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Opferland (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2014
cbj (Verlag)
978-3-641-14237-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Opferland - Bettina Obrecht
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Wenn die Schule zur Hölle wird ...

Jahrelang wurde Cedric gemobbt, mehrere Schulwechsel hat er hinter sich. Doch jetzt besucht er eine entfernte Stadtschule, hier kennt ihn niemand, hier scheint ein Neuanfang möglich. Dafür nimmt Cedric sogar die Trennung von seiner Familie in Kauf. Doch als der Schul- Liebling Lars ihn zum Spaß »Opfer« nennt, brennen bei Cedric die Sicherungen durch und die Vergangenheit holt ihn ein - gnadenlos. Nur die zurückhaltende Sinja hält noch zu ihm. Werden die beiden es schaffen, dem »Opferland« endlich zu entfliehen?

Bettina Obrecht wurde 1964 in Lörrach geboren und studierte Englisch und Spanisch. Sie arbeitet als Autorin, Übersetzerin und Rundfunkautorin und wurde für ihre Kurzprosa und Lyrik mehrfach ausgezeichnet. Schon lange hat sie sich in die »Garde wichtiger Kinderbuchautorinnen hineingeschrieben« (Eselsohr).

1. Der kleine Lord haut dem Prinzen in die Fresse

Nein! Ich werde diese Rolle nicht spielen, niemals!

Warum denn ich?

Ausgerechnet ich?

Hört bloß auf, das kann doch kein Zufall sein.

Ihr macht mir nichts vor.

Geht das denn immer weiter? Wer hat Charly auf diese Idee gebracht? Keiner meiner Mitschüler, kein Lehrer weiß davon, keinem habe ich davon erzählt, ich war einer von ihnen, habe mich nie auffällig benommen, kleide mich wie sie, rede wie sie und schweige wie sie. Schweigen kann ich besonders gut – vielleicht zu gut. Das ist eine der Fähigkeiten, die ich mir in den letzten Jahren angeeignet habe. Es ist ganz leicht, etwas Falsches zu sagen, schweigen dagegen geht fast immer. Sinja behauptet, dass Schweigen keine Garantie ist. Auch wer schweigt, kann etwas Falsches machen. Man kann im falschen Moment schweigen oder einfach nur zu lange.

Sinja redet selbst nicht viel, nur manchmal, wenn die Sterne richtig stehen, im Radio ihre Lieblingslieder gespielt werden, ein besonders bunt gefärbtes Ahornblatt vor ihren Füßen dahinwirbelt, kurz, wenn sie einen dieser seltenen makellos guten Tage erlebt. An so einem Tag kann sie sogar so viel reden, dass jeder Sportmoderator blassgrün vor Neid würde. Aber das ist nicht Sinjas Normalzustand, überhaupt nicht. Im Gegenteil.

Weil sie normalerweise sehr wenig redet, ist sie der Ansicht, sie verstünde etwas vom Schweigen.

Sie denkt womöglich auch, sie verstünde etwas von mir.

Aber sie täuscht sich, sie weiß nicht wirklich, wer ich bin. Sie kennt zwar das eine oder andere Detail aus meinem Leben mehr als die Leute in meiner Klasse oder in der Theatergruppe, aber meine Geschichte kennt sie nicht und soll sie auch nicht kennen, denn ich habe diese Geschichte in eine Kiste gepackt und vergraben und werde niemandem jemals verraten, wo. Ich rede jetzt nicht von einer virtuellen Kiste, die es nur irgendwo in meiner Vorstellung gäbe, sondern von einer echten Blechkiste, in der unter anderem ein vollgekritzeltes Notizbuch ruht, von einer Kiste, die ungefähr einen Meter tief in der Erde vergraben liegt – tiefer bin ich mit dem Spaten leider nicht vorgestoßen –, die da unten auch bleiben soll für immer. Falls ich das Pech habe, dass ein zukünftiger Archäologe in ferner Zukunft mit seinem hypergalaktischen Metalldetektor auf meine Kiste stößt, ist das Papier vermutlich zerfallen – ich habe gelesen, Papier hält heutzutage nicht mehr lange, fünfzig Jahre oder so –, oder aber bis dahin ist kein lebendiges Wesen mehr in der Lage, unsere merkwürdige Schrift zu entziffern. Hallo, Herr Professor in ferner Zukunft! Ich gehe davon aus, unsere Wörterbücher haben sich zu Ihren Lebzeiten längst in Nichts aufgelöst. Nach ein paar Jahren oder nach nur einem elektromagnetischen Blitz in der richtigen Stärke sind die einfach verschwunden. Ach, in einer wunderbaren Zeit leben wir heute, sie ist besser als jede zuvor! Nichts wird mehr für die Ewigkeit festgehalten, alles existiert kurz, flackert auf und verschwindet dann im digitalen Nirwana, keiner wird sich jemals an all den ganzen Müll erinnern, der hier momentan geredet und aufgeschrieben wird, keine Zukunft muss sich davon beschmutzen lassen. Was für eine Erleichterung! Die alten Maya, die ihre Tagebücher noch in Stein meißeln mussten, werden sich ewig ärgern.

So gesehen hätte ich meine Geschichte sicherheitshalber erst gar nicht auf Papier schreiben sollen, sondern digital, hätte sie auf irgendeinen Stick speichern sollen, eine CD brennen, um sie loszuwerden. Aber man weiß ja, dass unsere Computer ständig ausspioniert werden, dass irgendein Agent garantiert mitliest, was du da gerade still und heimlich vor dich hin zu tippen glaubst, und das fehlt noch, dass ein künftiger Arbeitgeber von mir oder auch ein Mädchen, das mir gefällt, sich mit drei Klicks aus irgendeinem Archiv meine Geschichte herunterladen kann. Wäre so etwas möglich, dann würde es tatsächlich niemals aufhören. Niemals. Es würde immer so weitergehen, immer, immer weiter, selbst wenn ich nach China auswandern würde oder auf den Mond fliegen oder auf den Mars oder auf irgendeinen anderen Planeten, der vielleicht demnächst zur Neubesiedlung freigegeben wird, für alle, die es hier unten nicht mehr aushalten. Es würde immer weitergehen, bis ich sterbe, und selbst dann würde mich noch einer an meiner Beerdigung verächtlich den »Kleinen Lord« nennen, meine Urne umschubsen oder den anwesenden Beerdigungsgästen (sofern überhaupt welche kämen) irgendwelche Lügengeschichten über mich erzählen. Es gibt keinen Ausweg, nur mein Schweigen, und das hüte ich wie einen Schatz.

Man kann sogar reden, ohne das Schweigen zu brechen. Mit Sinja rede ich viel. Ich habe immer lieber mit Mädchen geredet, und glücklicherweise ist das in meinem Alter wieder okay, keiner macht sich mehr darüber lustig. Es kann natürlich sein, einer aus der Klasse oder aus der Film-AG versteht das falsch und schließt gleich daraus, dass Sinja und ich zusammen sind, aber das ist Quatsch und geht sowieso keinen etwas an.

Nein, von früher habe ich Sinja nie etwas erzählt. Sinja weiß rein gar nichts, sie kann also nicht dahinterstecken.

Das hier ist einfach ein böser Schlenker des Schicksals. Ein fieser Trick der statistischen Wahrscheinlichkeit. Ein Witz ist das, über den ich nicht lachen kann.

Ein Film zum Thema »Mobbing« und ich soll die Hauptrolle spielen. Soll ich jetzt lachen? Schreien? Weglaufen? Einfach umfallen? Meinen Therapeuten anrufen?

Sinja, die Ahnungslose, hat mich sogar begeistert in die Rippen geboxt. »Die Hauptrolle! Cool!«

Sie war es, die mich voriges Jahr zur Teilnahme an der Filmgruppe überredet hat, und anfangs bin ich eigentlich nur wegen ihr hingegangen, weil sie so glücklich war, mit so leuchtenden Augen davon erzählt hat, und natürlich weil sie mir etwas Wichtiges klargemacht hat: Ein Schauspieler kann sich aussuchen, wer er ist, sein echtes, eigentliches Leben ist überhaupt nicht mehr wichtig, keiner fragt danach. Wunderbar, was könnte mir gelegener kommen? Schauspielern habe ich ohnehin schon geübt. Als ich noch jünger war, habe ich mich lange geweigert, andere nachzuahmen. Da wollte ich immer nur ich selbst sein. Inzwischen sehe ich genau, dass die anderen ebenso schauspielern wie ich, es ist also nichts dabei, sich zu verstellen. Warum nicht gleich im Film?

Unser erster Film hatte ein ganz anderes Thema, eins von den Themen nämlich, die jeden Deutsch- oder Ethiklehrer freuen: Drogensucht. Er handelte von einem Mädchen, das an die falschen Leute gerät und von diesen mit Tabletten versorgt wird. Sinja hat das Mädchen gespielt, und wie sie es gespielt hat! Ich habe manchmal richtig Angst bekommen, wenn sie so weiß geschminkt mit schwarzen Schatten unter den Augen aus der Maske kam. Trotzdem hatten wir eine Menge Spaß mit dem Film und er ist dann auch gut ausgegangen. Charly, der Leiter unserer Gruppe, besteht nämlich darauf, dass die Filme gut ausgehen müssen, die Welt ist traurig genug, sagt er, das Happy End nehmen wir uns hier einfach heraus, weil wir es im richtigen Leben ja nicht so einfach bestimmen können. Dieses Happy End sah so aus: Das drogensüchtige Mädchen lernt einen netten Typen kennen, der sie von den Drogis wegholt. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann latschen sie noch heute Hand in Hand über die Bühne. Lars hat den netten Typen gespielt, der Sinja retten musste. Er hatte allerdings zu dem Zeitpunkt schon eine Freundin, die Sinja die Augen ausgekratzt hätte, wenn sie sich an Lars hätte vergreifen wollen. Sie, also die Freundin von Lars, war nach der ersten öffentlichen Aufführung unseres Films ziemlich schlecht gelaunt, gar nicht stolz auf ihren Typen, wie der es sich vielleicht erträumt hatte, ist wütend von dannen marschiert und dabei noch mit ihren Stöckelschuhen umgeknickt, das hat bestimmt wehgetan. Da war sie natürlich doppelt sauer, obwohl Lars für die lebensgefährlichen Schuhe nicht unbedingt verantwortlich war. Ich fand es ja eigentlich gut, dass Lars von ihr Ärger bekam – nein, er hat mir persönlich nichts getan, aber er bildet sich eindeutig etwas ein auf seine schöne Nase und sein schauspielerisches Talent. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er mit dem Mädchen nicht mehr zusammen ist, bestimmt hat sie ihn auf den Mond geschossen.

Lars ist das Gegenteil von einem Loser. Was ist das Gegenteil eines Losers überhaupt? Ein Winner? Ein Star? Die Nummer Eins? Einfach cool oder megacool? Jedenfalls steht er am anderen Ende der Skala. Dabei ist er auch nicht besser als ich, das weiß ich genau. Im Gegenteil. Er ist eitel. Ich bin wenigstens nicht eitel. Ich habe keinen Grund, eitel zu sein.

Was glänzt, hat kein eigenes Licht.*

Menschen, die nicht groß sind, machen sich gern breit.**

Ich mag Zitate und Sprichwörter. Schöner wäre es noch, wenn mir selbst in jeder Lebenslage knüppelharte weise Sprüche einfallen würden – dann könnte ich mir einbilden, ich wäre ein verkanntes Genie. Andererseits ist es auch beruhigend festzustellen, dass offenbar schon zu früheren Zeiten und an ganz anderen Orten Menschen ratlos im Leben herumstanden, versucht haben, sich einen Reim auf alles zu machen.

Lars ist jedenfalls einer, der glänzt, und wenn ich ihn glänzen sehe, sage ich mir zum Trost, dass er offenbar kein eigenes Licht hat, und daraufhin muss ich mich natürlich fragen, ob ich selbst denn wohl ein eigenes Licht habe, und wenn ja, wie hell es überhaupt leuchten kann. Bis jetzt ist da bestenfalls ein schwaches Flackern zu verzeichnen.

Lars könnte niemals einen Außenseiter spielen,...

Erscheint lt. Verlag 13.10.2014
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte ab 12 • eBooks • Jugendbuch • Jugendbücher • Jugendroman • Mobbing • Schule • Young Adult
ISBN-10 3-641-14237-7 / 3641142377
ISBN-13 978-3-641-14237-7 / 9783641142377
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