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Die Glücklichen (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2015
264 Seiten
Luchterhand (Verlag)
978-3-641-15636-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Glücklichen - Kristine Bilkau
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Ein großes Generationsporträt unserer Zeit

Isabell und Georg sind ein Paar. Ein glückliches. Wenn die Cellistin Isabell spätabends von ihren Auftritten mit dem Orchester nach Hause geht oder der Journalist Georg von seinem Dienst in der Redaktion auf dem Heimweg ist, schauen sie oft in die Fenster fremder Wohnungen, dringen mit ihren Blicken in die hellen Räume ein. Bei abendlichen Spaziergängen werden sie zu Voyeuren. Regalwände voller Bücher, stilvolle Deckenlampen, die bunten Vorhänge der Kinderzimmer. Signale gesicherter Existenzen, die ihnen ein wohliges Gefühl geben. Das eigene Leben in den fremden Wohnungen erkennen. Doch das Gefühl verliert sich.

Mit der Geburt ihres Sohnes wächst nicht nur ihr Glück, sondern auch der Druck und die Verunsicherung. Für Isabell erweist sich die Rückkehr in ihren Beruf als schwierig: Während des Solos zittern ihre Hände, nicht nur am ersten Abend, sondern auch an den folgenden. Gleichzeitig verdichten sich in Georgs Redaktion die Gerüchte, der Verlag würde die Zeitung verkaufen. Währenddessen wird ihr Haus saniert. Im Treppenhaus hängt jetzt ein Kronleuchter, im Briefkasten liegt eine Mieterhöhung. Für die jungen Eltern beginnt damit ein leiser sozialer Abstieg. Isabell und Georg beginnen mit einem Mal zu zweifeln, zu rechnen, zu vergleichen. Jeder für sich. Je schwieriger ihr Alltag wird, desto mehr verunsichert sie, was sie sehen. Die gesicherten Existenzen mit ihren geschmackvollen Wandfarben sagen jetzt: Wir können, ihr nicht. Was vertraut und selbstverständlich schien – die Cafés, Läden, der Park, die Spielplätze mit jungen Eltern –, wirkt auf einmal unzugänglich. Gegenseitig treiben sich Isabell und Georg immer mehr in die Enge, bis das Gefüge ihrer kleinen Familie zu zerbrechen droht.

Kristine Bilkau zeichnet in ihrem Debütroman »Die Glücklichen« das präzise Bild einer nervösen Generation, überreizt von dem Anspruch, ein Leben ohne Niederlagen zu führen, die sich davor fürchtet, aus dem Paradies vertrieben zu werden.

Kristine Bilkau, 1974 geboren, zählt zu den wichtigen Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur. Sie studierte Geschichte und Amerikanistik in Hamburg und New Orleans. Bereits ihr Romandebüt »Die Glücklichen« fand ein begeistertes Medienecho, wurde mit dem Franz-Tumler-Preis, dem Klaus-Michael-Kühne-Preis und dem Hamburger Förderpreis für Literatur ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Mit »Nebenan« stand sie auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Ihr neuer Roman »Halbinsel« wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2025 ausgezeichnet. Kristine Bilkau lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

2| Alle aus der Nachbarschaft scheinen handgemachte Brötchen zu wollen, bis vor die Ladentür stehen die Leute Schlange, an einem gewöhnlichen Mittwochmorgen, viele vertraute Gesichter, manche von ihnen grüßen, andere starren mürrisch vor sich hin. Sie mag diesen Andrang nicht, es hat etwas Dümmliches, trotzdem steht sie auch hier. Ihr gefällt die offene Backstube, Hände kneten Teig, verstreuen Mehl, verreiben es auf den Klumpen und kneten weiter. Die groben rotvioletten Hände des Meisters, die schlanken Hände einer jungen Frau, die gerade Petits Fours verziert. Die Brötchen liegen in Körben, keines gleicht dem anderen, manche haben Spitzen wie hervorspringende Nasen, andere knotige Dellen wie Bauchnabel, wie ein Bauchnabel am Ende der Schwangerschaft.

Nachdem sie bezahlt hat, nimmt sie die Tüte vom Tresen und verlässt den Laden. An einer roten Ampel fallen ihr die Zettel ein, sie trägt die Jeans von gestern. Manche tragen zu Konzerten ein bestimmtes Paar Socken, das sie vermeintlich beschützt. Manche hüten einen Bleistiftstummel, legen ihn auf die Kante des Notenständers, in dem Glauben, ohne hätten sie kein Talent mehr. Sie klaubt die zerdrückten Papierschnipsel aus den Taschen und wirft sie in einen Mülleimer.

Georg hat den Tisch gedeckt und nimmt ihr die Tüte ab. Zwei Brötchen hält er sich vor die Brust, aus beiden wölbt sich ein Teigknopf. Bevor das Blech in den Ofen kommt, muss der Lehrling jedem Teil den letzten Schliff geben, stellen sie sich gemeinsam vor, mit dem Finger stippt er in den Teig oder dreht einen Wirbel hinein. »Damit wir merken, dass wir Unikate essen«, sagt Georg. Während sie lachen, werden sie gebannt von Matti beobachtet, dann lacht er mit, und sie können nicht aufhören, weil das unwissende heitere Kind, das nach seinen eigenen Regeln etwas Lustiges entdeckt hat, sie von Neuem ansteckt.

Ihre und Georgs Hand an der Schranktür, »lass nur, ich mach schon«, sagt sie, einen Augenblick schneller als er nimmt sie das Dinkelpulver aus dem Schrank. Im Wasserkocher brodelt es, soll ich? Willst du? Sie kümmern sich zu zweit um ein Kind und kommen sich dabei ständig in die Quere. Georg reicht ihr die Porzellanschale für den Brei, »da steht schon eine«, sagt sie und zeigt zum Tisch.

Er nimmt die Bäckertüte und knüllt sie etwas zusammen. »Steht da Manufaktur drauf?«, fragt er und faltet das Papier wieder ein wenig auseinander. »Natürlich, Idioten«, murmelt er und lässt die Tüte in den Mülleimer fallen. »Und für den eitlen Quatsch musste der andere Laden dran glauben.« Graubrot, Bienenstich, seine Mutter habe dort früher gekauft, und außerdem die besten Schokoladeneclairs seines Lebens. Der alteingesessene Bäcker musste vor fast einem Jahr schließen, weil die Leute sich lieber bei dem neuen die Beine in den Bauch stehen, bis sie an der Reihe sind. Ein Blumengeschäft ist heute in den Räumen des früheren Bäckers, Floristenwerk, denkt sie und sagt den Namen lieber nicht, weil Georg den genauso blöd finden würde wie Manufaktur. Dort lagen dicke Blumenbündel in Zinnwannen, allein unzählige Rosensorten. Sie dachte an Postkarten mit historischen Schwarzweißbildern, Fotos von Hinterhöfen und nackten Kindern, die in Zinnwannen badeten. Matti war gerade vier Monate alt, als sie für Georg zum Geburtstag dort einen Strauß Wiesenblumen kaufte. Im Laden roch es nach feuchten Blättern und frisch geschnittenen Stielen. Kräuter wuchsen aus Emaillekübeln, sie waren beschriftet: Bohnenkraut, Liebstöckel, Kerbel, Majoran. Sie stellte sich den Alltag in dieser Gegend vor vielen Jahrzehnten, vor einem Jahrhundert vor, als es einen Milchmann gab, einen Kaufmannsladen, einen Kohlehändler, und als im Winter Eisblumen an den Fenstern wuchsen. Die Augen der Floristin glänzten, als würde sie sich und ihren Laden einfach nur wunderbar finden. Sie trug eine weiße Baumwollschürze mit einer Spitzenbordüre am Ausschnitt. Auf einem Tisch neben der Kasse standen kleine Töpfe, darin Pflanzen mit gelben Blüten, Butterblumen, wie lange hatte sie keine mehr gesehen, Scharfer Hahnenfuß, 3 Euro, stand auf einem Schild, das an einem Stäbchen in der Erde eines der Töpfe steckte, so hießen sie also unter Floristen. Als Kind hatte sie Butterblumen auf Kuhwiesen oder Deichen, wo Schafe grasten, gepflückt und achtlos wieder fallen lassen oder einer Kuh unters Maul gehalten. »Das wären dann fünfunddreißig Euro«, sagte die Verkäuferin und wickelte den Strauß in Seidenpapier. Sie weiß noch genau, dass sie sich anstrengte, nicht überrascht oder erschrocken zu wirken, denn sie hatte nicht genug Geld dabei, auch keine Karte, sie musste nach Hause, den Rest holen. Auf dem Weg fühlte sie sich hintergangen, nicht allein wegen der Summe, auch wegen der Zinnwannen und Butterblumen. Sie nahm sich vor, sobald wieder Sommer wäre, einen Ausflug zu machen, irgendwohin, wo Butterblumen wuchsen. Sie würde eine samt Wurzel ausgraben und mit nach Hause nehmen. »Die findest du auch um die Ecke, in Baulücken oder auf Hundewiesen«, sagte Georg nur.

Er kaut noch, während er sich die Turnschuhe zubindet und seinen Mantel überzieht. Sie mag den dunkelblauen Wollstoff und die Knebelverschlüsse aus glänzendem Holz. Während er seinen Mantel zuknöpft, hängen ihm die Locken in die Stirn, vereinzelt schimmern graue Haare hervor, wie feine Drähte setzen sie sich von den dunklen ab. Er selbst scheint es noch nicht bemerkt zu haben, selten schaut er sich länger im Spiegel an, es sei denn, er rasiert sich oder benutzt Zahnseide, aber auch dann schaut er sich nicht wirklich an. Manchmal, wenn er aus der Dusche steigt und die Tür offen steht, betrachtet sie ihn und stellt sich vor, wie es in dreißig Jahren sein wird. Sie, Mitte sechzig, mit hängenden Wangen und praktischem Kurzhaarschnitt, nein, mit langen Haaren, schulterlang wenigstens noch. Er, über siebzig, nicht mehr schlank, sondern mager. Ihr Sohn, Anfang dreißig; die Alten, ich muss mal wieder die Alten besuchen, wird er denken, und sie, das Ehepaar, werden nicht merken, dass ihre Wirbelsäulen krumm geworden sind, aber Matti wird es sehen. Nein, so wird es nicht kommen. Georg, ein grauhaariger Junge im Dufflecoat. Isabell, die alte Dame mit dem Cello, etwas dünn der Zopf, aber noch rötlich und glänzend, weil sie ihre Friseurtermine einhält. Die Stunden am Cello werden den Rücken gerade halten und die Musik wird das Gesicht glätten, die Musik glättet auch die Gedanken, es gibt Stücke, die das können, sie wird nachher üben, sie wird sich für den Abend wappnen, leichthändig wird ihr Spiel heute Abend sein, leichthändig, sie würde es gern glauben. Georg umarmt sie von hinten und drückt ihr seinen Mund auf den Nacken, dann geht er. Während sie seine Schritte im Treppenhaus hört, nimmt sie Matti sein Lätzchen ab und hebt ihn aus dem Kinderstuhl. Die Teetasse in der einen Hand, Matti im anderen Arm, geht sie ins Wohnzimmer. Auf der Steppdecke lässt sie ihn herunter, sofort greift er nach seinen Stofftieren und Holzklötzen, in denen es knistert und rasselt. Sie legt sich zu ihm und schiebt sich ein Kissen unter den Kopf. Durch die Plane kann sie den blauen Himmel erahnen, ein klarer Novembertag. Sie denkt an Sommertage, als das Gerüst noch nicht stand, wenn die Sonne schien, öffnete sie die Fenster weit und legte sich auf den gewärmten Parkettboden, so döste sie, während Matti im Stubenwagen schlief. Sie fragt sich, wo die Handwerker bleiben, auf dem Gerüst knarrt sonst jeder ihrer Schritte.

Matti krabbelt auf ihren Bauch und will beschäftigt werden, sie hebt ihn in die Luft, sein Gesicht über ihrem, er macht zufrieden gurgelnde Geräusche, von seinen Lippen löst sich ein dicker Speichelfaden, dem sie nicht ausweicht. Noch einmal stemmt sie den kleinen schweren Körper so hoch sie kann, dann lässt sie ihn langsam herunter und legt ihn sich zurück auf den Bauch. Ihre Lippen bleiben an seiner weichen Kopfhaut. Sein Haar wächst spärlich, nur hinten und über den Ohren hat sich ein Kranz aus Flusen gebildet, die wild abstehen, als hätte ein Windstoß sie aufgebauscht. Professor Hastig nennen sie ihn deshalb.

Die Abwesenheit der Handwerker ist wie eine wertvolle Ruhepause. Sobald einer der Männer vor dem Fenster arbeitet, stören die Geräusche und sie fühlt sich beobachtet, beim Üben, beim Telefonieren, Windeln wechseln, beim Herumsitzen und vor sich Hinstarren. Sie sollte die Stille nutzen, und die Freiheit, nicht gesehen zu werden. Sie legt eine CD ein, etwas kleines, kurzes, Lied ohne Worte, das Cello von Jacqueline du Pré, einen Moment bleibt sie bewegungslos stehen, lauscht und denkt über diese Frau nach. Mit Anfang zwanzig ein Star, ein paar Jahre später an Multipler Sklerose erkrankt, schließlich ein vom Körper erzwungenes Abschiedskonzert, mit Anfang vierzig starb sie. Die Zeit, in der sie zu krank gewesen war, um den Bogen nur zu halten, war länger als die, in der sie alles konnte. Ihre Geschichte ist wie ein Konzentrat aller Träume, allen Glücks und aller Risiken dieses Berufs. Angewiesen auf den Körper und sich selbst ausgeliefert zu sein. Schaut sie sich Videos von Konzerten an, wirkt das Spiel der Frau, als folge sie einem Trieb, alles geschieht instinktiv; kindlich, mädchenhaft sind ihre Gesichtszüge, der Körper straff und doch natürlich und entspannt, als geschehe alles wie angeboren.

Sie schiebt die Flügeltür auf und geht ins andere Zimmer, vor der Küchenanrichte bleibt sie stehen, ihrem Erinnerungsschrank, wie sie die Anrichte nennt, seitdem sie mit Georg zusammenwohnt und in den Fächern und Schubladen Kleinigkeiten aus ihren Schuljahren und der Studienzeit aufbewahrt, Notizen, Fotos und Kassetten, auf denen sie ihr eigenes Spiel...

Erscheint lt. Verlag 16.3.2015
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abstieg • Alltag • Angst • Anspruch • Beruf • Beziehung • eBooks • Eltern • Familie • Gegenwartsroman • Generation • Generation Y • Gesellschaft • Glück • Hamburger Förderpreis für Literatur • Hamburger Förderpreis für Literatur, Generation Y • Liebe • Nervosität • Niederlage • Paar • Probleme • Roman • Romane • Schwierigkeiten • Versagen
ISBN-10 3-641-15636-X / 364115636X
ISBN-13 978-3-641-15636-7 / 9783641156367
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