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Herr Adamson (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
208 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60579-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Herr Adamson -  Urs Widmer
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Es ist Freitag, der 22. Mai 2032. Einen Tag nach seinem vierundneunzigsten Geburtstag sitzt ein Mann in einem üppig blühenden Garten es ist der Paradiesgarten seiner Kindheit , neben sich einen Rekorder, und spricht seine Geschichte mit Herrn Adamson auf Band. Ein Buch über den Tod, erzählt in einer herzerwärmenden Heiterkeit.'

Urs Widmer, geboren 1938 in Basel, studierte Germanistik, Romanistik und Geschichte in Basel, Montpellier und Paris. Danach arbeitete er als Verlagslektor im Walter Verlag, Olten, und im Suhrkamp Verlag, Frankfurt. 1968 wurde er mit seinem Erstling, der Erzählung ?Alois?, selbst zum Autor. In Frankfurt rief er 1969 zusammen mit anderen Lektoren den ?Verlag der Autoren? ins Leben. Für sein umfangreiches Werk wurde er u.a. mit dem Heimito-von-Doderer-Literaturpreis (1998) sowie dem Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg (2007) ausgezeichnet. Urs Widmer starb 2014 in Zürich.

Urs Widmer, geboren 1938 in Basel, studierte Germanistik, Romanistik und Geschichte in Basel, Montpellier und Paris. Danach arbeitete er als Verlagslektor im Walter Verlag, Olten, und im Suhrkamp Verlag, Frankfurt. 1968 wurde er mit seinem Erstling, der Erzählung ›Alois‹, selbst zum Autor. In Frankfurt rief er 1969 zusammen mit anderen Lektoren den ›Verlag der Autoren‹ ins Leben. Für sein umfangreiches Werk wurde er u.a. mit dem Heimito-von-Doderer-Literaturpreis (1998) sowie dem Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg (2007) ausgezeichnet. Urs Widmer starb 2014 in Zürich.

[105] ICH habe Herrn Adamson seither nie mehr gesehen, oder nein: ein einziges Mal doch. Viele Jahre später, vor vielen Jahren. Kurz nur, sehr kurz, und er war so anders, dass ich manchmal denke, das war er gar nicht, das war ein finster-verstörter Doppelgänger. Gewiss bin ich mir, dass das nächste Mal jenes sein wird, wo. Ich schaue jetzt, wo ich seine Geschichte erzähle, nach ihm aus. Unruhig, und mit einer gewissen Sehnsucht. Wenn ich jenes eine Mal nicht mitzähle, ist es heute sechsundachtzig Jahre her, dass ich ihn nicht gesehen habe.

Natürlich habe ich Herrn Adamson nicht vergessen. Nie, natürlich nicht. In den ersten Wochen nach meiner Rückkehr dachte ich ununterbrochen an ihn. Sah ihn hinter jeder Häuserecke und fuhr erschrocken – oder, wer weiß, entzückt – herum, wenn ich in meinem Rücken ein ungewohntes Geräusch hörte. Mit der Zeit aber verblasste sein Bild, und es kamen Jahre, da ich kaum mehr an ihn dachte. Viele dieser Jahre sind vergangen. Ein Leben. Es versprach einst, schier ewig zu werden, und es ist wie ein kurzer Windstoß an mir vorbeigeweht.

Die Rückkehr aus Mykene war ein Abenteuer, wie es auch ein Navajo selten bestehen darf. Gott sei Dank trug ich immer noch die magische Feder in den Haaren, und der Knochen beschützte mich. [106] Jedenfalls, der jüngere der beiden Polizisten schob plötzlich sein auf Hochglanz gewienertes Fahrrad durch die Tür ins Freie und setzte sich auf den Sattel. Der alte packte mich und setzte mich auf den Gepäckträger. »Έτοιμοι!«, rief er, gab dem jungen einen Klaps auf den Rücken, und der fuhr so heftig los, so schwankend, dass ich aufschrie – vor Angst? Vor Begeisterung? – und die Arme um seinen Bauch schlang. Genauer gesagt, ich hielt mich am Knochen fest, den ich quer vor ihn gelegt hatte. Der alte Polizist rannte schnaufend und mit einem immer roteren Gesicht neben uns her, bis sein Kollege Tritt gefasst hatte und zügig dahinfuhr. Ich drehte den Kopf nach hinten und sah ihn in der Mitte des Wegs stehen. Er hatte ein Taschentuch in der Hand, das so groß wie eine Fahne war, und winkte. Ich getraute mich nicht, den Knochen vor dem Bauch meines Piloten loszulassen, tat es dann doch und winkte auch, kurz, schnell: Und dennoch geriet ich für eine Sekunde so aus dem Gleichgewicht, dass ich ums Haar von meinem Sitz gekippt wäre und das Fahrrad in eine bedrohliche Schräglage zwang. Wir schlingerten von einem Wegrand zum andern. Der junge Polizist fluchte. Aber dann hatte er sein Gefährt wieder unter Kontrolle, und bald flogen wir regelrecht dahin. Rechts und links fegten die Olivenbäume vorbei. Schafe, [107] Steinhütten, hie und da ein Bauer oder eine Bäuerin, die dieser seltsamen Fuhre verdutzt nachsahen. Der Polizist sang jetzt, eine Melodie, die an einen Muezzingesang erinnerte, einmal abgesehen davon, dass ich noch nie einen Muezzin gehört hatte. Dazu bediente er in einem immer schnelleren Rhythmus seine Fahrradklingel. Bald sang ich mit, wie ein Navajo eher, nicht wie ein Türke oder Sarazene. Hühner stoben vor uns davon. Die Steine des Wegs spritzten nach allen Seiten. Eine Zeitlang verfolgte uns ein Hund, aber er konnte, obwohl er den Kopf weit vorstreckte und die Zunge aus seinem Maul hing, das inzwischen teuflische Tempo meines Fahrers nicht halten und blieb weit zurück. Sein Bellen klang immer ferner. Der Polizist, entfesselt, rief mir etwas über die Schulter zu, was ich, auch wenn es griechisch war, verstand und mit einem begeisterten Kreischen beantwortete: »Ja! Gib dem Rad Zunder! Schneller!« Wir sausten nun so, dass ich den Bauch meines Retters noch fester umklammerte, eine Wange an seinen Rücken presste, die Augen schloss und mit offenem Mund die glühende Luft atmete, die der Fahrtwind nicht zu kühlen vermochte und die mir die Lungen verbrannte.

So flogen wir dahin, und in meiner Erinnerung sieht es so aus, als habe mich der Polizist, wie eine Windsbraut durch die Lüfte hetzend – tief unter [108] uns ein blaues Meer –, bis vors Haus gefahren, im Nu. Die letzten Meter fuhr er jedenfalls wieder auf der Straße – das erinnere ich doch gewiss? –, freihändig und mit weit ausgebreiteten Armen wie ein Jesus oder ein Sieger der Alpenetappe der Tour de France. Er hielt vor dem Gartentor, ließ mich absteigen, sagte »Φτάσαμε!«, griff salutierend an seine Mütze – ja, er trug sein Polizeikäppi! –, wendete und radelte davon. Wie ein Kamikaze verschwand er im Abgrund der Straße, vorn beim Haus der weißen Dame.

Meine Mutter und mein Vater kamen aus dem Haus gestürzt. Mein Vater war schneller, umarmte mich als Erster und schluchzte los. Die Tränen rannen ihm so über die Stoppeln seines Dreitagebarts, dass sie mich nass spritzten. Ein Vater, der weint! Meine Mama, als der Papa mich endlich freigab, drückte mich so sehr an sich, dass ich zu ersticken drohte. »Hilfe!«, keuchte ich, auch weil der Knochen zwischen ihr und mir eingeklemmt war. Meine Mutter war so von Sinnen, dass sie das Harte zwischen uns gar nicht bemerkte.

»Was ist passiert?«, schrien beide. »Zwei Tage! Zwei Nächte!« Mein Vater war so erregt, so besorgt, wie ich ihn noch nie gesehen hatte, und die Mutter rang die Hände. »Einfach weg!«

Gewiss hatte ich Herrn Adamson mein heiliges [109] Indianerversprechen gegeben, ihn nicht zu verraten, besonders wenn ich – was jetzt der Fall war – meine Häuptlingsfeder trug und den Gesetzen der Navajos gehorchte, die für den Verrat eines Geheimnisses den Marterpfahl vorsahen. Aber das, was ich erlebt hatte, hatte auch mich durchgeschüttelt, mein Herz und auch den Hintern. Der tat mir schrecklich weh, weil der Gepäckträger des Fahrrads des Polizisten aus drei oder vier messerharten Metallleisten bestanden hatte und ich den ganzen Weg lang, an den Rücken des Polizisten geklammert, hoch- und niedergeworfen worden war. Ich war nicht fähig, meine Mama, meinen Papa anzulügen: diesen lieben Papa, der mich aus nassen Augen anschaute, und meine Mutter, deren warmen Atem ich in meinen Haaren spürte. Ich musste die Wahrheit sagen! Also erzählte ich, wie ich im Garten von Herrn Kremers Villa Herrn Adamson kennengelernt hatte. Einen netten alten Herrn mit einer Oberlippe, die wie das Vordach unserer Haustür aussah, einem kahlen Schädel mit drei steifen Haaren darauf, und mit Glupschaugen. Wie wir Fangen gespielt hatten, und Verstecken. Wie schnell er dahinfegte, wie behende. Wie ich in ihn hineingestürzt und er durchlässig wie ein Lichtvorhang gewesen war. Wie er mir sagte, dass er ein Toter war. Mein Vortoter. Wie ich, in ihm drin, [110] den Eingang in die andere Welt bewältigte, obwohl dieser für uns Sterbliche eine undurchdringbare Mauer ist. Wie die andere Welt war: dunkel, und mit einer Luft erfüllt, die einem Schleim glich, einem dennoch atembaren Schleim. Ich saß nun auf dem Schoß der Mama und erzählte, manchmal weinend, zitternd zuweilen, wie eine überwältigende Musik mich durch ein Unterweltsall geschleudert hatte, hinauf und hinab. Wie Herr Adamson mich umflatterte und dennoch auch ein Spielball der entsetzlichen Energien zu sein schien, die mir die Sinne raubten. Wie ich im Blut watete – »nein, Papa, Mama, nein, ich war nicht tot!« – und auf eine schweigend stehende Mauer aus für ewig verurteilten Seelen zuging. (Jetzt, wo ich ihnen entronnen war, sah ich sie deutlicher als damals, als ich ihnen ausgeliefert war.) Jener Abermilliarden, die, anders als Herr Adamson jetzt noch, nie mehr nach oben durften und ihrer absoluten Verschattung entgegendämmerten. Wie alle ähnlich waren – grün oder grau, mit toten Augen und nach unten hängenden Mundwinkeln – und sich jeder immer noch vom anderen unterschied. Gleich allerdings im Verlorensein. Darin, dass sie alle von allen guten Geistern verlassen waren, unendlich allein, endgültig einsam und ohne Trost. Wie kein Hauch einer Liebe in ihnen war und ihre Wut, ihr Zorn, ihr [111] Tötenwollen aus keinem Herzen kamen. Dieses Zuschnappen, das Totbeißenwollen war etwas wie ein Nervenzucken, ein Reflex allenfalls, eine Erinnerung vielleicht, so dass die Mordbisse lustlos blieben und mich verfehlten, auch wenn sie immer näher kamen, immer bestimmter wurden, immer allgemeiner. Irgendwann biss jeder in meiner Nähe, und es konnte endlich – all das erzählte ich, und mir schien mehr und mehr, dass ich mich an jede Einzelheit erinnerte – nicht ausbleiben, dass einer der blinden und ungewissen Bisse mich erwischte. Zerfetzte. Wie ich, in einer jähen Eingebung, sang. (»Du hast gesungen?«, stammelte mein Vater, wie aus einer Betäubung aufwachend. Ich nickte. »Ich dachte, wenn ich singe, tun sie mir nichts.«) Wie ich nach einer Zeit der kalten Panik den Toten entkam und einen Weg hinanging, der tatsächlich flacher war. Wie neue Tote an mir vorbeiglitten wie Steine oder Säcke, geleitet von neben ihnen herhüpfenden Begleitern. Dass die endgültig Toten von hoch oben wie ein graugrüner Teppich aussahen, der sanft wogte und weit weg hinter einem Horizont verschwand. Gewiss waren hinter diesem noch andere Tote. Zweifellos füllten die Toten das ganze Erdenrund an seiner Innenseite, und sicher führten auch Eingänge auf den Osterinseln oder in Australien in diesen einen Totenraum. Im Erdinnern war [112] kein Magma, schon gar keine Christenhölle. Da waren die Toten.

»Ach, Bub!«, sagte die Mama und brach in Tränen aus.

Ich wühlte meinen Hals noch tiefer zwischen ihre Brüste. Sie strich mir über die Haare. Die Feder fiel neben mir zu Boden. »Die Feder!«, kreischte ich und setzte mich gerade. »Ich brauche die Feder!« Mein Vater bückte sich und gab sie mir. Ich steckte sie wieder in die Haare, ohne...

Erscheint lt. Verlag 23.7.2014
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2032 • Älterwerden • Erinnerungen • Humor • Leben • Lebensgeschichte • Roman • Sterben • Tod • Urs Widmer • Zukunft
ISBN-10 3-257-60579-X / 325760579X
ISBN-13 978-3-257-60579-2 / 9783257605792
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