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Tumult (eBook)

eBook Download: EPUB
2014 | 2. Auflage
287 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73862-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tumult -  Hans Magnus Enzensberger
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Wie konnte in tausend Tagen so viel passieren? Wer sich nach einem halben Jahrhundert wiederbegegnet, muss auf Überraschungen gefasst sein. Hans Magnus Enzensberger hat sich auf dieses Abenteuer eingelassen: Ein zufälliger Kellerfund gab den Anlass für eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. 1963 führt den Autor eine erste Reise nach Russland, und unverhofft wird er zum Gast auf Chruschtschows Datscha in Gagra. Das Ergebnis ist ein genaues Porträt des Mannes und der sowjetischen »Tauwetter«-Politik dieser Zeit. Drei Jahre später durchreist Enzensberger die UdSSR vom äußersten Süden bis nach Sibirien. Auf diesem Parforceritt nehmen die Verwicklungen des »russische Romans«, der konfliktreichen Beziehung zu seiner zweiten, russischen Frau, ihren Anfang. 1968/1969 gerät der Dichter dann in eine Phase des politischen und privaten Tumults. Mitten im Vietnamkrieg folgt er einer Einladung an die Wesleyan University, aber schon nach wenigen Monaten lockt das Kuba der Revolution. Doch sind die Fraktionskämpfe der außerparlamentarischen Opposition in Berlin nicht so weit entfernt, als dass der Dichter nicht auch auf diesem Schauplatz zum Akteur würde ...

<p>Hans Magnus Enzensberger wurde am 11. November 1929 in Kaufbeuren geboren und starb am 24. November 2022 in M&uuml;nchen. Als Lyriker, Essayist, Biograph, Herausgeber und &Uuml;bersetzer war er einer der einflussreichsten und weltweit bekanntesten deutschen Intellektuellen.</p>

9Aufzeichnungen von einer ersten Begegnung mit Rußland
(1963)


Die Adresse war nicht ganz korrekt, aber dennoch landete der Brief in meinem Kasten: Budal Gar, Tome, Norwegen. Die Italiener haben immer Schwierigkeiten mit Buchstaben, die in ihrem Alphabet fehlen. Den Absender auf dem Kuvert konnte ich nicht auf Anhieb entziffern. Er bestand aus einer Abkürzung: Comes. »Caro amico«, las ich; der Mann, der mir so freundlich schrieb, hieß Giancarlo Vigorelli und unterzeichnete als Generalsekretär und Herausgeber der römischen Zeitschrift L’Europa Letteraria. Erst da fiel mir ein, daß ich ihn vor Jahr und Tag kennengelernt hatte. In Italien ist ein Talent wie das seine nicht allzu selten. Ehrgeiz, Geschicklichkeit und gute, parteiübergreifende Beziehungen verhalfen ihm zu Geldern, deren Herkunft undeutlich blieb. Er nutzte sie zur Gründung einer Organisation, die sich Comunità Europea degli Scrittori nannte. Böse Zungen verglichen ihn mit einem Impresario oder einem Zirkusdirektor. Aber das war ungerecht, denn seine Initiativen waren verdienstvoll. Weit und breit gab es, mitten im Kalten Krieg, niemanden, der sich mit so viel Eifer und Bonhomie darum bemühte, die Gräben zwischen den verfeindeten Blöcken wenigstens auf dem Terrain der Kultur zu überbrücken. Auf diese Weise hatte er bereits das eine oder andere Treffen zwischen »westlichen« und »östlichen« Schriftstellern zustande gebracht.

Nun hielt ich seine Einladung zu einer Begegnung in der Hand, die in Leningrad stattfinden sollte. Wie ich auf Vigorel10lis Liste geraten bin, war mir nicht klar. Denn auf ihr standen, wie er mir zu verstehen gab, Autoren aus vielen Ländern, darunter auch einige von großem Kaliber. Es war durchaus nicht selbstverständlich, daß Vigorelli auch an die Westdeutschen gedacht hatte. Leningrad war für unsereinen ein mythischer, um nicht zu sagen verbotener Ort, der nicht im nahen, sondern im fernen Osten lag; zum einen, weil ein deutsches Heer Leningrad vor zwanzig Jahren eingeschlossen, belagert und ausgehungert hatte, und zum andern, weil Jalta diese Stadt hinter einem Vorhang verschwinden ließ, der schwer zu öffnen war. Die Stimmung auf beiden Seiten der Berliner Mauer war militant, vergiftet von der Angst vor Eskalationen an der Naht der beiden Imperien.

Deutschland, das waren zwei Protektorate, auf der einen Seite die laue Bundesrepublik, auf der anderen die »Zone«, über die ich wenig Illusionen hegte, geimpft wie ich war durch den Augenschein und durch frühe Lektüre: Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, Orwells Homage to Catalonia und Verführtes Denken von Czesław Miłosz. Auch eine Dosis von marxistischen Grundkenntnissen hatte ich mir mit Hilfe eines Freiburger Jesuiten verschafft. Das war Gustav Wetter, der in zwei Bänden den Dialektischen Materialismus so sorgfältig präpariert hatte wie ein Kannibale den Säugling, den er verspeisen möchte. Er durfte das, mitten im Kalten Krieg, und vieles, was bei dieser Vivisektion zum Vorschein kam, hat mir eingeleuchtet. Aber was mir fehlte, und was Bücher nicht leisten können, war die Autopsie. Ich wollte mit eigenen Augen sehen, wie es auf der anderen Seite zuging, und zwar nicht nur in den Satellitenprovinzen, sondern in Rußland, das seit langem nur noch hieß: CCCP, Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.

11So kam es also, daß ich an einem Nachmittag im August – ich weiß noch, daß es ein Samstag war – mit einer russischen Maschine in Leningrad gelandet bin. Dort waren Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, Nathalie Sarraute, Angus Wilson, William Golding, Giuseppe Ungaretti und Hans Werner Richter angereist, und auf der östlichen Seite traten Michail Scholochow, Ilja Ehrenburg, Konstantin Fedin, Alexander Twardowski, Jewgeni Jewtuschenko, Jerzy Putrament aus Polen und Tibor Déry aus Ungarn auf. Auch aus der DDR hatte sich jemand eingefunden, ein gewisser Hans Koch, von dem nur zu hören war, daß er dem ostdeutschen Schriftstellerverband als Sekretär diente. Ingeborg Bachmann, die eingeladen war, hatte in letzter Minute abgesagt, und Uwe Johnson wollten die ostdeutschen und die russischen Offiziellen auf keinen Fall dabeihaben.

Dennoch brauchte man wohl den einen oder anderen Deutschen aus der Bundesrepublik; denn die Außenwelt hatte unsere politische Quarantäne allmählich aufgehoben. Aber welchen Deutschen? Max Frisch wäre besser gewesen, aber er war Schweizer. Doch gab es da nicht den wohlbekannten Hans Werner Richter? Die Saga von der Gruppe 47 hatte sich bis nach Moskau herumgesprochen. Das offizielle Debattenthema war unverfänglich: »Probleme des zeitgenössischen Romans«. Aber warum ich, der nie einen Roman geschrieben hatte? Zu meinen Gunsten fiel, glaube ich, vor allem mein Geburtsdatum ins Gewicht. Man konnte sicher sein, daß mit keinen unangenehmen Details aus der Nazizeit zu rechnen war; außerdem galt ich in einem vagen Sinn als »links«, was immer das bedeuten mochte.

12Ich war nie zuvor in Rußland gewesen. Mit den Sitten und Gebräuchen, die dort herrschten, war ich nicht vertraut. Da der sowjetische Schriftstellerverband die Regie übernommen hatte, galten wir als Delegation, um nicht zu sagen als Staatsgäste. Untergebracht wurden wir im besten Hotel der Stadt, der Europejska, gleich am Newski-Prospekt. Im Foyer lagen echte Teppiche aus dem Kaukasus, aus Buchara und aus Persien. Riesige Wannen auf gußeisernen Löwenfüßen standen in den überheizten Badezimmern. Es gab auch einen Wintergarten mit Palmen. Mit seiner etwas abgeschabten Pracht, seinen Kronleuchtern und schweren Schreibtischen stand das große Haus längst nicht mehr Herren wie Turgenjew und Tschaikowski oder später einem Gorki oder einem Majakowski zur Verfügung, sondern einer neuen Klasse von Gästen.

Ein kleiner Kiosk bot Zeitungen in vielerlei Sprachen feil, aber ich mußte mich mit dem Neuen Deutschland, der Unità und der Humanité begnügen. Von anderen Blättern konnte ich nicht einmal den Titel entziffern. War das Mongolisch, Armenisch oder Tadschikisch? Da hielte ich mich lieber an die Prawda, denn selbst mein miserables Russisch reichte aus, um die Schlagzeilen zu verstehen, weil dort stets zu erraten war, was sie verkündeten: Erfolgsmeldungen aus der Produktion und schlechte Nachrichten aus der kapitalistischen Welt. Auf kein Verständnis stieß mein Verlangen nach einem Stadtplan. Überhaupt schien sich niemand für Landkarten zu interessieren. Schon die Frage nach ihnen rief Erstaunen hervor. Nur Spione trachten nach derartigen Staatsgeheimnissen.

Dafür standen für unsere »Delegation«, die nur aus ihrem Leiter Hans Werner Richter und mir bestand, gleich zwei Begleiter bereit, die sich bald als unverdiente Glücksfälle er13wiesen. Zwar dienen solche Bärenführer vor allem als Dolmetscher, um stammelnden Ausländern auszuhelfen, aber sie haben auch noch andere Aufgaben; sie müssen nicht nur den Gast, sondern auch den Staat vor Ungelegenheiten schützen. Höhere Stellen erwarten von ihnen Berichte darüber, wie sich der Fremde benimmt und was er denkt. Lew Ginzburg war der eine, ein Gemütsmensch, hochqualifizierter Germanist und Übersetzer, der wohl nur aushilfsweise mit dieser Aufgabe betraut war. Auch dem anderen, Konstantin Bogatyrjow, so hieß er, schien wenig an offiziellen Pflichten zu liegen; ideologische Phrasen verscheuchte er wie lästige Fliegen. Ja, er äußerte sich schon bald derart abschätzig über die herrschende Partei und ihre Führung, daß ich überlegte, ob man nicht einen Provokateur auf uns angesetzt hatte. Bei der Allgegenwart der Überwachung lag dieser Gedanke nahe. Aber bald sah ich ein, daß mein Argwohn fehl am Platz war.

Kostja, wie er sich nannte, war ein schmächtiger, beinah unterernährter Mann von dreißig oder fünfunddreißig Jahren, dem man ansah, daß er schwere Jahre überlebt hatte. Er kannte den Apparat in- und auswendig und wußte, mit welchen Abstrafungen und mit welchen Privilegien man hier zu rechnen hatte, welche Läden es für die Bevorzugten gab und auf welche Abstufungen es dabei ankam. Als ich ihn fragte, woher sein beschädigtes Gebiß käme, sagte er kaltblütig, das sei ein Souvenir aus der Lagerhaft. Nach und nach erzählte er mir, als wäre das nichts Besonderes, von den Sträflingen, unter denen er dort, weit hinter dem Ural, ein paar Jahre zugebracht hatte. Mit Dentisten kannte er sich seitdem aus. Das erwies sich als hilfreich, weil Hans Werner über Nacht von Zahnschmerzen heimgesucht wurde, die ihn zwei Tage lang außer Gefecht setzten.

14Kostjas wahre Leidenschaft galt nie der Politik, sondern der Poesie. Vielleicht war sie ihm zum Verhängnis geworden, vielleicht hatte er verbotene Verse abgeschrieben und weitergegeben; dafür sprach, daß er Gedichte von Ossip Mandelstam auswendig zitieren konnte, ebenso wie Rilkes Duineser Elegien – und die sogar auf deutsch.

So etwas hat es in der russischen Intelligenzija immer gegeben. Kostja verkörperte das Ethos von Menschen, denen die Dichtung über alles ging, ein Kult, der bei uns schon lange nicht mehr existiert.

Soviel wußte sogar ich, daß Sankt Petersburg, Petro- oder Leningrad, diese vernachlässigte Schönheit, an jeder zweiten Straßenecke von literarischen Geistern heimgesucht wird. Doch von Puschkin, Gogol, Dostojewski, von den Serapionsbrüdern, von Dichtern wie Chlebnikow und Charms war nicht die Rede in den Debatten, die der Kongreß auf die Tagesordnung gesetzt hatte.

Konstantin Fedin, ein einflußreicher Mann, Vorsitzender des beinahe allmächtigen Autorenverbandes, schimpfte auf Joyce, Proust...

Erscheint lt. Verlag 20.10.2014
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Biografie • Biografien • Enzensberger, Hans M. • Erinnerungen • Russland • ST 4636 • ST4636 • suhrkamp taschenbuch 4636
ISBN-10 3-518-73862-3 / 3518738623
ISBN-13 978-3-518-73862-7 / 9783518738627
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