Drei Sensationen und zwei Katastrophen (eBook)
400 Seiten
Wallstein Verlag
9783835325326 (ISBN)
Der Autor: Joseph Roth (1894-1939) zählt zu den wunderbarsten und bedeutendsten deutschsprachigen Erzählern und Journalisten des 20. Jahrhunderts. Er wurde 1894 im galizischen Brody geboren und starb 1939 im Pariser Exil. Die Herausgeber: Helmut Peschina, geb. 1943, ist Schriftsteller. Rainer-Joachim Siegel, geb. 1948, ist Mathematiker und Verfasser der maßgeblichen Joseph-Roth-Bibliographie (1995) sowie Herausgeber einer Sammlung von neu aufgefundenen Texten Joseph Roths mit dem Titel »Unter dem Bülowbogen' (1994).
Der Autor: Joseph Roth (1894-1939) zählt zu den wunderbarsten und bedeutendsten deutschsprachigen Erzählern und Journalisten des 20. Jahrhunderts. Er wurde 1894 im galizischen Brody geboren und starb 1939 im Pariser Exil. Die Herausgeber: Helmut Peschina, geb. 1943, ist Schriftsteller. Rainer-Joachim Siegel, geb. 1948, ist Mathematiker und Verfasser der maßgeblichen Joseph-Roth-Bibliographie (1995) sowie Herausgeber einer Sammlung von neu aufgefundenen Texten Joseph Roths mit dem Titel »Unter dem Bülowbogen" (1994).
Im mittäglichen Frankreich.
Kino in der Arena.
In der Arena von Nîmes, wo die famosen Stierkämpfe an manchen Nachmittagen stattfinden, hat sich für die Abende ein Kino installiert, das immerhin kultivierter ist als ein Stierkampf. Man gibt die »Zehn Gebote«, den großen amerikanischen Film, den man in Deutschland schon kennt. Am Abend gehe ich in die Arena.
Man rechnet damit, daß es nicht regnet – und man hat’s leicht in Nîmes. Es regnet hier sehr selten und sehr kurz. Die Steine werden am Abend kühl. Ein paar Bogenlampen beleuchten die eine Hälfte der Arena. Die andere bleibt im Schatten. Aus ihm wachsen gespenstig und weiß die Konturen der rissigen großen Steinblöcke. Sie haben schon so viel erlebt, diese Steine. Im Mittelalter wohnten 200 Familien in den Mauern der Arena und errichteten (in einem der geräumigen Torbögen) die Kirche.
Im Krieg diente die Arena als Festung. Sie macht den Wandel der Zeiten durch und ist immer wieder der Wahrzeichen jeder Epoche. Im Jahre 1925 ist sie keine Kirche mehr, sondern ein Kino, in dem man allerdings die »Zehn Gebote« spielt. In einer Zeit, in der man sie nicht befolgt, ist das auch schon viel.
In der Mitte der Arena steht die Leinwand wie eine weiße Schultafel. Im gegenüberliegenden Torbogen surrt der Apparat. Die Musik sitzt vor der Leinwand. Die Zuschauer wandeln (für fünfzig Centimes) auf den höchsten und den etwas tieferen Steinsitzen. Manche, die es kühl und etwas frei haben wollen, stellen sich auf den obersten Rand der Mauer, schwarz gegen den blauen Himmel. Es ist ein herrliches Kino, hygienisch, kühl, ohne jede Feuergefahr und erhabener als ein Kino es nötig hat. Wenn ein Amerikaner zufällig darauf kommt, dann baut man im nächsten Jahr in den Vereinigten Staaten für Film-Abende die größte Arena der Welt aus Beton mit Plüschüberzug, Wasserleitung, Klosett und Glasdach.
Ehe die Vorstellung beginnt, tummeln sich die Kinder hinter der Leinwand und spielen Fangen, Vater, leih’ mir die Scher’ und Verstecken. Alle Kinder von Nîmes – das Volk ist hier fruchtbar – gehen ins Kino. Die Mütter vergessen nicht die Säuglinge mitzunehmen. Die jüngsten Kinobesucher zahlen nichts, sehen allerdings auch nichts, sondern liegen mit offenen Mündern gegen den nächtlichen Himmel, als würden sie Sterne schlucken wollen.
Beinahe könnte man’s. In dieser Gegend treibt der Himmel einen überraschenden Luxus mit Sternschnuppen. Sie fallen nicht im Bogen abwärts wie im Norden, sondern seitwärts so, als wechselten Sterne ihre Lage. Es gibt viele Arten von Sternschnuppen. Während auf der Leinwand eine sentimental, mit Ozean verwässerte Bibel gefilmt wird, betrachtet man am besten die Sternschnuppen. Manche sind rot, groß und klobig. Sie wischen langsam über den Himmel, als gingen sie spazieren und hinterlassen eine dünne blutige Spur. Andere sind silbern, klein und hurtig. Sie fliegen wie abgeschossene Kugeln. Andere sind strahlend, wie kleine laufende Sonnen, sie erhellen den Horizont beträchtlich für eine lange Weile. Manchmal ist es, als öffnete sich der Himmel und ließe ein Stück rotgoldenen Unterfutters sehen. Dann schließt sich schnell der Spalt und die Herrlichkeit ist wieder für ewig verborgen. Von Zeit zu Zeit fällt eine große, nahe Sternschnuppe. Dann ist es wie ein silberner Regen. Alle verschwinden in derselben Richtung. Dann ist wieder die scheinbare Ruhe am tiefen Blau, dieses ewige Stehen der Sterne, von denen man doch fühlt, daß sie wandern, auch wenn man es nicht gelernt hätte. Da sind wieder die alten vertrauten Sternbilder, die jeden Menschen an die Kindheit erinnern, weil man sie nur als Kind mit Inbrunst betrachtet. Sie sind überall. Da ist man so weit von seiner Kindheit fortgefahren und trifft sie doch wieder. So klein ist die Erde. Und wenn man einen Fleck auf ihr für die Fremde hält, so ist es ein Irrtum. Es ist überall Heimat. Der große Bär steht ein bißchen näher – das ist alles.
Es war ein guter Gedanke, in der alten römischen Arena einen Film aufzuführen. In diesem Kino gelangt man zu tröstlichen Resultaten, wenn man nicht auf die Leinwand sieht, sondern auf den Himmel.
Ein Kino im Hafen.
Das Kino liegt gegenüber den Schiffen. Von der See aus kann der Mensch, der die Freuden des Kontinents lange entbehrt hat, die großen bunten Plakate mit dem Feldstecher sehen. Das Kino heißt bescheiden: Kosmos-Theater. Man gibt den Film von den »Roten Wölfen«.
Die »Roten Wölfe« sind eine Räuberbande in den Abruzzen. Sie haben Margot geraubt, ein schönes Mädchen, und haben es in einem unerreichbar hohen Turm verborgen. Aber was ist unerreichbar, was ist hoch? Ein tapferer junger Mann, Cesare mit Namen wird Mitglied der »Roten Wölfe«, aber nur zum Schein, und befreit Margot.
Sie glauben wohl, es wäre eine Kleinigkeit, Mitglied einer Räuberbande zu werden? Sie irren sich! Es ist unendlich schwierig. Man muß eine Aufnahmeprüfung bestehen: im Ringen, im Messerstechen und im Armbiegen.
Diese Aufnahmeprüfung ist der wichtigste Teil des Films. Cesare besteht sie und erobert nicht nur den Beifall der »Roten Wölfe«, sondern auch den der Zuschauer, deren sehnsüchtigster Traum es ist, Räuber in den Abruzzen zu sein.
Von zehn Uhr vormittags bis zwölf Uhr nachts wird im Kino der Film von den »Roten Wölfen« achtmal gegeben. Achtmal im Tag besteht Cesare die Aufnahmeprüfung. Achtmal begeistern sich die Zuschauer, von denen ein Drittel den ganzen Tag im Kino sitzt.
Dieses Drittel sind Frauen und Kinder. Bei Tag ist es im dunklen Kino kühler als in der engen Wohnung und in der noch engeren Gasse. Die Frauen gehen also zur Abkühlung ins Kino. Die Kinder zahlen nichts. Jede Besucherin hat mindestens vier Kinder. Sie zahlt für einen Platz und nimmt fünf ein.
Am Abend kommen die Männer, Arbeiter aus dem Hafen, essen, waschen sich und gehen ins Kino. Sie haben gestern und vorgestern die Taten Cesares gesehen und bejubelt. Aber derlei Helden kann man nicht oft genug sehen, wenn man nichts mehr als ein Hafenarbeiter ist – mit der Sehnsucht im Herzen, Räuber in den Abruzzen zu sein.
Noch romantischer als ein Hafen ist eine Räuberhöhle in den Abruzzen. Dem Tagelöhner, der heute ein Fischer ist, morgen angeheuert wird, übermorgen in einem anderen fernen Hafen zu dem Film von den »Roten Wölfen« geht, ist sein eigenes Leben nicht romantisch genug.
Ich möchte wissen, ob die Räuber aus den Abruzzen in ein Kino gehen, in dem ein Film von den Seelöwen von Marseille gespielt wird. Die Räuber aus den Bergen beneiden die Männer aus dem Hafen. Der Räuber verrichtet sein romantisches Geschäft wie ein nüchternes Handwerk und träumt von einer fremden Romantik. Davon lebt die Filmindustrie.
Dabei haben die Männer aus dem Hafen ungefähr die gleichen Sitten wie die von den Bergen. Auch die Hafenleute stechen mit korsischen Messern, biegen mit Leidenschaft die Arme der Kollegen und ringen mit den besten Freunden. Sie freuen sich, daß in den Abruzzen dieselben Freuden üblich sind. Während sie im Kino sitzen, ziehen sie die Messer und, das Auge noch auf die Leinwand geheftet, strecken sie schon die Hände gegen den Nachbarn aus, um ihm einen kleinen, spielerisch leichten Stich zu versetzen. Der Nachbar, der sich nicht alles gefallen läßt, fordert den Freund auf, vor die Leinwand zu treten und es dem Helden Cesare gleich zu tun.
Man sieht also im Kino nicht nur die Taten der Männer aus den Abruzzen, sondern auch die der Männer aus Marseille.
Indessen hämmert der Klavierspieler immer wieder die »Tochter des Regiments«. Kein Wunder, daß sich die Zuschauer langweilen. Sie verlangen ein anderes Lied. Der Klavierspieler erhebt sich, geht hinaus und der Film läuft ohne Musik weiter.
Nach einer Weile sieht man einen großen ergrimmten Mann. Er läßt sich die Frechheit eines Klavierspielers nicht gefallen. Man weiß, was es bedeutet, wenn ein sehr großer, sehr breiter Mann, mit einem breiten, roten Gürtel um die Hüften, mit einer zwei Zentimeter kurzen Stirn und mit Händen wie eiserne Schaufeln, sich die Frechheit eines winzigen Klavierspielers mit Regenschirm und Cutaway nicht gefallen lässt.
Nach fünf Minuten zappelt der Klavierspieler in der eisernen Faust des erbitterten Besuchers, es wird hell und die Gäste lachen. Der Riese winkt mit der Linken zum Publikum, setzt den Klavierspieler vor das Instrument und befiehlt das von der Mehrheit gewünschte Lied.
Dann läuft der Film weiter.
Ich sitze zwischen zwei Kindern, die auf meinen Knien mit Glaskugeln spielen. Es sind zwei schöne, schmutzige Kinder. Ich möchte sie streicheln. Die Kinder stehlen einander die Kugeln und verbergen sie in meinen Rocktaschen. Ihr Vater zündet ein Streichholz an und leuchtet mir ins Gesicht. Er will wissen, ob seine...
| Erscheint lt. Verlag | 1.10.2014 |
|---|---|
| Mitarbeit |
Kommentare: Helmut Peschina, Rainer-Joachim Siegel |
| Verlagsort | Göttingen |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
| Schlagworte | 20. Jahrhundert • Cineasten • Cinema • Deutschland • Essays • Feuilleton • Feuilletonist • Filmbranche • Filme • Filmgeschichte • Filmkritik • Filmkritiker • Genre • Joseph Roth • Journalismus • Kino • Leo Mittler • Medien • Medium • Rezensionen • Stummfilm • Tonfilm • Weimarer Republik • Zeitung |
| ISBN-13 | 9783835325326 / 9783835325326 |
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