Der Anhalter (eBook)
440 Seiten
Blanvalet Verlag
978-3-641-15785-2 (ISBN)
Jack Reacher bemühte sich, harmlos auszusehen, was ihm mit seiner großen, massigen Gestalt und der gebrochenen Nase nicht leicht fiel. Umso dankbarer war er, als endlich ein Auto hielt, um ihn mitzunehmen. Die Frau und die beiden Männer im Wagen waren offensichtlich Kollegen, zumindest schloss Reacher das aus ihrer einheitlichen Kleidung. Er wusste nichts von ihrer Verwicklung in den Mord, der nicht weit entfernt verübt worden war. Für die Insassen des Wagens war Reacher nur eine Möglichkeit, die Polizei von sich abzulenken. Sie ahnten nicht, wer bei ihnen im Auto saß. Schließlich sah Reacher aus wie ein harmloser Anhalter …
Lee Child wurde in den englischen Midlands geboren, studierte Jura und arbeitete dann zwanzig Jahre lang beim Fernsehen. 1995 kehrte er der TV-Welt und England den Rücken, zog in die USA und landete bereits mit seinem ersten Jack-Reacher-Thriller einen internationalen Bestseller. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Anthony Award, dem renommiertesten Preis für Spannungsliteratur.
4
Zwei Schritte vor, einen zurück. Prüfen und noch mal prüfen. Sheriff Victor Goodman beschäftigte sich erneut mit dem zweiten Wagen, in den die beiden Männer seiner Ansicht nach umgestiegen waren. Er versuchte, so gut wie das für einen Mann in der Provinz möglich war, auf dem Laufenden zu bleiben, was nicht einfach war; denn vor ungefähr einem Jahr hatte er in einem Bulletin der Heimatschutzbehörde gelesen, bei Nacht sei Dunkelblau für Überwachungskameras am schlechtesten zu erkennen. Jacken, Mützen, Autos, was auch immer – Dunkelblau war kaum mehr als ein Loch in der Nachtluft. Schwer zu sehen, schwer zu definieren. Nicht dass es in Goodmans County irgendwelche Überwachungskameras gegeben hätte. Aber er rechnete sich aus, was für elektronische Objektive gelte, würde wohl auch für menschliche Augen zutreffen. Und er vermutete, die beiden Männer würden sich mit solchen Dingen auskennen. Deshalb konnte ihr versteckt gewesener zweiter Wagen dunkelblau sein.
Oder auch nicht.
Was sollte er also tun?
Letzten Endes tat er nichts. Was ihm als die klügste Wahl erschien. War seine Vermutung falsch, war es kontraproduktiv, an den Straßensperren besonders auf dunkelblaue Autos zu achten. Also ließ er seinen revidierten Fahndungsaufruf unverändert: zwei unbekannte Männer in einem unbekannten Wagen.
An dieser Stelle war die Interstate sechsspurig, und die drei nach Osten führenden Spuren waren voll mit Fahrzeugen. Limousinen, Lastwagen; SUVs krochen vorwärts, bremsten, hielten, warteten und krochen weiter. McQueen trommelte frustriert mit den Fingern aufs Lenkrad. King starrte geduldig durch die Frontscheibe nach vorn. Auch Delfuenso starrte nach vorn – allerdings sorgenvoll, als fürchtete sie, sich zu verspäten.
In die Stille hinein fragte Reacher: »Wohin seid ihr Leute eigentlich unterwegs?«
»Chicago«, antwortete King.
Womit Reacher insgeheim sehr zufrieden war. In Chicago gab es genug Busse. Massenhaft morgendliche Abfahrten. Nach Süden durch Illinois, nach Osten durch Kentucky, dann war man gleich in Virginia. Gute Neuigkeiten. Aber das sagte er nicht laut. Es war spätnachts, sodass vielleicht ein mitfühlender Tonfall angebracht war.
Er sagte: »Bis dorthin ist’s noch weit.«
»Sechshundert Meilen«, erklärte King.
»Und woher kommen Sie?«
Der Wagen hielt, fuhr ein kleines Stück weiter und hielt wieder.
»Wir waren in Kansas«, sagte King. »Bisher hatten wir keinen Verkehr, keine Verzögerungen. Dies hier ist unser erster Halt seit über drei Stunden.«
»Das ist ziemlich gut.«
»Allerdings! Auf der ganzen Strecke nie langsamer als sechzig. Ich glaube, dass Don hier buchstäblich zum ersten Mal gebremst hat. Hab ich recht, Don?«
McQueen sagte: »Außer als wir Mr. Reacher mitgenommen haben.«
»Stimmt«, erwiderte King. »Vielleicht hat das den Bann gebrochen.«
Reacher fragte: »Sind Sie geschäftlich unterwegs?«
»Immer.«
»In welcher Branche?«
»Software.«
»Tatsächlich?«, fragte Reacher, der höflich sein wollte.
»Wir sind keine Programmierer«, meinte King. »Die kennen nur Pizza und Skateboards. Wir arbeiten im Vertrieb.«
»Ihr Leute arbeitet schwer.«
»Immer«, widerholte King.
»Reise bisher erfolgreich?«
»Nicht allzu schlecht.«
»Ich dachte, Sie seien unterwegs, um das Team zusammenzuschweißen. Wie bei einer Übung. Oder Exerzitien.«
»Nein, bloß normale Geschäfte.«
»Wozu dann die Sache mit den Hemden?«
King lächelte.
»Die fallen auf, was?«, fragte er. »Der neue Stil unserer Firma. Die ganze Woche lang Freizeitkleidung – nicht nur freitags. Aber als Markenzeichen wie Spielertrikots. So funktioniert der Softwarevertrieb heutzutage. Der Wettbewerb ist brutal.«
»Leben Sie hier in Nebraska?«
King nickte. »Sogar nicht allzu weit von hier entfernt. In Omaha haben sich jetzt viele Hightechfirmen angesiedelt. Viel mehr, als man denken würde. Das dortige Geschäftsklima ist gut.«
Ihr Wagen rollte vorwärts, bremste, hielt, fuhr wieder ein Stück weiter. Dies war McQueens Privatauto, vermutete Reacher. Kein Mietwagen. Kein Firmenwagen. Zu abgenutzt, zu unordentlich. Der Kerl musste bei der Auslosung verloren haben. Als Fahrer für diesen Trip eingeteilt. Oder als Fahrer für alle Trips. Vielleicht war er das Mädchen für alles. Oder er fuhr nur gern. Ein Straßenkrieger. Ein Straßenkrieger auf einer Auszeit von seiner Familie. Weil er eindeutig ein Familienmensch und dies ein Familienauto war. Aber nur ein wenig. Es enthielt nur ein paar Kindersachen. Auf dem Wagenboden lag ein glitzerndes rosa Haarband. Nichts, was eine Frau tragen würde, vermutete Reacher. Und in der Mittelkonsole lag ein kleines Plüschtier mit abgewetztem Fell, an dem schon viel herumgekaut worden war. Eine Tochter, dachte Reacher. Irgendwo zwischen acht und zehn Jahren. Genauer konnte er ihr Alter nicht schätzen. Von Kindern verstand er sehr wenig.
Aber die Kleine hatte eine Mutter oder Stiefmutter, McQueen eine Frau oder Freundin. Das war klar. Überall lag feminines Zeug herum. Reacher sah eine mit Blumen bedruckte Kleenex-Schachtel, und in der Konsole lag gleich neben dem Plüschtier ein alter Lippenstift. Der Zündschlüssel hing sogar an einem Kristallanhänger. Hätte Reacher etwas riechen können, hätte er bestimmt einen Hauch von Parfüm in den Polstern wahrgenommen.
Reacher fragte sich, ob McQueen seine Familie fehlte. Vielleicht war der Kerl auch rundum zufrieden. Oder er mochte seine Familie nicht. Dann fragte McQueen: »Und was ist mit Ihnen, Mr. Reacher? In welcher Branche sind Sie tätig?«
»In gar keiner«, entgegnete Reacher.
»Sie sind Taglöhner, meinen Sie? Nehmen, was Ihnen angeboten wird?«
»Nicht mal das.«
»Soll das heißen, dass Sie arbeitslos sind?«
»Aber aus freien Stücken.«
»Seit wann?«
»Seit ich die Army verlassen habe.«
Darauf antwortete McQueen nicht, weil er nun abgelenkt wurde. Vor ihnen drängte der Verkehr sich auf der rechten Fahrspur zusammen. Diese Manöver in Zeitlupe kosteten die meiste Zeit. Ein Unfall, vermutete Reacher. Vielleicht war ein Wagen ins Schleudern geraten, von den Leitplanken abgeprallt und von anderen gerammt worden. Nur merkwürdig, dass es hier keine Feuerwehr gab. Keine Krankenwagen. Keine Abschleppwagen. Die Blinkleuchten befanden sich alle in gleicher Höhe auf den Autodächern. Sie waren so zahlreich und blinkten so eifrig, dass sie ein ständiges blau-rotes Leuchten erzeugten. Der Wagen kroch weiter. Anfahren, halten, anfahren, halten. Fünfzig Meter vor dem blau-roten Lichtermeer setzte McQueen seinen Blinker und quetschte sich in die rechte Spur. Nun konnte Reacher erkennen, woraus das Hindernis bestand.
Es war kein Unfallwagen.
Es war eine Straßensperre.
Der nächste Streifenwagen parkte schräg auf der linken Spur, und das wiederum nächste Polizeiauto im selben Winkel auf der mittleren Spur. Diese Schräge wies auf die rechte Spur, auf die nun alle Autofahrer wechseln mussten. Weitere Streifenwagen – insgesamt sechs – waren so aufgestellt, dass jeder Fahrer mühsam rechtwinklig abbiegen und durch eine lange Gasse zur linken der drei Fahrspuren der Interstate hinüberfahren musste, bevor er wieder Gas geben durfte.
Eine gut organisierte Straßensperre, fand Reacher. Der Stau garantierte, dass die Autos nur langsam herankamen, und die beiden rechten Winkel, die jeder Fahrer passieren musste, sorgten für langsames Tempo innerhalb der Sperre. Dass alle Fahrzeuge genau und gründlich durchsucht werden konnten, garantierte die lange schmale Durchfahrt zwischen den Cop Cars. Dies war nicht jemandes erstes Rodeo.
Aber wozu? Acht Streifenwagen bedeuteten eine Menge Aufwand. Und Reacher konnte schussbereite Schrotflinten sehen. Diese Straßensperre war keine Routineangelegenheit. Hier ging es nicht nur um Sicherheitsgurte oder Kennzeichen. Er fragte: »Haben Sie Nachrichten gehört? Ist irgendwas Schlimmes passiert?«
»Keine Aufregung«, antwortete King. »Das kommt gelegentlich vor. Wahrscheinlich ein ausgebrochener Häftling. Westlich von hier gibt’s ein paar große Strafanstalten, aus denen immer wieder Leute türmen. Verrückt, was? Kann doch nicht so schwer sein, die drinzubehalten. Da sind doch Schlösser an den Türen.«
McQueen stellte Blickkontakt im Spiegel her und sagte: »Der sind hoffentlich nicht Sie.«
»Wer soll ich nicht sein?«, fragte Reacher.
»Der ausgebrochene Häftling.«
Ein Lächeln in seiner Stimme.
»Nein«, sagte Reacher. »Eindeutig nicht ich.«
»Das ist gut«, sagte McQueen. »Weil wir sonst alle Schwierigkeiten bekämen.«
Sie schoben sich in der Warteschlange zentimeterweise vorwärts. Durch einen langen Tunnel aus Front- und Heckscheiben konnte Reacher die Troopers bei der Arbeit beobachten. Sie trugen ihre breitkrempigen Hüte, hatten Schrotflinten, die sie tief hielten, und große Maglites in der freien Hand. Mit den starken Stablampen leuchteten sie in die Fahrzeuge: vorn, hinten, oben, unten, zählten Köpfe, suchten Wagenböden ab und kontrollierten manchmal Kofferräume. Waren sie zufrieden, winkten sie das Auto durch und wandten sich dem nächsten zu.
»Keine Sorge, Karen«, sagte King, ohne nach hinten zu blicken. »Du bist bald wieder zu Hause.«
Delfuenso gab keine Antwort.
King sah sich nach Reacher um und fügte erklärend hinzu: »Sie...
| Erscheint lt. Verlag | 29.6.2015 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Die-Jack-Reacher-Romane | Die-Jack-Reacher-Romane |
| Übersetzer | Wulf Bergner |
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | A Wanted Man (17 Reacher) |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
| Schlagworte | action • eBooks • Jack Reacher • Jack Reacher, Reacher, Action, spiegel-bestseller, spiegel bestseller, US-Army • Reacher • Serien • spiegel bestseller • SPIEGEL-Bestseller • Thriller • US-Army |
| ISBN-10 | 3-641-15785-4 / 3641157854 |
| ISBN-13 | 978-3-641-15785-2 / 9783641157852 |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
| Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich