMALIEN
Derselbe Verhörraum. Dieselben abgenutzte Stühle. Dasselbe unstete Licht. Derselbe Ghostbird. Oder doch nicht? Überreste eines fremden Schimmers in den Augen oder ihrem Ausdruck, genauer konnte er es nicht sagen. Etwas, das er während der ersten Sitzung nicht beobachtet hatte. Sie schien zugleich weicher und kompromissloser als vorher zu sein. »Wenn jemand sich zwischen der ersten und der zweiten Sitzung verändert hat, dann vergewissere dich, dass nicht du dich verändert hast.« Eine Warnung seiner Mutter, damals, als sie einen Karton mit Glückskeksen für Geheimagenten ausgekippt und einen herausgefischt hatte.
Control stellte beiläufig den Topf links neben sich auf den Tisch und legte ihre Akte in die Mitte, die omnipräsente Möhre. Hatte sie, als Reaktion auf den Topf, leicht die Augenbraue gehoben? Er war sich nicht sicher. Aber sie sagte nichts, wobei ein normaler Mensch doch vielleicht neugierig geworden wäre. Einer Laune folgend hatte Control die Maus wieder aus dem Müll geholt, zu der Pflanze in den Topf gelegt. An diesem deprimierenden Ort sah sie wie Abfall aus.
Control setzte sich. Er schenkte ihr ein dünnes Lächeln, aber auch das...
| Erscheint lt. Verlag | 14.1.2015 |
|---|---|
| Übersetzer | Michael Kellner |
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
| Schlagworte | Area X • authority • Autorität • Buch 2 • Buch 2 der Southern Reach Trilogie • Englische Literatur • Entdeckung • Expedition • Geheimnis • Grenze • Jeff VanderMeer • Katastrophe • Michael Kellner • Natur • Notizen • Recherche • Regierung • Science Fiction • SciFi • Southern Reach • USA • Verhör • Videoaufnahmen • Zivilisation |
| ISBN-10 | 3-88897-997-8 / 3888979978 |
| ISBN-13 | 978-3-88897-997-2 / 9783888979972 |
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